SdW [10.-16.01.11]: GENESIS - Domino

  • Domino war in den Achtzigern sicherlich interessanter als heute. Es fällt wegen der Länge schon ein bißchen aus dem Rahmen. Wenn man so will: die Minisuite auf Invisible Touch. Ziemliche Plastiksounds, weit weg von Akustikgitarren und –klavieren. Live 1987 eine der Höhepunkte der Show. Aber auch als Studioversion nicht zu verachten, zumal live nicht allzuviel geändert wurde. Auf der Bühne hätten sie auch mehr improvisieren können, wollten es aber nicht. Fast mehr als an das Lied selbst erinnere ich mich an die lustige Anmoderation von Phil („Dottrüben und dottrüben!“), die er 2007 wieder hervorkramte. Konzert ist eben, wenn alle mitmachen.


    Der Text ist doch eigentlich klar: verlassener Mensch guckt Nachrichten und trauert seiner/m Verflossenen hinterher. Was soll es da noch zu deuten geben?


    Aber zur Textkritik: Warum stellt sich ein verlassener Mensch als Dominostein vor(„the next in line“), also einer von vielen? Ich vermutete, Tony Banks muß von der Dominotheorie von Eisenhowers Außenminister gelesen habe (basiert darauf, daß wenn ein Land erst einmal in kommunistische Hände gefallen ist (als damaliges aktuelles Beispiel: China 1949), dann fällt als nächstes Korea, dann Vietnam, die Anrainerstaaten usw.) Stimmt nicht. Die Literatur sagt, er hat an japanische Dominosteine gedacht. Allerdings sei Domino sein Antikriegslied. Schließlich befand man sich 1986 noch mitten im Kalten Krieg , da war der NATO-Doppelbeschluß noch ganz frisch und die Olympiaboykotte. Also paßt das irgendwie doch. Und der Einzelne, das Individuum ist nur der Dominostein, der einfach umfällt. Beim ersten Teil von In The Glow Of The Night habe ich noch gedacht, da hätte sich Tony an Lamb Lies Down-Themen und -Metaphern bedient. Doch er meint die Gewalt im Fernsehen bzw. die Abstumpfung, die sie hervorbringt. Genug gelabert.


    Das ist ein guter packender Song mit einem Text, der nicht gleich einleuchtet, klingt schön klinisch kalt.
    Verdikt: 11 Punkte

    We can help You

  • Von mir bekommt der Song 11 Punkte, da er schon auf dem Album das beste Lied an sich. Für mich ist Domino einer der letzten wirklich guten Songs, auf wenn er mir live besser gefällt. :)

    Eric Clapton: Hamburg Phil Collins: Köln (5x) , Hannover (2x) , Köln (2x) Genesis:15.06.2007 - Hamburg (AOL Arena) Peter Gabriel:18.10.2013 - Hamburg; 03.05.2014 - Hannover Steve Hackett:11.09.2015 - Hamburg, 23.04.2019 - Hamburg The Musical Box: 31.10.2014 - Bremen, 23.11.2018 Bremen Australian Pink Floyd Show: 5x (seit 2015) Roger Waters:14.05.2018 - Hamburg Nick Mason's A Saucerful of Secrets:13.09.2018 - Hamburg Queen+ Adam Lambert: 20.06.2018 - Hamburg Robbie Williams:11.07.2017 - Hannover

  • Eine 13 von mir, einer der wirklich guten Songs von der IT und auch wenn ich atmosphärisch gesehen TTT vorziehe, einfach mal ein Song, bei dem sie sich nochmal etwas an langem Atem zugetraut haben. Ich finde die Studioversion gar nicht so schlecht, ich bin ja auch kein 100%iger Gegner der Simmonds Drums, aber klar, dass er einfach live richtig abrockt. Ich fand die Live-Darbietung damals mit Ray Wilson auch sehr gut. "In silence and darkness" mit dieser quasi-Peter-Gabriel-Stimme - huah, Gänsehaut!


    Auch die Doppel-Bass-Drum-Stellen in The Last Domino sind einfach klasse. Für mich war der Text immer sehr geheimnisvoll, nie viel kapiert, aber gut klingen tun die Worte "nylon sheets and blankets help to minimize the cold but they can't keep out the chillin' sounds" - ist einfach ne super Textzeile ;)


    Und außerdem: Natürlich ist das ein Langwerk und nicht zwei Songs.

    "Whenever sort of Spinal Tap is on or something, and you see these moments, you think, 'I've been in a band like that'...that's Genesis!'"
    Phil Collins in "Sum Of The Parts", 2014

  • Der Song gehört zu meinen Favorite der Band, ich mochte ihn immer, aber seit ich ihn live sehen durfte ein klarer 15er Kandidat, nicht nur musikalisch sondern auch textlich, die beste Interpretation lieferte vielleicht Tony selbst im Interview auf der Way We Walk DVD.


    Ich erkläre es mal folgendermaßen:
    Es geht um einen Krieg und dessen Auswirkungen. Die erste Hälfte "In The Glow Of The Night" ist aus der Sicht eines Mannes der seine Frau aufgrund des Krieges verloren hat. (Then I reach across to touch her, But I know that she's not there.)


    der Refrain ist quasi von dieser einzelnen Person an die Leute gerichtet die den Krieg und sein Unglücl zu verantworten haben:


    Can't you see what you are doing to me?
    Can't you see what you have done?
    As I try to pass another long and sleepless night,
    A hundred crazy voices call my name,
    As I try to pass them by,
    I almost can believe that she is here,
    Here in the glow of the night.
    Do you know what you have done?
    Do you know what you've begun?
    Do you see we shall never be together again?
    All of my life.


    Das Zwischenstück "In silence and darkness, We held each other near that night, We prayed it would last forever" hält den Track dann zusammen, somit kommt auf die Sichtweise der Einzelperson


    Der erste Teil von "The Last Domino" ist dann eine bildliche Beschreibung was in diesem Krieg vor sich geht, wieder aus der Sicht des einzelnen:


    Blood on the windows
    Millions of ordinary people are there
    They gaze at the scenery
    They act as if it is perfectly clear
    Take a look at the mountains
    Take a look at the beautiful river of blood.


    The liquid surrounds me
    I fight to rise from this river of hell
    I stare round about me
    Children are swimming and playing with boats
    Their features are changing
    Their bodies dissolve and I am alone.


    Now see what you've gone and done.
    Now see what you've gone and done.



    Was dann folgt ist wohl eine Art von "Long Long Way To Go", eben die Sicht der Ereignisse von allen Leuten die NICHT direkt mit dem Krieg betroffen sind, eben die Leute welche die TV Berichte sehen. Ebenso ist es eine allgemeine Sichtweise auf das "Domino Principle" mit den Zeilen "There's Nothing You Can Do When You're The Next In Line" ... immer wieder kommt der Appell der Einzelperson mit dazu und wieder hört man seine Hoffnung im leisen Mittelteil ("In Silence And Darkness") heraus.


    Well now you never did see such a terrible thing
    As was seen last night on T.V.
    Maybe if we're lucky, they will show it again
    Such a terrible thing to see - oh
    But there's nothing you can do when you're next in line
    You've got to go domino.


    Now I'm one with the living and I'm feeling just fine
    I know just what I gotta do
    Play the game of happiness and never let on
    That it only lives on in a song - oh
    Well there's nothing you can do when you're next in line
    You've got to go domino.


    Do you know what you have done?
    Do you know what you've begun?




    In silence and darkness
    Hold each other near tonight
    For will it last forever?
    Will it last forever - forever...


    There's nothing you can do when you're the next in line
    You've got to go domino.


    Do you know, do you know, do you know what you have done
    Do you see what you've begun?
    Cos there's nothing, nothing, nothing
    There's nothing you can do, there's nothing you can do
    Do you see, do you see what you have done?




    ... ich konnte vorher auch nicht viel mit dem Text anfangen, aber das macht ihn für mich schlüssig und auch zu einem meiner Lieblingstexte der auch musikalisch für mich perfekt illustriert wird, einer der Longtracks bei dem ein langer Instrumentalpart nicht nötig war, ein anderer ist zb "Driving The Last Spike", hier sieht man dann auch den Unterschied zwischen Phil und Tony was Texte schreiben angeht

  • Vielen Dank, drumdani, das war wirklich erhellend - ich habe die Movie-Box, obwohl schon länger im Regal stehend noch nicht durchgeguckt. Oder - hüstel, ehem :o - war das Interview schon auf der Original-DVD?

    "Whenever sort of Spinal Tap is on or something, and you see these moments, you think, 'I've been in a band like that'...that's Genesis!'"
    Phil Collins in "Sum Of The Parts", 2014

  • Drum Dani, das mit dem Krieg war auch ein Gedanke von mir und mir schwebte seit Gestern vor, so eine Intepretation hier zu schreiben, aber du warst wohl schneller. Wie auch immer, auch wenn die letzten 2 Minuten Live in die Länge gezogen wurden finde ich den Song sehr gut.


    Spontan hätte ich 9 Punkte gegeben, aber aufgrund der Live Versionen "nur" 11 Punkte. :)


    Achja, ich habe mal vor kurzem zufällig ein Bootleg entdeckt von der Invisible Touch Tour, bei Domino fällt beim Anfang des The last Domino Parts Tonys keyboard aus. So hat die Bridge etwas länger gedauert und irritiert hat dann Phil reingesungen, bis inmitten des Gesangs dann plötzlich Tony wieder da war :D

    <!---

    The rain auditions at my window
    Its symphony echoes in my womb
    My gaze scans the walls of this apartment
    To rectify the confines of my tomb


    -->

    • Offizieller Beitrag

    Mitten in dem großen Jahrzehnt des Plastikpop, in der goldenen Ära der Stocks, Aitkens und Watermans, in einer Zeit, als ein ungeschriebenes Gesetz erforderte, dass ein Musikstück die Vier-Minuten-Grenze nicht überschreitet, veröffentlichen Genesis ein Album, das auf dieses Gesetz lustvoll pfeift und doch dermaßen erfolgreich wird, dass man 1986 und 1987 in der westlichen Welt kein Radio anschalten kann, ohne von den Herren Banks, Collins und Rutherford darüber aufgeklärt zu werden, dass wir im Land der Verwirrung leben, dass es sie heutnachtheutnachtheutnacht richtig machen und sie überhaupt viel zu tief involviert sind. Eines der längsten Stücke auf dem Album ist Genesis‘ vorletzter großer Zweikomponentensong (der letzte wird dann Fading Lights sein). Domino ist sogar auf dem Albumcover in zwei Teile gegliedert; das hatten Genesis zuletzt bei Supper’s Ready gemacht – Home und Second Home By The Sea wurden als zwei eigenständige, aber miteinander verbundene Stücke aufgeführt. Nun also Domino.

    “In der Glut der Nacht” heißt der erste Teil, und angesichts der ersten Liedzeilen wird dem Hörer auch sofort unklar, warum. Von irgendwelcher sommerlicher Hitze ist dort nichts festzustellen, im Gegenteil: Das Wetter ist mies, die Stimmung genauso, und die Frau ist auch weg, so dass auch keine Liebesgluten gemeint sein können. Enthält der Titel eine nicht nachvollziehbare Pointe – oder schlichtweg einen Tippfehler, war ursprünglich „In The Gloom Of The Night“ angedacht?

    Dem Sprecher führt die Situation vor Augen, dass ihm die Zeit davonläuft. Hat er Angst, nie wieder eine Partnerin zu finden? Gilt es eine Frist einzuhalten? Oder ist es nur ein deprimierter philosophischer Gemeinplatz: „Wie der Regen an der Scheibe herab, so verrinnt auch meine Lebenszeit“?

    Die Verteilung von Aktivität und Bewegungslosigkeit in diesem ersten Textblock ist einen näheren Blick wert. Die äußere Welt bewegt sich ständig: Das Abendgrau füllt den Raum, der Regen rinnt, die Zeit verrinnt. Der Sprecher dagegen verhält sich ambivalent: Den Regen wahrzunehmen ist ihm keine Regung wert, und die eine Bewegung, die er vornimmt, ist kurz und, wie er von vornherein weiß, nutzlos. Vorerst lässt sich nicht einmal einschätzen, ob die Zeile „but I know that she’s not there“ trauernden („aber sie ist ja leider nicht hier“), neutral feststellend oder möglicherweise eher sinistren Charakter („aber sie ist ja nicht hier … und ich weiß genau, wo sie ist“) hat.

    Ein wilder Ausbruch unterbricht abrupt die Melancholie: Wütende Vorwürfe richten sich gegen die Abwesende – wobei die Ausrufe in direkter Rede geboten sind und dadurch umso eindringlicher werden, dass sich in der Kommunikation zwischen dem Sänger und dem Hörer des Stücks letzterer mindestens einen kurzen Moment lang selbst angesprochen fühlen kann: Die Grenzen zwischen textinterner und Metakommunikation verwischen – ein raffiniertes Mittel.

    Im Laufe der nächsten vier Verse kehrt der Sprecher allmählich in seine Inaktivität zurück: Wieder erfahren wir von seinen fruchtlosen Versuchen zu handeln, und allmählich stellt sich die Frage, warum sie scheinbar alle vergebens sind. Ein verstörendes Element tritt hinzu: In der schlaflosen Nacht halten den Sprecher irre Stimmen wach, die seinen Namen rufen – und wieder gelingt es ihm beinahe, sich einzubilden, dass sie da sei – in der merkwürdigen und immer noch nicht erklärten Glut der Nacht. Die Erinnerung an sie bringt einen neuen Ausbruch mit sich, der allerdings eine leicht andere Zielrichtung hat. Diesmal sind es weniger Vorwürfe als die Frage, ob sie sich im Klaren ist, was sie getan, was sie mit ihrer Handlung ausgelöst hat. Was immer es ist, es ist so tiefgreifend, dass der Sprecher und sie auf immer getrennt sein werden.

    Einsamkeit, Verlust, Stille und Gewalt beginnen sich zu vermischen, ohne dass jedoch Ursache und Wirkung klar würden. Und auf einmal steht ganz und gar unmotiviert die Frage im Raum: „Können wir vielleicht doch wieder zusammenkommen?“

    Anstelle einer Antwort wird das Motiv der Einsamkeit variiert zu dem des Abgetrennt-Seins: Doppelfenster sperren die Nacht, Nylonbettbezüge die Kälte aus. Es dringen aber Geräusche zum Sprecher durch, die ihn frösteln lassen – und je nachdem wie man die „foreign city sirens“ liest, lassen die Scheiben entweder das „fremdartige Geheul der städtischen Sirenen“ oder die „Sirenen einer fremden Großstadt“ passieren. Die Passivität des Sprechers ist unter Umständen also darin begründet, dass er vor Angst wie gelähmt ist: Sirenen sind, sei es in der Heimat oder der Fremde, sei es ein Martinshorn auf einem Polizeiwagen oder das Heulen der Luftschutzwarnung, ein Alarmsignal. Dazu kommen nicht näher beschriebene „Geräusche, die einen frösteln machen“. Kein Wunder, dass der Sprecher darauf hofft, aus diesem „Alptraum“ in eine tröstlichere Traumwelt mit „ihr“ zu fliehen – in der Glut der Nacht. Und spätestens hier müssen wir unsere Auslegung der Phrase „in the glow of the night“ überprüfen: Es ist wohl doch weder eine Gluthitze noch eine etwaige Liebesglut gemeint, sondern ein Feuerschein, der den Nachthimmel erglühen lässt.

    Wenn die Frau allerdings nicht (mehr) beim Sprecher ist, sondern, wie die zuletzt betrachteten Zeilen nahelegen, in seiner Fantasie existiert, dann ist sie insofern losgelöst vom sonstigen Geschehen, dass sie es nicht verursacht (hat). Infolgedessen kann sie aber auch nicht Adressatin der beiden großen Ausbrüche sein. Wer ist aber wird dann dort angesprochen? Der Hörer? Mit einem kleinen Kniff können wir der Antwort auf diese Frage vorerst ausweichen: Wenn man das „you“ – grammatisch problemlos machbar - als Mehrzahl auffasst, wird eine bis auf weiteres anonyme Gruppe angesprochen: Wisst ihr eigentlich, was ihr getan habt? Wisst ihr, was ihr damit angefangen habt? Seht ihr, dass wir nie wieder zusammen sein werden: Einsame Menschen, leere Räume, sinnlose Gewalt, stille Gräber. Kann es sein, dass wieder zusammen sein werden? Nicht: der Sprecher und seine Frau, sondern der Sprecher und „die anderen“ (und ggf. auch die Frau).

    Die darauf folgenden drei Textzeilen sind eine Rückblende – der Alptraum macht nun wirklich Platz für die Illusion, dass seine Frau bei ihm ist. Aber es ist keine angenehme Illusion. Zwar sind die beiden anfangs vereint, aber was dann folgt, illustriert, wie weit der Sprecher traumatisiert ist. The Last Domino ist meiner Überzeugung nach die verwirrte Geisteswelt des Sprechers. Die ersten drei Zeilen rufen die letzten Momente auf, die der Sprecher und seine Frau miteinander verbringen durften – bevor sie umkam, oder, wahrscheinlicher, umgebracht wurde durch eine Kriegshandlung oder einen Anschlag. Wo gerade eben noch, wie sich der Sprecher erinnert, nur die beiden eng umschlungen waren, ist plötzlich Blut auf den Fenstern (das der Frau?), der Raum ist voller Leute – eine Impression von den Schaulustigen, die den Anschlagsort begaffen? Oder die Medien, die über Radio und TV Millionen an den Ort des Geschehens bringen? Wer auch immer diese Zuseher sind, sie fühlen sich nicht berührt von dem Drama, das sich abgespielt hat, sie sind seltsam abgebrüht, weil sie so weit entfernt sind, oder weil sie nicht persönlich betroffen sind, wer weiß. Schaut euch diese Berge an (den Trümmerhaufen eines eingestürzten Hauses?), ruft der Sprecher ihnen zu, schaut euch dieses Rinnsal aus Blut an, das sich in pervers malerischem Fluss den Weg bahnt, ringt er um Aufmerksam, um Anteilnahme der anderen. Dabei wird er selbst beströmt von dem Blut – es dürfte sich also um das seiner Frau handeln. Das Rinnsal ist nicht nur aufgrund der Farbe ein roter Höllenfluss, sondern es ist für den Sprecher die Hölle: Er hat seine Frau verloren, und wir haben „im Feuerschein der Nacht“ gesehen, dass ihn dieser Verlust in die geistige Umnachtung führt. Seine Wahnvorstellungen entwickeln sich dabei mal wild wirbelnd, mal mit einer irrwitzigen Logik: Auf dem Höllenfluss sieht er auf einem Kinder, die wie in einem Badesee Bootfahren und planschen, bevor sie sich auflösen. Gleich darauf wiederum hat sich der Sprecher innerlich so weit von den Ereignissen distanziert, dass er sie wie eine spektakuläre Nachrichtenmeldung mit scheußlichen Bildern wahrnimmt (Hoffentlich zeigen sie das nochmal, damit ich diesen schönen Schauder nochmal erleben kann!). Ja, es scheint, als habe er gleichsam im Zeitraffer den Weg von völliger Traumatisierung zu Distanzierung und totaler fatalistischer Verdrängung durchlaufen: Da kann man nichts machen – wenn du der nächste Dominostein in der Reihe bist, dann musst Du eben umfallen. Infolgedessen suggeriert der Sprecher sich selbst, dass er nun ganz auf der Seite des Lebens steht, sein Leben genießt, Spaß hat dabei … und dennoch nicht vergisst, dass das Leben nur in einem Lied weitergeht – und in der Wirklichkeit? In der Wirklichkeit kann man eben nichts machen, wenn man dran ist, ist man dran. Das Trauma bricht sich aber immer wieder Bahn. Selbst nach dem Bekenntnis zum Lebensgenuss kommt der Schrei wieder hoch: „Wisst ihr, was ihr getan habt? Wisst ihr, was ihr ausgelöst habt?“ In der Dunkelheit und Stille hält er seine Frau wieder eng umarmt – wird das denn für immer so sein? Es mag sein, dass der Sprecher am Ende zuversichtlich darauf wartet, dass er der nächste ist, umzufallen.


    Tony Banks wurde unter anderem von der Berichterstattung aus Beirut, der Hauptstadt des Libanon, zu dem Text inspiriert. Mitte der 80er Jahre war der Libanon ein vom Bürgerkrieg zerfetztes Land: Mehrere Milizen kämpften gegeneinander, miteinander, gegen die Regierung; in den Abendnachrichten sah man Berichte von Häuserkämpfen, Granatbeschüssen, Ruinen, eingestürzte Häuser, Leichen in den Straßen. Domino handelt aber nicht vom Libanon, erzählt nicht eine Geschichte aus dem libanesichen Bürgerkrieg, sondern das Stück erzählt die Geschichte von Otto Normalbürgerkriegsopfer aus dem Standard-Bürgerkrieg (ich weiß: Diese Formulierung ist pervers. Bürgerkriege und jedwedes gegenseitiges Hinmorden aber auch). Dass irgendwessen Haus in die Luft gesprengt wird, kam im Libanonkrieg vor, passierte in den beiden Golfkriegen, passierte und passiert in Afghanistan, Somalia, Pakistan, und Gottweißwosonstnoch.


    In den Konzerten pflegte Phil Collins immer das Domino-Prinzip (oder auch die Domino-Theorie) zu erklären: Wenn dieser Gruppe von Zuschauern etwas passiert, kann sich das auf eine andere Gruppe von Zuschauen auswirken, und das wiederum auf eine dritte Gruppe und so weiter, eben gerade so wie, wenn man man eine Reihe von Dominosteinen hintereinander aufstellt und den ersten umstößt, alle anderen nacheinander ebenfalls fallen. Ein Lied über die Wunden, die ein Bürgerkrieg schlägt, wird mit einer einigermaßen kindischen Spielerei eingeleitet? Nicht ganz. Die Theorie vom Domino-Effekt wurde von den Vereinigten Staaten fast über die gesamte Dauer des Kalten Krieges als Legitimation für militärische „Interventionen“ auf der ganzen Welt benutzt. Die Logik war dabei eine ganz ähnliche: Wenn die USA es zulassen, dass sich im Land A eine starke kommunistische Strömung bildet, dann kann das dazu führen, dass auch Land B kommunistisch wird, was dann Land C in den Sowjeteinfluss bringen könnte und so weiter: Wenn ein Land umfällt, fallen nacheinander andere um.


    Es bleibt natürlich die Frage, ob man die Domino-Reihe nicht unterbrechen kann.


    Musikalisch: Die Studiofassung von In The Glow Of The Night ist klasse. The Last Domino erreicht seine Vollendung aber erst live (und für mich: 2007). Erst im Stadion beginnt der zweite Teil wirklich so unerbittlich voranzudonnern wie das eindeutig auf dem Album schon beabsichtigt, aber nicht durchgeführt war.


    Der letzte Domino, der fällt, zeigt diese Punktekombination: :.: | :.: