Die Politik ist tot, es lebe die Politik! - kleiner politischer Frühschoppen, Live-Ticker, Austicker und was man sonst noch so zur Meinungsbildung braucht - oder auch nicht...

  • Aber es gibt ihn, er darf in Anspruch genommen werden. Und §104 gibt der Bundesregierung das Mittel an die Hand, willkürlich eine Strafverfolgung zu unterbinden - unter Umständen also die Ahndung einer Straftat aus reiner Willkür zu verhindern. Das hätte mit einem Rechtsstaat nichts zu tun! Wie sollte denn da irgendein deutscher Politiker ins Ausland gehen und irgendwem Predigten über Rechtspflege halten, ohne dass er oder sie schlichtweg ausgelacht wird.


    Das halte ich für eine ziemliche Verdrehung der rechtlichen Gegebenheiten. Eine Verhinderung durch die Bundesregierung wäre ja ein aktives Eingreifen. Tatsächlich ist es aber andersrum: Die Bundesregierung muss aktiv eingreifen, sprich die Ermächtigung erteilen, damit die Strafverfolgung überhaupt starten kann. Solange die Bundesregierung untätig bleibt und einfach nichts macht, kann auch keine Strafverfolgung starten. Mir ist schon klar, dass für viele "Verhindern" und "nicht ermöglichen" ein und dasselbe ist. Tatsächlich kann das juristisch ein ähnlich großer Unterschied sein wie der zwischen aktiver Sterbehilfe und dem Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen (da ist auch in beiden Fällen im Ergebnis der Patient tot, aber der Weg dahin ist doch ein anderer).


    Wieder bringst du hier den Rechtsstaat und den Begriff "Willkür" ins Spiel. Du pochst auf die Gewaltenteilung, willst aber die Legislative, die den § 104a in die Welt gesetzt hat, einfach nicht ernst nehmen. Wenn der Gesetzgeber schon ausnahmsweise vorsieht, dass für Belange der Judikative eine Einmischung der Exekutive erforderlich sein soll, dann wird es dafür auch einen Grund geben. Und wenn die Exekutive diesen ihr vom Gesetzgeber zugewiesenen Spielraum auch nutzt, sehe ich nicht, dass die Rechtsstaatlichkeit dadurch infrage gestellt wäre. Etwas anders würde dann gelten, wenn es sich bei der Ermächtigung durch die Bundesregierung einfach nur um eine Formsache handeln würde, die grundsätzlich gar nicht verweigert werden kann (so ähnlich wie das Erfordernis, dass Gesetze vom Bundespräsidenten unterzeichnet werden müssen, um wirksam zu werden, was dieser auch nur unter ganz besonderen Bedingungen verweigern kann). Dagegen spricht sehr viel. Schon das nachträgliche Einfügen des § 104a lässt darauf schließen, dass es sich eben nicht nur um eine Formsache handeln soll.


    Was also könnte der Grund dafür sein, dass Gesetzgeber es für sinnvoll erachtete, de § 104a StGB zu erlassen?
    Ich kann hier nur Vermutungen äußern ohne jeglichen Anspruch, dass diese Vermutungen auch mit der Realität übereinstimmen. Auf die Schnelle habe ich keine Gesetzesbegründungen gefunden. Wenn ich das nächste Mal in der Rechtsbibliothek bin, werfe ich gerne mal einen Blick in die Kommentierungen, aber dafür fehlt im Moment leider die zeit (und ehrlich gesagt ist es mir dann doch nicht so wichtig, dass sich der AUfwand lohnen würde).


    Der § 103 StGB schafft hier einen Ausnahmetatbestand, da er die Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter anders, nämlich schärfer bestraft als die Beleidigung von "Normalsterblichen". Hier stellt sich schon die Frage, ob die "Majestätsbeleidigung" an sich nicht bereits ein Verstoß gegen den Grundsatz "Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich" darstellt. Der § 104a ist in meinen Augen als Abmilderung dieser Ungleichheit (und damit ferfassungsrechtlich wohl zumindest fragwürdigen Strafnorm) gedacht, indem diese Strafnorm zusätzliche, besonders hohe Voraussetzungen für die Strafverfolgung stellt. Unter anderem eben das Erfordernis der Ermächtigung durch die Bundesregierung. Von der Exekutive wird hier eine Vor-Beurteilung der Strafwürdigkeit des Sachverhalts erwartet. Ein zusätzlicher Schutz des Bürgers vor Strafverfolgung, weil hier eben auch eine zusätzliche Strafverfolgung über den gewöhnlichen Umfang hinaus vorliegt. Natürlich gibt es hier einen Entscheidungsspielraum für die Bundesregierung, die Strafverfolgung zuzulassen oder eben nicht. Aber wenn dieser Spielraum vom Gesetzgeber eingeräumt wurde, halte ich es für sehr abenteuerlich, die Ausschöpfung eines solchen Spielraums als Verstoß gegen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zu bezeichnen.


    Ist die Ausnutzung eines Spielraums mit Willkür gleichzusetzen? Wohl kaum. In der Regel kann überall dort, wo Beurteilungs- oder Ermessenspielräume bestehen, auf eine Historie zurückgegriffen werden, wie in vergleichbaren Fällen entschieden wurde. Das Willkürverbot schränkt Spielräume ein. Wo es allerdingsnur wenige oder keine Präzedenzfälle gibt, wird es schwierig, und der mit der Entscheidung Beauftragte hat entsprechend große Freiheiten. Willkür wird daraus erst, wenn im Wesentlichen gleiche Sachverhalte unterschiedlich behandelt werden, ohne dass die Ungleichbehandlung sachlich begründet wäre. Bei einer Strafnorm, die nur alle Jubeljahre überhaupt zur Anwendung kommt, wird das aber schwierig.

    “THE NIGHT WE TRACKED DOWN PHIL COLLINS, BECAME BEST FRIENDS WITH HIM, AND TALKED HIM INTO REUNITING WITH PETER GABRIEL, AND THEN WE GOT TO SING BACKUP ON THE NEW GENESIS ALBUM AND IT WAS AWESOME!”

    — Barney Stinson, How I Met Your Mother, Season 7, Episode 21 ‘Now We’re Even’

  • Achja, die Türkei und Pressefreiheit:


    Aktuell wird aus noch unbekannten Gründen ein SWR-Reporter am Istanbuler Flughafen nach der Einreise festgehalten:
    SWR-Journalist von Türkei festgesetzt - SPIEGEL ONLINE


    Gerade erst gelesen.


    Na dann kann er ja froh sein, dass er bei der ARD und nicht beim ZDF beschäftigt ist...;)

    But we never leave the past behind, we just accumulate...

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    • Offizieller Beitrag

    Das halte ich für eine ziemliche Verdrehung der rechtlichen Gegebenheiten. Eine Verhinderung durch die Bundesregierung wäre ja ein aktives Eingreifen. Tatsächlich ist es aber andersrum: Die Bundesregierung muss aktiv eingreifen, sprich die Ermächtigung erteilen, damit die Strafverfolgung überhaupt starten kann.


    Egal ob sie die Ermächtigung verweigert oder ob sie nichts tut, das Ergebnis ist dasselbe: Sie verhindert faktisch die Verfolgung einer (möglichen) Straftat.
    Nochmal: Ich habe keine Zweifel daran, dass es legal ist. Genauso deutlich empfinde ich es aber als einen Sonderparagraphen, der dem Geiste des "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich" durchaus widerspricht.


    Zitat

    Wieder bringst du hier den Rechtsstaat und den Begriff "Willkür" ins Spiel. Du pochst auf die Gewaltenteilung, willst aber die Legislative, die den § 104a in die Welt gesetzt hat, einfach nicht ernst nehmen. Wenn der Gesetzgeber schon ausnahmsweise vorsieht, dass für Belange der Judikative eine Einmischung der Exekutive erforderlich sein soll, dann wird es dafür auch einen Grund geben.


    Ja: Man will den Bundesregierungen die Möglichkeit geben, politische Befindlichkeiten ÜBER die Gegebenheiten des Rechts zu stellen. Ich empfinde das als Willkür. Und wie absurd und unsinnig so etwas ist, zeigt sich, wenn der Klagende parallel über beide Paragraphen klagt.


    Zitat

    Hier stellt sich schon die Frage, ob die "Majestätsbeleidigung" an sich nicht bereits ein Verstoß gegen den Grundsatz "Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich" darstellt.


    Da sind wir mal einer Meinung.


    Zitat

    Der § 104a ist in meinen Augen als Abmilderung dieser Ungleichheit (und damit ferfassungsrechtlich wohl zumindest fragwürdigen Strafnorm) gedacht, indem diese Strafnorm zusätzliche, besonders hohe Voraussetzungen für die Strafverfolgung stellt.


    ... weil ja eine gemilderte Ungleichheit schon fast gar keine Ungleichheit mehr ist?

  • Interessant, mal die Perspektive aus dem Ausland zu sehen:
    Yippie Yippie Yeah! Die Schmähkritik bei John Oliver | Schlecky Silberstein


    Eins hat Oliver in jedem Fall verstanden (und damit hat er einigen bei uns schon mal was voraus): es geht nicht um den Inhalt des Gedichts.


    :( Seitenhiebe ... Die gleiche Frage wie an Böhmermann: " Tut das not ??"


    Ich habe eben die Jimmy Fallon Show mit Will Ferrel in Drags gesehen, die beiden beömmelten sich, was man alles im amerikanischen Fernsehen nicht sagen darf, weil es unanständig sei. Im Angloamerikanischen Raum piept doch ständig der Zensor. Karriere vernichtende Mega-Skandale, wenn mal ein (züchtig mit Sternchen bedeckter) Nippel in der Halbzeitshow zu sehen ist.


    Ich halte es für Satire, wenn der Brite Oliver das "freie" Amerika lobt.

    • Offizieller Beitrag

    Hatte es insofern, als dass es euch klarmachen sollte, dass ihr euch hier seitenweise (recht langweilige) Scharmützel über ungelegte Eier liefert. Denn ein solches grundsätzliches Recht "für grenzenlose Witze" gibt es nicht, gleichwie es auch kein grundsätzliches Verbot dagegen gibt.


    Es gibt eben nur die Meinungs- und die Pressefreiheit. Was die beinhaltet, darüber gehen die Meinungen offenbar auseinander, was für den aktuellen Fall jedoch völlig ohne Belang ist. Das hat Kalkofe wie niemand sonst hervorragend auf den Punkt gebracht.


    So, und jetzt streitet euch schön weiter über schlechte Witze, derweil die Konsequenzen aus Merkels Versagen bereits sichtbar werden: Behörden verweigern Einreise: ARD-Korrespondent in Türkei festgesetzt | tagesschau.de

  • Es ging mir darum, Mutzels (falsche) Behauptung der "Grenzenlosigkeit von Witzen" nicht unkommentiert stehen zu lassen.


    Nun ja, der Versuch von mir, durch Posten eines Witzes einmal auszuloten, wie diese Grenzen konkret aussehen. lief ja leider ins Leere.


    Deshalb noch einmal die Frage: Ab wann ist ein Witz verboten? Und jetzt bitte keine allgemeinen Hinweise auf "Meinungsfreiheit" oder so, denn da hat jeder seine eigene Vorstellung.


    Wenn - wie es hier behauptet wird - Witze gibt, die man nicht erzählen darf, müsste es doch auch möglich, zu erklären, wie solche Witze aussehen?!

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    • Offizieller Beitrag

    Nun ja, der Versuch von mir, durch Posten eines Witzes einmal auszuloten, wie diese Grenzen konkret aussehen. lief ja leider ins Leere.

    Deshalb noch einmal die Frage: Ab wann ist ein Witz verboten? Und jetzt bitte keine allgemeinen Hinweise auf "Meinungsfreiheit" oder so, denn da hat jeder seine eigene Vorstellung.

    Wenn - wie es hier behauptet wird - Witze gibt, die man nicht erzählen darf, müsste es doch auch möglich, zu erklären, wie solche Witze aussehen?!


    Das kann ich dir mit Sicherheit nicht konkret sagen. Die Grenze ist zumindest erstmal die des guten Geschmacks. Und der ist ja sehr individuell. Auf jeden Fall verläuft die Grenze da, wo sich jemand ernsthaft beleidigt fühlt. Ob sowas dann auch einer gerichtlichen Klage standhält, ist die andere Frage.

    Aber um dir mal wenigstens ein Beispiel zu nennen (auch wenn dich das sicher nicht zufriedenstellt...): Ostfriesenwitze finde ich ok, Judenwitze gehen gar nicht. Den mit dem türkischen Schüler fand ich noch ok. Weil darüber sicherlich auch viele junge Türken lachen könnten.

    Weiteres Diskutieren um diese konkrete Frage von dir bringt in meinen Augen aber nix, weil wir hier ohnehin kein echtes Ergebnis erzielen und auch bei den Meinungen sicherlich nicht auf einen Nenner kommen werden. Von daher können wir es auch sein lassen. ;)