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Phil Collins Plays Well With Others

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The Lamb over Italy

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Eine andere Sichtweise...


Nun können wir nachholen, wovon wir vor zehn Jahren nicht einmal zu träumen wagten, für immer dazu verdammt, dieses sagenhafte, wahnsinnige Gesamtkunstwerk nur aus Erzählungen der Glücklichen oder aus zweiter Hand kennen lernen zu können. Bei Musical Box ist nichts aus zweiter Hand, es ist ein Artrock-Festschmaus, so etwa wie einen ganzen Tag im Louvre nur die Mona Lisa zu betrachten oder in Roms Sixtinischer Kapelle Michelangelos Deckengemälde. In Mailand drängt sich noch ein anderer Vergleich auf, der mit der Betrachtung der Scala auf dem Domplatz. Aber die Lamb-Show ist gleichzeitig mehr als nur eines der großen Kunstwerke der Menschheit, und zwar weil sie mehrdimensional ist, ein Zusammenwirken mehrerer Kunstformen, die erst durch ihre Kombination zu ihrer vollen Entfaltung drängen.

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Nehmen wir nur, und das muss angesichts der zentralen Bedeutung für die Bühnenchoreographie hier gebührend gewürdigt werden, die Dia-Sequenzen dieser Show: es ist eine bereits untergegangene Technik, die Dia-Serie, Vorgängerin des Videos und Anfang der achtziger Jahre vom Video bereits verdrängt (so wie die VHS-Videos heute von der DVD verdrängt werden). Aber Mitte der siebziger Jahre waren Diaserien uns allen vertraut, die Lehrer und Lehrerinnen benutzten sie in der Schule, politische Vorträge waren in der Regel begleitet von Diaserien, deren Projektoren uns regelmäßig einen Streich spielten. Wohl niemals vor oder nachher ist die Diaserie so zentral in eine Bühnenchoreographie eines Konzertes eingeflochten gewesen wie bei Lamb, eine ganz eigene Kunstform, mit drei parallel laufenden Diaserien auf drei Projektionsflächen, erhoben über dem Bühnenaufbau, um die Inhalte der einzelnen Stücke mit Bildsequenzen zu illustrieren. Und wie später beim Videoclip hat Gabriel hier alle ästhetischen Möglichkeiten ausgelotet und bis ans Ende verfolgt! Die Diasequenzen zeigen manchmal drei unterschiedliche Bilder; manchmal alle drei dasselbe Bild; manchmal wechseln sie nur ein Detail und es folgt eine Sequenz, die sich wie ein kleiner Film weiterentwickelt; manchmal erfolgen schroffe Bildsprünge. Mal werden nacheinander ein, zwei Projektionsflächen ausgeschaltet und nur eine bleibt übrig. Mal werden die Projektionsflächen durch Auftritte von Gabriel-Rael-Denis – das ist besonders genial – hinter der Bühne zum Schattenspiel benutzt, etwa beim Auftritt des Todes, der anfangs zu Here Comes The Supernatural Anaesthetist einen Schattenspiel-Tanz aufführt.

Die Dia-Bilder wirken nur im Gesamtzusammenhang der Show, deshalb der Rat an alle Konzertbesucher: nehmt so weit wie möglich in der Mitte Platz, um den Eindruck, den die Dias zusammen mit dem Bühnenaufbau und der Lightshow hinterlassen, so uneingeschränkt wie möglich mitzubekommen. The Lamb ist ein Sinnengewitter, wie schon die Studio-LP immer wieder neue Entdeckungen ermöglicht, je öfter man sie hört, so müssten wir diese Show wohl über 100mal sehen, einerseits um alle Dias wirklich aufzunehmen und zu würdigen, andererseits würden wir immer noch Neues und bisher Ungesehenes entdecken. Die Bildüberflutung, die auf den Betrachter einstürmt und den Eindruck erzeugt, das alles bewusst gar nicht aufnehmen zu können, ist allerdings gewollt und bereits ein Kunststilmittel des Surrealismus: die Dias sollen im Unterbewusstsein wirken, der Sinnesrausch ist Stilmittel. Dazu muss wohl etwas weiter ausgeholt werden. Die Dias selbst, das wird beim Betrachten erst deutlich, haben nämlich drei Dimensionen, die sich in verschiedene Kunstströmungen aufteilen lassen: erstens Realismus, zweitens Surrealismus, drittens Situationismus. Alle drei Kunstströmungen wurden von linken Intellektuellen in der Zeit nach 1968 benutzt und durcheinander gewürfelt. Beim Betrachten der Dias fallen mancherorts Parallelen zu den frühen Filmen von Monty Phyton auf. Zunächst zum Realismus, das ist natürlich die Paradeanwendung der Photographie überhaupt, das Photo ist der Inbegriff der realistischen Kunstform. Genesis hatten bei The Lamb durch die Story eines New Yorker Immigranten aus Puerto Rico viel mehr Realitätsbezug als bei ihren eher antiken, mystischen (trotzdem natürlich wunderschönen und auch eine Idee transportierenden) Geschichten vorher (allerdings auch schon durchsetzt durch Realismus wie bei Foxtrots Get `Em Out By Friday oder beißenden Zynismus wie bei Sellings The Battle Of Epping Forest). Die Dias beim Eröffnungssong The Lamb Lies Down On Broadway, bei Back In NYC und bei The Light Dies Down... zeigen immer wieder realistische Sequenzen von den Elendsvierteln und dem Alltag der kleinen Leute in New York, keine Mythen mehr, sondern harte soziale Realität. Rael ist damals schon ein verfrüht daherkommender Punk (in gewisser Weise auch „ohne Zukunft“, zumindest zu Beginn, nicht am Ende!); leider hat das die Punk-Generation nur drei Jahre später längst wieder vergessen, auch Szenen von Straßenschlachten der Jugend- und Studentenbewegung mit der Polizei, für Italien damals in den frühen siebziger Jahren wohlbekannt. Damals fand ja nur ein Konzert in Turin statt, der Rest wurde wegen „politischer Unruhen“ abgesagt, äußerst sinnig von heute aus betrachtet, und das passt zum Stück, denn Raels Herkunft bildet diese Realität politischer Unruhen ab, und das spiegelt sich in der Kostümierung Raels als Streetfighter ebenso wie in den Dias. Zweitens Surrealismus, die erste Übersteigerung des Realismus. Der Surrealismus entstand in Frankreich in den zwanziger Jahren, wichtigster Theoretiker war André Breton, sicher bekanntester surrealistischer Maler war Dali. Viele Dias bei Lamb transportieren surrealistische Motive, die nackten Frauen mit eingekreisten erogenen Zonen bei Counting Out Time, die Bilder zu The Lamia, und im zweiten Teil der Show kommen weitere Sequenzen mit dali-ähnlichen Abbildungen oder sogar Dali-Bildern selbst vor. Der Surrealismus, von dem Gabriel ganz sicher schon bei seinen Texten beeinflusst war (neben C.G. Jung), vertrat die Befreiung des Unterbewussten: durch Konvention und repressive Erziehung seien die Wünsche ins Unterbewusste verdrängt und müssten unentstellt durch rationale Erwägungen (die nur die repressive Ideologie wiederspiegeln) wieder ausgedrückt werden, das sei Befreiung. Das ist natürlich eine etwas zu einfache Ideologie, weil sie letztlich darauf hinausläuft, dass gesagt wird, alle Gefühlsausbrüche sind gut und prima, weil die verdrängten Wünsche endlich an die Oberfläche kommen, Hauptsache, sie sind authentisch. Dass auch im Unterbewussten Probleme angehäuft sind, dass das Unterbewusste nicht per se emanzipativ ist, haben die Surrealisten nicht sehen wollen oder abgewehrt. Sie hatten Techniken, das Unterbewusste unbeeinflusst hervorzuholen, ein surrealistischer Maler z.B. durfte sich keine rationale Zielvorstellung vom Endbild machen, er musste losmalen, ohne groß nachzudenken, so werde das Unbewusste im Kunstergebnis zum Ausdruck kommen. Ähnlich bei André Breton das „automatische Schreiben“: er schrieb Poesie ohne nachzudenken, möglichst schnell in die Tasten hauen, was das Unterbewusste uns vorgibt. Ein bisschen hat Gabriel im Chaos der Aufnahmen zu Lamb und seiner Privatprobleme wohl auch automatisches Schreiben betrieben, als er in fieberhafter Eile die Texte zu Lamb schrieb. Was heute so genial, überlegt und poetisch klingt, sind ja Textzeilen, die zum Teil in totaler Eile entstanden. Aber darin sieht ein Surrealist keinen Widerspruch: das ist ganz im Sinne des Surrealismus, es wurden sogar Maler oder Lyriker aus der surrealistischen Bewegung ausgeschlossen, die zuviel nachdachten, zu lange brauchten oder deren Produkte zu „rational“ oder auch zu sehr Realismus, Abbild der Wirklichkeit und nicht der Träume, des Unterbewussten, der Wünsche waren. Deswegen sind surreale Bilder immer ganz anders als realistische. So sind viele Dias in der Show im Grunde surrealistische Gemälde, Traumerlebnisse, ungefilterte Wünsche des Unterbewussten (wie bei Dali). Die Ambivalenz des Surrealismus kommt bei den Diasequenzen von Counting Out Time gut zum Ausdruck: verschiedene Bilder zeigen Nacktszenen von Frauen, bis hin zur Vulva, typisch für den Surrealismus, denn unterdrückte Sexualität war eines der Hauptthemen des Surrealismus, aus heutiger Sicht kann mann (und frau) das auch typisch patriarchal nennen, denn die meisten surrealistischen Theoretiker waren Männer und wenn sie über ihr unterdrücktes Unterbewusstes nachdachten, kamen sie natürlich auf Bilder nackter Frauen. Aber Gabriel blieb dabei auch nicht stehen (ich unterstelle jetzt, dass Gabriel bei der Auswahl der Dias natürlich ein gehöriges Wort mitsprach!), bei Counting Out Time werden diese Patriarchalismen in den Diasequenzen auf mehreren Ebenen transzendiert: einmal sind die „erogenous zones“ ja überall auf dem weiblichen Körper, nicht nur im Genitalbereich, die Botschaft ist also: der ganze Körper ist eine erogene Zone, es geht um eine ganz neue Sexualitätserfahrung, weiter gedacht wird durch die Dias sogar gesagt: erogene Zonen finden sich überall im Leben, insofern ist der Text, verstärkt durch die Dias sogar ein Vorgriff auf It, auf die utopische Verwirklichung des Glücks (It, das sich auch in allen Dingen, Wesen und Menschen wieder findet!) am Ende von The Lamb. Diesen Vorgriff realisieren die Dias durch das dritte Stilmittel: den Situationismus. Der Situationismus entstand in den fünfziger Jahren in Frankreich, an den Universitäten von Straßburg und Paris, wichtigster Theoretiker: Guy Debord. Die situationistischen Dias sind daran zu erkennen, dass sie im Grunde konservative Fotos sind, die aber dadurch, dass sie in der Show in einen anderen Kontext (in eine andere „Situation“, daher der Name dieser Kunstrichtung) gestellt werden, eine Spannung aufbauen und zu neuen Interpretationen einladen. Bei Counting Out Time tauchen zum Beispiel zwischen realistischen und surrealistischen Dias plötzlich Fotos von klischeehaft lächelnden Paaren, konservativ angezogen, aus den biederen fünfziger Jahren auf, die durch die sexuelle Revolution der 68er ja gerade überwunden werden sollten. Sie lachen aufdringlich, stehen aber in einem anderen Kontext und sagen dadurch, dass sich die Vorstellung dessen, was eine glückliche Erfahrung ist, gewandelt hat. Aber selbst Counting Out Time ist ja in seiner inhaltlichen Aussage mehrfach ambivalent: der surrealistische männliche Blick auf die erogenen weiblichen Zonen wird gebrochen dadurch, dass die „Mistress“ dem Rael „unexpected distress“ verursacht („I’m a red-blooded male and the book said I could not fail“), hier wird also schon der Protest der Frauenbewegung eingeflochten, nicht nur sexuelles Objekt für die durch den Surrealismus losgelassenen Obsessionen der Männer sein zu wollen. Auch die Selbstironie und die Satire des Songs lassen zugleich die Lächerlichkeit ahnen, Frauen nur als Sexualobjekte zu betrachten. Das ist nicht die definitive Botschaft des Songs, sondern nur eine mögliche Interpretation, zu der die Diasequenzen und der grundsätzlich offene Textcharakter des Songs einladen. Solche Interpretationen sind natürlich immer subjektiv. Im Konzert arbeiten die Dias oft mit diesen situationistischen Stilmitteln, zum Beispiel geliehen aus Comics oder Collagen. Die erogenen Zonen werden in den Dias zum Beispiel durch einen papiernen, gezeichneten Fingerzeig verdeutlicht, so etwa wie ihn Monty Phyton in ihren ersten Filmen immer wieder eingesetzt haben – ein eindeutig situationistisches Stilmittel.

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Das ist nur ein Beispiel dafür, wie viel in diesen Diasequenzen drinsteckt, nur am Beispiel eines Songs ein wenig vertieft, aber das Wahnsinnige an The Lamb ist, dass solche Überlegungen für alle Songs angestellt werden könnten, was den Rahmen eines Konzertberichts dieses Überereignisses wahrlich sprengen würde. Zurück also zum Ausgangspunkt Mailand und Turin.

In beiden Konzerten und angesichts der kunstvollen Gestaltung der Dias wird klar, warum es gerade die Studenten in den oberitalienischen Städten wie Mailand und Turin waren, die Genesis ab 1971 entdeckten und in ihrer Musik ein Abbild ihrer intellektuellen – und vielleicht sogar politischen Entwicklung (die heiße Terrorphase von links kam erst später) sahen. Die Städte waren Zentren der italienischen Studentenbewegung, die Anfang der siebziger Jahre längst nicht zu Ende war, was die Absage der Lamb-Konzerte angesichts „politischer Unruhen“ ja gerade nahe legt. Diese Studenten-Generation, radikal kunstinteressiert, aber interessiert an revolutionärer Kunst, die ihren Erfahrungshorizont erweitert und in Beziehung zu sozialen Problemen setzt, hat sich gerade für diese Musik interessiert, von wegen Genesis als Mittelklasseband, wie ein beliebtes Vorurteil der Musikpresse lautet, das schon immer ganz besonders blöde war: Herkunft sagt gar nichts, auch Marx kam aus der Mittelklasse! Insofern ist The Lamb natürlich auch ein Vorgriff auf den Menschenrechtsagitator Peter Gabriel, auf den Unterstützer von Amnesty International, auf den mit bedrohten GewerkschafterInnen in der „Dritten Welt“ solidarischen Gründer von Videowatch, auf den Begründer der Worldmusic, der sein Studio mittellosen AfrikanerInnen kostenlos zur Verfügung stellt. Frage: wenn der Einfluss des Surrealismus und des Situationismus so stark war, wieso Oberitalien und nicht Frankreich, wo diese Kunstrichtungen herkamen? Versuch einer ersten Antwort: der Mai 68 in Frankreich wurde viel abrupter durch Repression beendet als in Italien, wo Revolten und Aufstände die gesamten siebziger Jahre prägten und der 68er-Impuls weiterging in immer neue Bewegungen: in Mailand und Turin entstanden damals unter StudentInnen etwa die „Autonomia Operaia“, die autonome Bewegung, in Italien aber enger verbunden mit Arbeiteraktionen bei Fiat/Turin, als das bei der autonomen Bewegung in der BRD jemals der Fall war... Wenn man noch heute durch Mailand und Turin wandert oder mit dem Bus die Stadt durchquert, wird auch klar, warum. Im Januar 2005 bieten diese Städte ein tristes Bild, eine Dunstglocke hängt bedrohlich über dem Stadtkern, die Architektur so unitalienisch klobig und hässlich, mit großen Ausfallstraßen und unwirtlichen Wohnsilos überall. Kein Wunder, dass jeder Tourist die oberitalienischen Städte großräumig umfährt. Stressig, dort zu leben, lädt die Tristesse tatsächlich ein zur permanenten Revolte.


Autor: fang

The Musical Box


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