TotW: [08.10.-14.10.2018]: GENESIS - Aisle Of Plenty

  • Ein würdiger Abschluss des genialsten Genesis Albums. Ich mag die oben schon erwähnten Wortspielereien, die auch bei Epping Forest reichlich vertreten sind. 14 Punkte.

  • Als Funktion für das Gesamtalbum finde ich es toll, weil es den Anfang wieder aufgreift. Das haben sie danach häufiger gemacht. Für sich allein finde ich es nicht so spektakulär. Für mich sind es 9 Punkte.

    Gedankenrauschen – Da geht noch was!

    • Offizieller Beitrag

    Das letzte Stück auf dem Album wirkt wie ein Nachklapp. Während The Cinema Show verklingt, spielt die akustische Gitarre ein Motiv aus Dancing With The Moonlit Knight. Dann kommt eine Keyboard-Flöte mit der Reprise der Cinema Show-Strophe hinzu. Anfang und Ende des Albums werden also zitiert.


    Eine alte Dame meldet sich zu Wort: „Ich gehöre hier nicht her“, erklärt Tessa. Eine andere Stimme beruhigt sie: „Ganz ruhig, meine Liebe, es gibt den sicheren Weg heim.“ Und Tess kooperiert, obwohl sie immer noch allein in der Hallo-Hölle ist – schaut, wie die Tollkirsche (deadly nightshade) wächst.


    Ein eher kryptischer Text, der – typisch für Genesis in jener Zeit – voller Anspielungen steckt. Wir dürfen uns die alte Dame Tessa (oder Tess) mit ihrem Einkaufsnetz in einem der zahlreichen Supermärkte vorstellen, die sich Ende der 60er Jahre in England stark ausbreiteten. Sie wirkt überfordert. Das ist nicht der kleine Lebensmittelhändler unten an der nächsten Ecke, in dem sie jahrelang freundlich und zuvorkommend bedient wurde, sondern eine Einkaufs-Hölle. Warum ein Supermarkt? Weil in den ersten drei Zeilen des Liedtextes gleich vier Supermarktketten genannt werden, nämlich Safeway, Fine Fair, Tesco und Coop. Außerdem ist die ganze zweite Hälfte des Stückes gefüllt mit einander überlagernden, schrillen, marktschreierischen Ankündigungen, die ganz so wirken wie die Angebotsdurchsagen in Supermärkten.

    Hingewiesen wird auf englisches Rindfleisch, das Keks-Sortiment von Peek Freans Family, Fairy Liquid, Fruchtgummis, Butter der Marke Anchor und eine Art Sahnecremeschnitten von der Firma Bird’s Eye. Bis auf das Spülmittel und letzteres Gebäck handelt es sich um lang eingeführte, traditionelle „britische“ Marken (dank Anchor sogar mit einem Bezug auf das britische Empire). Hier wird also ein Teil von England verkauft. Bei zwei Artikeln wird dazugesagt, wie viel man für den Preis bekommt: Butter und Rindfleisch werden pro (halbes) Pfund angegeben. „Selling England by the pound - England wird pfundweise verkauft“.

    Die Traditionsmarken, seit viktorianischer Zeit am Markt, stellen auch wieder einen Bezug zu Tessa/Tess her: 1896 erschien ein Roman, der die damalige Sexualmoral infragestellte, inzwischen aber als Klassiker gilt (und trotzdem lesenswert ist). Hauptperson ist ein Bauernmädchen, die zwischen zwei Männern steht, ein uneheliches Kind bekommt und später einen der beiden ermordet. Ihr Name (und der Titel des Romans) lautet Tess von den D’Urbervilles. Die gute alte Tess, ihre viktorianische Welt und ihre viktorianischen Einkäufe passen in der Tat nicht mehr in die grellere! buntere! lautere! Supermarktwelt der frühen 1970er. Auch der genügsame Lebenswandel wird hier verabschiedet: Das Stück heißt ja „Gang der Fülle“ – Gang wie in Supermarktgang mit den wohlgefüllten Regalen, die alles im Überfluss enthalten. Wenn man den Titel aber nur gesprochen hört, klingt es wie „I’ll have plenty – Ich nehme reichlich“ … von dem England, das hier pfundweise feilgeboten wird.


    Interessanterweise ist die letzte Textzeile „it’s scrambled eggs“ nicht zu hören. Im Kontext des Stückes könnte es ganz einfach Tessas Entscheidung sein, was es dann zu essen gibt (da sie ja hier nicht einkaufen mag): Rührei. Hausmannskost. Tess gehört eben nicht mehr dem Heute an, sondern eher schon dem Gestern. Da passt es gut, dass - absichtliche Anspielung oder zufälliges Zusammentreffen? - Scrambled Eggs der Arbeitstitel des großen Beatles-Hits Yesterday ist (Danke, E, für den Hinweis!).Man hat einiges an geheimen Anspielungen in dieser Zeile sehen wollen, und zwar auf das letzte Stück des vorhergehenden Albums: Rührei werde ganz sicher („as sure as eggs is eggs“) das Abendessen des Mächtigen („the supper of the mighty one“) werden. Das ist nun sogar mir zu weit hergeholt, aber auch zu amüsant, um es unerwähnt zu lassen.


    Über die Musik ist nicht viel zu sagen; es sind Motive von Dancing With The Moonlit Knight und The Cinema Show enthalten, und das Ganze ist vielleicht inspiriert von den vielschichtigen Klangcollagen, die die Beatles gebastelt haben. Am Ende des Albums ist es ein ganz geschickter Ausklang, aber auch wegen des direkten Übergangs von The Cinema Show zum Aisle Of Plenty fällt es mir schwer, das Stück als unabhängiges Stück zu betrachten. Trotzdem 8 Punkte.

  • Wow! Gewaltig, was du da herausholst. Danke.

    Insbesondere das mit 'I'll have plenty', da wäre ich jetzt wenn überhaupt nicht so schnell gekommen.
    Ist einfach jedes Mal ein Vergnügen, deine Interpretationen zu lesen. :thumbup::)

    Zy
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    "The music is the true currency. It's more valuable than the accolades or the money. The relationship is with the invisible muse and you know if she's pleased or if she ain't." - Steve Hackett

  • Ich kann mich Zy nur anschließen, Martinus. Das ist eine top Interpretation des Songs - sowohl im Kontext des Albums als auch im historischen Kontext des Jahres 1973.
    Gedanklich habe ich diesen Zusammenhang (Wirtschaftskrise in Großbritannien, Verlust traditioneller britischer Wert etc.) zwar auch häufig durchgegangen. Vielleicht hätte ich auch noch den einen oder anderen weiteren Gedanken beigesteuert. Aber so in die Tiefe hätte ich nicht gehen können - schon gar nicht mit der Charakterisierung von Tess. Aber Du triffst den Nagel absolut auf den Kopf.


    Hut ab!

    • Offizieller Beitrag

    Eine Frage übrigens an die Leute mit sehr guten Ohren und evtl. sehr guter Soundmanipulationstechnik:


    Die "Angebotsdurchsagen" beginnen ja etwa nach einer Minute, das erste deutlich hörbare ist "English ribs..."

    Aber ich bilde mir ein, bei 0:58 bereits Peters Stimme zu hören, und ich habe den Eindruck, dass Peter da tatsächlich "Selling England - Selling England ... by the pound, the pound" singt. Kann das jemand mal herauspräparieren? Oder ist das ein anderes "Angebot"?