TotW [23.01.12-29.01.12]: PETER GABRIEL - We Do What We're Told

  • Das Stück war damals beim Erscheinen der "So" neben Mery Street mein Lieblingsstück. Mein Eindruck damals: düster, bedrohlich und hypnotisch.


    Die Musik an sich finde ich auch heute noch ganz interessant. Gabriel, der Klangmaler, der mit einfachen aber sorgfältigen Mitteln starke Atmosphären darstellt.


    Was mich an dem Song stört, ist der allzu minimalistische und letztlich doch auch pathetische Text.
    Das Stadion ruft: Erhobene Fäuste, Große Gesten, Verbrüderung mit Bono und Sting......usw.


    Gabriel als Chronist der dunklen Seiten der menschlichen Seele fünktioniert für mich viel besser bei Songs wie "Family Snapshot" oder "Mercy Street", bei denen er sich mit einem Individuum auseinandersetzt.


    Ich glaube ohnehin nicht, das man den durchaus differenzierten Forschungsbericht Milgrams angemessen in Songform darstellen kann.


    9 Punkte von mir, hauptsächlich wegen dem starken Arrangement.

    • Offizieller Beitrag

    Was mich an dem Song stört, ist der allzu minimalistische und letztlich doch auch pathetische Text. Das Stadion ruft: Erhobene Fäuste, Große Gesten, Verbrüderung mit Bono und Sting......usw.


    Genau! Beziehungsweise: Eben genau nicht!


    Der Text dieses Songs kann, wie ich finde, auf eigenen Füßen stehen. Er bedarf dabei nicht des Verweises auf die Experimente des Herrn Milgram.


    Was Gabriel hier macht, ist: Er führt dem Hörer vor - nein, er verführt den Hörer, dass dieser ihm das vorführt, was George Orwell in 1984 als Doppeldenk bezeichnet. Er singt uns einen simplen Text mit einer einfachen Melodie und einem einfachen Rhythmus vor: "we do what we're told". Dabei vereinnahmt er den Hörer durch den Pluralis auctoris, durch das "we" nimmt er uns mit, schließt uns mit ein, stellt Gemeinschaft mit uns her. Und wenn einer in der Gemeinschaft "wir" singt, dann bringt das andere in der Gemeinschaft dazu, im Sinne eines Gruppengefühls mitzusingen. Schon singt ein ganzes Stadion, vom Sänger animiert, lauthals "we do what we're told".
    Im Leben Des Brian gibt es eine Szene, die genau dasselbe Thema beleuchtet: Brian erklärt seinen Anhängern: "Ihr seid alle Individuen!", die große Menschenmenge antwortet wie mit einer einzigen Stimme: "Wir sind alle Inviduen!" - und das eine kleine Stimmchen, das dazwischenruft "Ich nicht!" (und sich damit als einziges erkennbares Individuum aus der Masse herausschält), wird zum Stillsein angehalten.


    Der Hörer wird psychologisch animiert einen Text mitzusingen, der genau die Manipulation beschreibt, der der Hörer erliegt - er denkt sich dabei "Na, ich mache aber mal nicht, was mir andere sagen" und macht, indem er mitsingt, genau das, was ihm ein anderer gesagt hat.


    Daher kommt es dann auch, dass viele sich mit diesem Song unwohl fühlen: Sie werden manipuliert, man sagt ihnen offen, dass sie manipuliert werden, und sie erliegen der Manipulation, obwohl sie (weil sie ihnen bewusst ist) sich dagegen wehren können: Willkommen im Lande des Doppeldenk.


    Ja, das Stadion ruft. Erhobene Fäuste - eventuell. Große Geste? Wenn, dann eine leere große Geste. Und ganz bestimmt keine Verbrüderung mit Bono oder Sting; wenn das Stadion dieses Stück mitsingt, offenbart es nur, wie leicht Menschen manipuliert werden können - zu was auch immer: Vielleicht zu Milgram's 37. Oder zum Sommermärchen '06. Oder zu Berlin '33. Das bleibt offen - die leere Geste wird (hier) nicht wirklich gefüllt, denn was will uns der angeschlossene Ruf nach "einem Zweifel - einer Stimme - einem Krieg - einer Wahrheit - einem Traum" sagen, wenn nicht, dass das fünf Ideen sind, fünf Dinge, mit denen die Geste gefüllt werden könnten...

  • Der Text dieses Songs kann, wie ich finde, auf eigenen Füßen stehen. Er bedarf dabei nicht des Verweises auf die Experimente des Herrn Milgram.


    (...)die leere Geste wird (hier) nicht wirklich gefüllt, denn was will uns der angeschlossene Ruf nach "einem Zweifel - einer Stimme - einem Krieg - einer Wahrheit - einem Traum" sagen, wenn nicht, dass das fünf Ideen sind, fünf Dinge, mit denen die Geste gefüllt werden könnten...


    U.a. das macht einen guten Songtext aus. Er ist eigenständig, in sich geschlossen (und kann trotzdem auf Außertextliches verweisen bzw. Bezüge haben) und verdichtet etwas. Das ist Peter hier, wie ich finde, ganz ausgezeichnet gelungen.
    Zudem passen Musik und Text hier prima zusammen - beide haben eine sehr hintergründige Wirkung, man ist gefesselt und beunruhigt zugleich.
    Martinus' letzten Satz finde ich als Interpretationshypothese total gut. Der Text wird dadurch kohärent und behält trotzdem eine Offenheit, mit welcher der Hörer aktiv umgehen muss bzw. kann.
    Faszinierend an diesen Schlusszeilen des Songs ist für mich, dass einerseits wirklich so etwas wie Hoffnung evoziert wird (besonders sicherlich bei "One dream"). Andererseits hat sich das Beunruhigende nicht erledigt. Wie Peter dieses Wirkungsverhältnis gestaltet hat, finde ich großartig.
    Was ich an der Musik gut finde: Sie kommt ohne stereotype und ermüdende Ostinatos aus. Stattdessen ist es ein beunruhigend mystisch-waberndes Klangbild - eben ohne repetitiv strukturierende und damit ordnende oder auch Halt gebende Strukturen. Man befindet sich im Treibsand.

  • townman and others: Nachvollziehbar--aber ich finde es extrem unangenehm, mich im Treibsand zu befinden.Ich mag das überhaupt nicht,denn daran ist nichts gutes.

    Hier steht nichts wichtiges! Trotzdem danke für's Lesen.

    • Offizieller Beitrag

    townman and others: Nachvollziehbar--aber ich finde es extrem unangenehm, mich im Treibsand zu befinden.Ich mag das überhaupt nicht,denn daran ist nichts gutes.


    Dann ist das Stück gut gelungen - denn, wie ich überzeugt bin, es soll verstören. Es soll unangenehm sein, es soll das unangenehme Gefühl dieser Situation im Hörer heraufbeschwören.


    ("Aber man muss doch seine Freude haben an der Kunst!" - "Man kann an der Kunst viel mehr haben als seine Freude." G.Hauptmann)

  • townman and others: Nachvollziehbar--aber ich finde es extrem unangenehm, mich im Treibsand zu befinden.Ich mag das überhaupt nicht,denn daran ist nichts gutes.


    Sich im Treibsand zu befinden, ist nichts Gutes.


    Warum höre ich dann trotzdem so etwas Bedrückendes gerne? Und nicht nur heitere / aufputschende / virtuose Musik mit einer grundpositiven Wirkungsebene?


    Weil ich mich ja - da muss ich also genauer werden - nicht wirklich im Treibsand befinde. Der Song ist eine Art Simulation. Ich fühle mich so, als ob...als wäre...
    Mich einer solchen Simulationstechnik hinzugeben, lässt mich ungewohnte Erfahrungen machen. Ich sehe / fühle mich in einem speziellen, artifiziellen Kontext, lasse ungewöhnliches emotionales und reflektierendes Erleben zu - und erfahre mich im günstigen Fall um neue Facetten fremder und eigener Lebenswirklichkeit bereichert. Fühle mich sensibilisiert für Wirklichkeitsbereiche, mit denen ich in diesem Fall zwar eigentlich nichts zu tun haben will, denen ich aber durchaus ausgesetzt sein kann.
    Fühle mich eventuell hinsichtlich eigener (möglicherweise unbewusster) Ängste angesprochen, lasse diese ans Tageslicht kommen: Bin ich auch in Gefahr? Wo mache ich das, was der Chor im Lied macht? Sind meine Sinne geschärft für massensuggestive Mechanismen? Wo treibe ich gerne einfach nur mit und habe keine Kontrolle, keine Handlungsmöglichkeit - wie im Treibsand?


    Bei Musik finde ich es besonders schön, dass eine extrem aufgeladene sinnliche Ebene mit solcherlei versprachlichtem Erleben korrespondiert. Martin Walser beschreibt seinen Leseprozess als ein "Sich-selbst-Umgraben". Musik wühlt mich quasi um. Musik verändert auf ganz eigene Weise.


    Und manchmal merke ich wie revelation bei diesem Stück: Die Musik erreicht mich nicht. Sie hat offenkundig nichts zu tun mit mir = spricht mich nicht an (dafür jmd. anders). Oder ich WILL mit ihr nichts zu tun haben.
    Bla. Niemand muss meinen verquasten Ausfluss lesen.

  • •Wenn du mich fragst, was die Kunst sei, so weiß ich es nicht. Wenn du mich nicht fragst, so weiß ich es.
    Zitat von El Lissitzky


    •Sie erwarten von mir, daß ich ihnen sage, daß ich ihnen definiere, was Kunst ist? Wenn ich es wüßte würde ich es für mich behalten.
    Zitat von Pablo Picasso





    Bla.


    Dann ist das Stück gut gelungen - denn, wie ich überzeugt bin, es soll verstören.


    Hmmm, ich habe in meiner 2 P Bewertung ja zum Ausdruck gebracht, dass ich das musikalische Ereignis nicht mag.
    Ich kann kein Urteil darüber treffen,ob das Kunstwerk gelungen ist, oder ob es gut ist gerade weil es mich abstösst, denn der künstlerische Inhalt kann mich auf diesem akkustischen Wege einfach nicht erreichen.Kontrollverlust, selbst als künstlerische Suggestion,soviel sei hier offenbart, ist eher nicht so mein Ding.


    Anders wäre dies vielleicht bei einem Foto zum gleichen Thema. Ich könnte mir vorstellen,dass ich es lange staunend betrachte und dass ich es an mich heranlasse, dass es mich berührt.


    Ich finde jetzt im Nachhinein eine dem ganzen Konzept gerechtwerdende Benotung eher schwierig.


    Jetzt brauche ich erstmal `ne Portion von TBs "Still it makes me by Surprise".Da verliert sich TB auf seine Art auch im Treibsand;)




    Sorry , drittes Post zum Thema:Ich schweige jetzt.

    Hier steht nichts wichtiges! Trotzdem danke für's Lesen.

    8 Mal editiert, zuletzt von revelation ()

  • Stanley Milgrams Experiment aus den 60er Jahren, das Gabriel zu dem Stück veranlaßte, beschäftigt noch immer. Gerade nahm der Spiegel unter dem Titel "390 Volt? Fahren Sie fort!" (Ausgabe 45/13, im Netz nur gegen Entgelt) zwei Ereignisse zum Anlaß, mal wieder an den 1984 verstorbenen Psychologen und seine Arbeit zu erinnern.
    Zum einen hat die australische Autorin Gina Perry einen der Teilnehmer, Bill Menold, über seine Erinnerungen befragt und daraus das Buch "Behind the Shock Machine. The Untold Story oft he Notorious Milgram Psychology Experiment" gemacht. Zum anderen beriet gerade eine Reihe von Experten an Milgrams alter Wirkungsstätte, der Yale University in New Haven, über dessen Vermächtnis.

    Dem Vernehmen nach ist Milgrams Ruf in der Fachwelt durchaus nicht ohne Makel.
    Vorgeworfen wurden ihm Profilierungssucht, Manipulation und eine rücksichtslose bis verächtliche Haltung gegenüber seinen Probanden. Abgesehen von der Nichtbeachtung ethischer Standards wird auch immer wieder diskutiert, inwieweit der Ausgang des Experiments, (das über die Jahre in verschiedenen Variationen wiederholt wurde), tatsächlich Aufschluß über blinden Gehorsam gibt oder lediglich Loyalität gegenüber der Wissenschaft dokumentiert.

    Mir persönlich erschien diese Unterscheidung immer ein wenig marginal, angesichts des Verdienstes, den sich Milgram m.E. dadurch erworben hat, daß er uns eindrucksvoll vor Augen führte, wozu wir im Angesicht vermeintlicher Autorität fähig sind. Daran hat sich, bei aller vermutlich berechtigten Kritik, auch 50 Jahre später nichts geändert.

  • Hier habe ich aus irgendeinem Grund nicht mitgestimmt. Gut, dass der Thread wieder auftaucht.
    WDWWT ist keiner meiner Lieblingstrack. Der ganze Track ist sehr monoton, maschinell, erinnert mich sogar etwas an Vangelis - gabrielisiert natürlich, düster. Zu monoton für meinen Geschmack, der Rhythmus ist passend zum Stück monoton, wie auch der Text.
    Wichtig im Stück ist vielmehr der Hintergrund - die Message. So passt alles zusammen. Ist lobenswert.
    Das Stück gefällt mir trotzdem nicht und wird meistens geskippt. Man hätte das ganze sicher interessanter monoton präsentieren können - oder doch nicht?
    Mit 2 Extrapunkten für Symbolgehalt und intelligentes Thema kommt es noch auf 7 Punkte.

    Zy
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    "The music is the true currency. It's more valuable than the accolades or the money. The relationship is with the invisible muse and you know if she's pleased or if she ain't." - Steve Hackett