Pop-Star Peter Gabriel - "Sex trägt zur Nutzung von Neuerungen bei" - Kultur - Berliner Morgenpost
"Sex trägt zur Nutzung von Neuerungen bei"
Dienstag, 23. Februar 2010 22:57 - Von Michael Loesl
Als extrovertierter Frontmann verhalf er Genesis einst zu Weltruhm. Nach sieben Jahren legt Peter Gabriel jetzt wieder ein Album vor, auf dem er unter anderem Songs von Radiohead, Lou Reed und David Bowie covert. Morgenpost Online sprach mit ihm über Altersmilde und die Wirkung neuer Medien.
Als extrovertierter Frontmann von Genesis trat er mit Fuchs- und Blumemaske auf. Als Solist ließ er den „Sledgehammer“ zum meistgespielten MTV-Video aller Zeiten kreisen, stiftete Bonobo-Affen zum gemeinsamen Musizieren an und machte sich als Weltmusik-Botschafter verdient. Jetzt ist Peter Gabriel 60 Jahre alt und steht erneut vor einer Weggabelung.
Für sein neues Album, „Scratch My Back“, das erste seit acht Jahren, schob der überzeugte Modernist diesmal Sampler und afrikanische Rhythmen beiseite, setzte auf den Klangkörper eines Orchesters und den Songkanon berühmter Kollegen. Im Interview spricht er über Ambitionen, seine bisherigen 60 Lebensjahre und den kreativen Mehrwert der Beschränkung.
Morgenpost Online: Glauben Sie an Tugenden und Sünden?
Peter Gabriel: Ich glaube an die Vielfalt der menschlichen Natur und die Kraft der Intuition. Die Unterteilung in sündhaftes und tugendhaftes Verhalten schafft Konflikte. Institutionen, die Erlösung versprechen, sind darin sehr geübt. Zur Musik befähigt mich das Leben, nicht die Erlösung.
Morgenpost Online: Viele empfinden die langen Pausen zwischen Ihren Alben als Sünde.
Gabriel: Ist es nicht fragwürdiger, alle zwei Jahre eine Platte herauszubringen? Musikmachen ist wie Kindermachen, man kreiert etwas Neues, für das man sich vor und nach dessen Geburt Zeit lassen muss. Mich hetzen weder Termine, mein Ego noch die Sichtbarkeit meiner Potenz.
Morgenpost Online: War das jemals anders?
Gabriel: Junge Männer, die eine Bühne erklommen haben, stehen nicht zuletzt da oben, weil ihre Sichtbarkeit die Chancen auf sexuelle Abenteuer erhört. Auch ich lebte meine Fantasien früher eher auf der Bühne als im Privatleben aus. Sex als Antriebskraft hat zur Massennutzung vieler Neuerungen beigetragen.
Morgenpost Online: Sie meinen das Internet?
Gabriel: Das Internet, die DVD, den Videorekorder, die Polaroidkamera – die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Die Porno-Industrie hat diese Werkzeuge oft zuerst entdeckt und zu deren Verbreitung beigetragen. Inzwischen werden sie auch von der Kirche genutzt.
Morgenpost Online: Sind Sie vom intellektuellen Nutzen des Internet enttäuscht?
Gabriel: Nein, das Internet ist das virtuelle Abbild eines Marktplatzes. Leute wollen kaufen, verkaufen, oder ihr Leben durch den Blick durch das Schlüsselloch interessanter gestalten. Das Internet ist ein noch verhältnismäßig neues Medium und es wird noch ein bisschen dauern, bis wir zu einem meditativen Nutzen finden werden. Bis dahin spiegeln sich sämtliche menschlichen Bedürfnisse und Sehnsüchte im Netz. Das ist ein Istzustand, der weder gut noch schlecht ist. Er ist einfach.
Morgenpost Online: Wie sieht Ihr Istzustand aus?
Gabriel: Mit 60 bin ich entspannter als mit 40. Ich führe ein interessantes Leben, kann viel reisen, habe eine tolle Familie und kann Musik machen, wann immer ich will. Das Elders-Projekt, dem unter anderem Nelson Mandela, Richard Branson, Jimmy Carter und ich angehören, bietet mir obendrein die Möglichkeit an Aktionen teilnehmen zu können, mit denen die Rechte von Menschen untermauert werden, die von Folter bedroht sind.
Morgenpost Online: Machen Sie es einem bewusst nicht leicht, Sie nicht zu mögen?
Gabriel: Jeder, der etwas zu verkaufen hat, bemüht sich augenscheinlich liebenswert zu sein. Ich möchte mich anderen Menschen öffnen und inzwischen gelingt es mir auch immer öfter. Aber ich habe lange dafür gebraucht, mein Englischsein aufzuweichen, und kann immer noch scheuer, reservierter und introvertierter sein als mir lieb ist.
Morgenpost Online: Besitzt Weltmusik einen Mehrwert?
Gabriel: Unbedingt. Ich habe in allen Ecken der Welt Leute getroffen und Musik oder Liebe mit ihnen gemacht. Das waren effektive Formen der Begegnung, weil sie zu meiner Demaskierung führten. Als Internatsschüler habe ich englische Verhaltensregeln verachtet und wählte die Musik um Fassetten meiner Persönlichkeit eine Plattform zu schaffen, die es am Internat zu kontrollieren galt.
Morgenpost Online: Mit ihrem neuen Album schließt sich der Kreis Ihres Ausbruchsversuchs, weil es ausschließlich Stücke angelsächsischer Kollegen enthält.
Gabriel: Stimmt, es ist, wenn man so will, der Umkehrschluss meiner Bemühungen der letzten 30 Jahre. Ich fand es zur Abwechslung erholsam nicht dem Image des Innovators Peter Gabriel entsprechen zu müssen, der sich in einem Dschungel aus Sounds verläuft.
Morgenpost Online: Übern Sie gerade Selbstkritik?
Gabriel: Ich habe während der Produktion des neuen Albums den Segen des Bescheidens schätzen gelernt. Zum Beispiel auf das Orchester als alleinigen Klangkörper. Ich wollte keine Gitarren, kein Schlagzeug, keine Sequenzer verwenden und bin dadurch schneller ans Ziel gelangt. Mein Kopf ist immer um Expansion bemüht, während meine Seele eher auf der Suche nach der Ästhetik der Reduktion ist.
Morgenpost Online: Warum interpretieren Sie Songs von Radiohead, David Bowie, Lou Reed und Elbow neu?
Gabriel: Ich habe beim Gedanken an ein Coveralbum nie die Nase gerümpft. Die Idee eines Songaustauschs erschien mir zu verlockend, um nicht den Versuch starten zu wollen. Manche Kollegen sagten ab, manche waren sofort bereit und andere, wie Neil Young, mussten erst überzeugt werden. Ich bin auf deren Coverversionen meiner Songs gespannt, die am Ende des Jahres erscheinen sollen. Ich genoss den Zustand, nicht die ultimativen Versionen der Songs liefern zu müssen, die jetzt auf dem Album erscheinen, weil jeder David Bowies „Heroes“ bereits kennt.
Morgenpost Online: In zehn Jahren werden Sie 70 Jahre alt. Muss die Menschheit wieder so lange warten auf neue Musik von Peter Gabriel?
Gabriel: Ich glaube nicht, dass die Menschheit ein neues Peter-Gabriel-Album braucht. Aber offensichtlich schätzt man meine Arbeit noch. Ich bemühe mich. Ich denke bereits über ein weiteres Coveralbum nach. Ich muss nämlich dringend den eng gesetzten Rahmen von „Scratch My Back“ verlassen und eine Popplatte aufnehmen.
24. und 25. März live in Berlin