Abrutschen in den Mainstream

  • Überspitzt formuliert: kann eine Musik A besser sein als eine Musik B, wenn sie zwar musikalisch anspruchsvoller ist, aber den Hörer nicht erreichen kann (was hingegen Musik B sehr gut kann) ?



    Eine allgemeine Antwort darauf finde ich nicht.
    Ich kann nur sagen, dass ich vorsichtig bin, wenn quantitative Aspekte mit qualitativen in Verbindung gebracht werden.
    Heißt: Wenn ich merke, dass ich meinetwegen immer wieder "Schnischnaschnappi" höre, weil mir das Lied z.B. gute Laune bereitet, ich mich dabei einfach wohl fühle, mir die Melodie nicht aus dem Kopf geht, ich vielleicht auch zu abgespannt bin, um etwas "Anspruchsvolleres" zu hören, dann würde ich trotzdem nicht auf die Idee kommen, dass "The Waiting Room" schlechter sein könnte, nur weil ich es in ausgewählteren Situationen höre. In Situationen also, wo ich aufnahmebereiter, wacher, vielleicht auch in einer kontemplativeren Stimmung bin.
    Wenn Andrea Berg mehr Platten verkauft als Katie Melua, würde ich nicht im Traum darüber nachdenken, das könne eine qualitative Ursache haben.
    Und wenn Dieter Bohlen noch so viele seiner Autobiographien verkauft, dann lasse ich mir nicht erzählen, er stehe auf einer Stufe mit hervorragenden Schriftstellern.

    Natürlich: Wenn du stets und konstant merkst, dass du zu einer bestimmten "anspruchsvollen" Kunst keinen Zugang findest, dann ist das - für dich als Individuum - eine klare Sache: Du musst ja weiß Gott nicht "Ulysses" lesen, "nur" weil es möglicherweise ein Jahrhundertroman ist - wenn du nach 80 Seiten merkst, dass das überhaupt nix bringt. Trotzdem kann man dann akzeptieren, dass dieser Roman womöglich einen kulturell herausragenden Stellenwert hat, wenn dafür einfach vernünftige Kriterien genannt werden können.
    In der Rockmusik geht mir das z.B. mit den Beatles so: Ich höre sie nie freiwillig, weil ich mit der Musik emotional gar nichts anfangen kann. Mir ist jedoch klar, dass es von mir schwachsinnig wäre, die Bedeutung der Beatles (vor allem ihrer Spätphase) komplett zu negieren.

  • Vielleicht hilft auch dieses hier weiter: [url=http://de.wikipedia.org/wiki/Diskussion:E-,_U-_und_F-Musik]Diskussion:E-, U- und F-Musik – Wikipedia[/url]
    Der dazugehörige Artikel liest sich ebenfalls sehr schön.
    [url=http://de.wikipedia.org/wiki/E-,_U-_und_F-Musik]E-, U- und F-Musik – Wikipedia[/url]
    Kunst ist immer auch Geschmackssache. Das bedeutet aber nicht das eine Diskussion über die Qualität von Kunst sinnlos ist. Es gibt durchaus verifizierbare Parameter. Musik hören kann man auch üben/erlernen. Das wichtigste in solch einer Diskussion scheint aber das Einhalten einer wichtigen Regel zu sein:
    Ein ungeübter Hörer darf, ob seines Defizites, nicht diskriminiert werden. Andersherum sollte sich niemand beleidigt fühlen wenn sein Defizit angesprochen wird.
    Besonders schön ist der Abschnitt Adornos. Z.B:
    Es gibt durchaus "schöne Stellen" in der Unterhaltungsmusik, sei es nun die "hook line", der "lick", oder das "Gitarrensolo". Der Rest bleibt Schematik und kann schadlos überhört werden. Dies fördert das atomistische Hören, das sich von einer schönen Stelle zur nächsten weiterhangelt, immer nur die unmittelbare Gegenwart im Bewußtsein, unfähig, eine Gesamtform, einen Gesamtverlauf zu hören, den es in der U-Musik deshalb gar nicht erst zu geben braucht. Wer nur so hören kann, dem bleibt der Verlauf des Ganzen auch bei E-Musik verborgen, sie erscheint dann eben nur als weitere Folge von schönen, oder vielleicht sogar langweiligen Momenten. Solchem Hören ist der Unterschied zwischen U- und E-Musik kaum vermittelbar. Allerdings hat man die schönen Stellen des einen Titels irgendwann satt und muß zum nächsten greifen, ein durchaus nützlicher Effekt zur Umsatzsteigerung
    Das ist purer Zündstoff....:p




    Bevor ich nun wieder falsch eingeschätzt werde: Ich bin kein Verfechter einer solch strengen Gliederung, denn dazu gibt es zu viele Grauzonen. Solch ein Theorem ist aber recht nützlich um über den eigentlichen Threadtitel zu diskutieren.

  • [Zitat Adorno:] Es gibt durchaus "schöne Stellen" in der Unterhaltungsmusik, sei es nun die "hook line", der "lick", oder das "Gitarrensolo". Der Rest bleibt Schematik und kann schadlos überhört werden. Dies fördert das atomistische Hören, das sich von einer schönen Stelle zur nächsten weiterhangelt, immer nur die unmittelbare Gegenwart im Bewußtsein, unfähig, eine Gesamtform, einen Gesamtverlauf zu hören, den es in der U-Musik deshalb gar nicht erst zu geben braucht. (...) [Zitat Ende] (...)
    Das ist purer Zündstoff....:p



    Ja, Zündstoff hoch zehn. Es ist immer wieder erstaunlich, wie Adorno als unglaublich kritischer und intelligenter sowie gebildeter Mann doch in offensichtlichen ideologischen Vorurteilen hängen bleiben kann:
    Niemand der E-Musik-Fraktion würde sich über ein reines Strophenlied (also meinetwegen: Klaviereinleitung / Str.1 / Str.2 / Str.3 / Klavier-Coda) von Schubert oder Schumann o.a. auch nur entfernt in diesem Sinne äußern.
    Wir haben es hier mit musikalischen Kleinformen zu tun, da können und müssen keine megakomplexen Formverläufe entstehen.
    Die Behauptung, "eine Gesamtform" brauche "es in der U-Musik deshalb [auf Grund des Hörverhaltens des 'unfähigen' atomistischen Hörers] gar nicht erst zu geben" ist wirklich ignoranter Unsinn.
    1. Jeder Popsong hat eine "Gesamtform".
    2. Nicht jeder Rezipient von "U"-Musik ist notwendigerweise ein "atomistischer" Hörer bzw. ausschließlich ein solcher.
    3. In der Popmusik gibt es - wie in der "E"-Musik auch - gewisse traditionelle Formschemata ( und das womöglich auch aus musikalisch-gutem Grund). Aber: Diese Schemata sind abstrakt und ich bin mir sicher, dass sich selbst in der kommerziellsten Chartmusik kaum Formverläufe exakt wiederholen.

    Wunderbar, was du da hervorgeholt hast, brecher. Für den Wikipedia-Wust brauche ich noch ein bisschen, das schaffe ich müde und mit 2 Paulanern nicht mehr. Gute Nacht.

  • oh ja brecher, das ist ein wirklich interessanter link. danke

    I am the other half
    And you are what I am for
    I won't lie to you or hurt you
    I'm not like that anymore

    I am with you all the time now
    One soul. One mind. One heart.
    The other half cannot be parted
    From the other half

  • Ja, Zündstoff hoch zehn. Es ist immer wieder erstaunlich, wie Adorno als unglaublich kritischer und intelligenter sowie gebildeter Mann doch in offensichtlichen ideologischen Vorurteilen hängen bleiben kann


    Na ja, er hat die Seite, die er im Zitat beschreibt in ihren soziokulturellen Zusammenhängen nicht begriffen. Ähnlich ist es ihm mit seiner Radioanalyse passiert, die er zu Zeiten seiner Emigration über das Phänomen des amerikanischen Radios verfasste. Aber nach den Erfahrungen der Propaganda des Deutschlands, das er gezwungen war zu verlassen, ist Adorno die Skepsis gegenüber dem Massenmedium nicht zu sehr vorzuwerfen - wenngleich das US-amerikanische Radio-Konzept ein anderes war. Exkurs ende.


    Zum Thema Pop - und das würde zurückführen auf die Möglichkeiten jener Atomisierung - hat meiner Meinung nach Brian Eno einige brauchbare Dinge zu sagen gehabt, die ich jetzt allerdings nicht aus dem Stehgreif zitieren kann. Jedoch sind insbesondere die frühen Roxy Music ein anschauliches Beispiel dafür: historische Formen der sog. U-Musik zitieren, miteinander verweben und gleichzeitig neue Technologien zum Einsatz bringen. Unter dem Aspekt des Postmodernismus klingt das heute zwar auch schon wieder einigermaßen antiquiert, aber Pop stand eben Ende der 60er, Anfang der 70er maßgeblich unter dem Einfluß der sog. Pop-Art, der eben einiges an utopischen Potential zugesprochen wurde. Daneben war es natürlich immer ein Bestreben ideologische Grenzen zwischen Begriffen wie U- und E-Kunst aufzuheben. Hier liegt meiner Ansicht nach der wirklich interessante Aspekt von Pop begraben: als konstruktiver (oder zumindest: produktiv destruktiver) Ansatz zur Rekombination verschiedenster Stile und Formen, der gleichzeitig - und in geglückten Fällen - ironisch kommentiert und neue Türen aufmacht.

  • Die destruktive Produktivität ist ein interessanter Punkt. Ich denke das vielen Kritikern die Selbstgefälligkeit des Progressive Rocks ein Dorn im Auge war.
    Letzten Endes wird vom Rock´n Roll immer noch ein Aufbegehren erwartet. Diese Rolle erfüllt er jedoch schon lange nicht mehr. Im Prinzip kann man sagen das es vor allem ein Vorrecht, ja geradezu eine Pflicht der Jugend ist, gegen Konventionen vorzugehen. Da war in der jüngeren Vergangenheit der Rock´n Roll das Mittel der Wahl. Seit der ersten Generationenwende (Mitte der Sechziger) überholt sich diese Musik ständig und findet neue Stilmittel. So wurde Rockmusik aber auch eine etablierte Kunstrichtung die ihre revolutionäre Botschaft verlor.
    Wahrscheinlich war das revolutionäre Element des Progressive und des Art Rocks ein Versuch das kunstbeflissene Establishment mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. In der Rückschau manifestierte dieses Vorhaben jedoch die klassischen Stilelemente und sorgte so dafür das sich "klassische Rockmusik" in die Reihe etablierter Musikformen einreihte.
    So bot der Artrock den Nährboden für Punk. Der wilde Punk wiederum fand seine Antwort im überstylten, angepassten und technisierten New Age der daraufhin vom schnodderigen Grunge eingerissen wurde. Dieses Spielchen wird sich wohl in den nächsten Jahrzehnten immer wiederholen.
    In Bezug auf Genesis formuliere ich es nun einmal pointiert: Eine Band die sich vom spießigen Intellektuellen Theater zum langweiligen Kommerz-Mainstream entwickelt hat, und dabei der selbstgefälligen Leere treu blieb.


    Mein Gott, sowas schreibe ich......:schock2:

  • Irgendwo in diesem Forum liegt noch ein Thread begraben mit dem Thema, ob es geeignete objektive Kriterien für "gute Musik" gibt. Da haben wir uns schon hinreichend gegenseitig die Köppe eingeschlagen :zerschlagen:.

    Meine Meinung nach wie vor: Es gibt keine! Was gute oder schlechte Musik ist, kann nur jeder subjektiv für sich entscheiden.

    Basta! :teufelgrins:



    Ich denke auch, dass es keine allgemein gültigen Kriterien für "gute" Musik gibt. Aber es gibt sicherlich Kriterien, die man an Stücke sinnvoll anlegen kann. Und diese Kriterien müssen sinnvoll in den (stilistischen, historischen...) Kontext passen (siehe z.B. oben die genannten Kriterien für Popmusik: Diese auf z.B. Free-Jazz zu übertragen, wäre m.E. völlig unangemessen).

    Eine Entscheidung über Qualität, da gebe ich dir Recht, kann natürlich nur subjektiv gefällt werden. Niemand kann sich anmaßen, das für andere tun zu wollen. Aber trotzdem macht es Sinn, seine Entscheidungen auch öffentlich zu diskutieren und den Dialog nicht gleich mit dem Hinweis "Lass uns nicht drüber reden, ist eh alles Geschmackssache!" zu beenden. Nein, je intensiver die Auseinandersetzung, desto mehr erfährt der Einzelne ja auch über andere Möglichkeiten, Musik zu erleben, seinen Horizont zu erweitern. Und man erfährt auch etwas über seine Gesellschaft, seine Kultur (andere Kulturen natürlich auch).
    Und wer davon eben nichts selbst durchdenken möchte, hat sein gutes Recht dazu. Er schmort allerdings dann nur in seinem eigenen Saft.

  • Ach Gott, eure Probleme möchte ich mal haben:
    "Mainstreamige Musik ist kacke", "alles von Genesis nach 77 nur noch kommerziell/Geldmacherei", "ich muss meine Lieblingsband wechseln, weil durch die Genesis-Hits nun auch mein unsympathischer Nachbar auf die Band gekommen ist", ich kann's nicht mehr lesen.


    Ich finde jedenfalls, wer seinen musikalischen Horizont auf "Mainstream=schlecht" begrenzt, verpasst damit so einiges. Aber selbst schuld, nur: der Revoluzzer, für den man sich dann wahrscheinlich hält, ist man damit überhaupt nicht, denn durch die strikte Ablehnung von Mainstream lässt man sich durch eben diesen kontrollieren und beeinflussen, da, sobald die Lieblingsband Mainstream wird, man sie dann logischerweise nicht mehr hören "darf", weil sie nicht mehr "cool" oder "underground" genug oder was weiß ich ist. Na toll. Viel Spaß damit. Ich höre, was ich will, abseits von Konventionen oder Etiketten.


    Und sind wir doch ehrlich: Wer von uns freut sich nicht, wenn Genesis/Collins/Gabriel etc.-Singles in den Charts hinaufklettern?


    ;)

  • Ich finde jedenfalls, wer seinen musikalischen Horizont auf "Mainstream=schlecht" begrenzt, verpasst damit so einiges.


    Genau das denke ich auch immer, wenn jemand in meiner CD-Sammlung z.B. meine nahezu kompletten Alben-Diskographien von Bryan Adams oder Bon Jovi entdeckt, und dann nahezu hysterisch fragt...


    [INDENT][INDENT]"Was, SOWAS hörst Du?" :eek:[/INDENT][/INDENT]


    [INDENT]Ja, das tue ich wohl, denn warum hätte ich sonst wohl diese CDs in meiner Sammlung? :p[/INDENT]


    [INDENT][INDENT]"Aber das ist doch total belangloses Zeug, langweilige Balladen und so!" :o[/INDENT][/INDENT]


    [INDENT]...Wenn Du meinst. :rolleyes:[/INDENT]


    Irgendwie finde ich solche Dialoge immer wieder lustig, denn das zeigt mir nur, mit was für einem eingeschränkten musikalischen Horizont viele doch durchs Leben gehen.


    Besonders genial wird es aber, wenn ich dann einfach mal spontan eine CD von z.B. Bryan Adams oder Bon Jovi einlege, und dann plötzlich die Frage kommt...


    [INDENT][INDENT]"Das ist ja klasse, von wem ist denn das?" :)[/INDENT][/INDENT]


    Es gibt halt Leute, die einfach kategorisch alles ablehnen, was irgendwie erfolgreich oder auf irgendeine Art und Weise im Fokus der Öffentlichkeit präsent ist, ohne dass sie das Objekt ihrer Ablehnung überhaupt richtig kennen.


    Das soll aber nicht mein Problem sein, denn ich höre mir stets die Musik an, die mir gefällt und die mir irgendetwas gibt. :cool:


    Und wenn das jemanden stören sollte... Prima, dann hört der halt etwas anderes.


    Habe ich eigentlich schon darauf hingewiesen, dass meine CD-Sammlung auch eine komplette Alben-Diskographie von Chris De Burgh enthält? :topp: