Die Selling & Foxtrot Masterbänder (re)visited

Hello,

in freudiger Erwartung der "Selling" Tour haben wir zusätzlich zum letzten WIV-Newsletter eine weitere Neuigkeit.

Während der Tage in England besuchten TMB zwischen den "Lamb" Konzerten ein weiteres Mal die Genesis Farm in Surrey. Bereits 2004 konnten ja Sebastien und Denis im Studio auf Einladung von Tony Banks die 24-Spur Masterbänder von "Lamb" anhören und dadurch Details und Feinheiten der Produktion entdecken, die in der finalen Abmischung des Albums versteckt und vergraben waren.

Dieses Mal gewährten ihnen Genesis Zugriff auf die kompletten Masterbänder der Alben "Selling England by the Pound" und "Foxtrot", und das Ergebnis übertraf die wildesten Erwartungen. Sebastien zeigte sich danach regelrecht geschockt über die Menge der Entdeckungen und bekundete seine Vorfreude, bald mit den Proben zu beginnen.

Ähnlich äußerte sich auch David Myers, der schon immer einen großen Teil der Transkriptionsarbeit geleistet hatte (was man auch auf seiner Solo-CD hören kann). Man muß sich klarmachen, daß Genesis ihre Musik ja nie auf Notenblätter fixiert hatten, und auch wenn die visuelle Rekonstruktion von TMB augenscheinlich zunächst das Eindrucksvollste ist, war die musikalische Rekonstruktion nicht minder schwierig. Speziell auf dem "Selling" Album sind zahlreiche Stellen, wo mehrere akustische Gitarren zeitgleich zu hören sind, und die Analyse und Niederschrift war eine unendlich schwierige und zeitaufreibende Angelegenheit. Durch den Zugriff auf die separaten Spuren der Masterbänder läßt sich die Musik natürlich viel präziser und genauer transkribieren, und in jedem Fall sind TMB nun komplett aus dem Häuschen über die kommende Tour...

Die ganze Band kündigte an, die kommende "Selling" Tour würde musikalisch und technisch noch einmal dramatisch verbessert und (zum würdigen Abschluß) die mit Abstand besten Konzerte der Bandgeschichte werden - Originalton Sebastien: "Die Leute werden weinen vor Freude!"

Die Zusatzarbeit wird in erster Linie wieder an David hängenbleiben, der nochmal etwas mehr mit der linken Hand spielen muß...

Was Playback und Midi angeht, schwirren eine Reihe Mißverständnisse durchs Netz, denen wir auch selbst eine Zeit lang auf den Leim gegangen sind, weil sie auf der kanadischen Newsliste zunächst undementiert geblieben waren.

Wir hatten aber dann in Stuttgart mit Sebastien ausführlich darüber gesprochen - das stand schon mal im "Oboe" Thread und im Tourtagebuch, deshalb hier nur nochmal kurz: Bei TMB laufen keine Instrumente aus der Konserve, weder Tape noch Midi. Der Baßlauf bei "Carpet Crawlers", der früher ein paarmal für Midi gehalten wurde, wird von David auf dem RMI gespielt, außerdem spielt er die "Oboe" bei "The Musical Box".

Vom Tape (respektive Sample) kommen lediglich diverse Soundeffekte und kurze Fragmente (wie z.B. "We will rock you little snake"), die auch bei Genesis als Tape liefen, plus einige weitere, die sich Genesis auf der Bühne gespart hatten.

Die einzigen beiden Passagen, wo ein ganzer Musiklauf nicht "sichtbar" auf der Bühne gespielt werden kann, sind bei "Riding the Scree" und "Cinema Show", wo jeweils ein kurzer Keyboard-Teil von "Hackett" live hinter der Bühne gespielt wird (er verschwindet ja bei beiden Stücken für einen Moment). Das hätte er natürlich auch *auf* der Bühne machen können, aber da sei Serge vor...

Nope - explizit hatte ich ihn nur auf "Carpet Crawlers" angesprochen, weil da (wie gesagt) die Midi-Theorie seit langer Zeit etabliert war. Er zeigte dabei allerdings mehrfach mit fuchtelnder Geste auf die Keyboards and sagte explizit, David würde *alle* Parts mit der Hand spielen, bei allen Stücken und allen Shows.

Was in dem Zusammenhang auch recht interessant war, es taucht immer mal wieder die naheliegende Frage auf, ob die "Instrumenten-Verteilung" bei TMB eine verläßliche Referenz für das Original ist - sprich, ob jeder das spielt, was Genesis spielten, oder ob es da auch mal einen Tausch gibt.

Hierzu sagte er klipp und klar, daß *jeder* von TMB genau das spielt, was "sein" Original auf der Bühne spielte (plus ein paar zusätzliche Sachen), und daß von den Tapes genau das kommt, was Genesis von Tapes abspielten (plus ein paar zusätzliche Sounds).

Da er das wirklich kathegorisch über die kompletten Shows sagte, kommt der Baß bei "it" somit von der gleichen Quelle wie bei Genesis - wer auch immer es 74/75 machte (wohl Tony), spielt es mittels Doppelgänger auch heute. Somit muß es eigentlich (damals wie heute) von "Tony" kommen.

Genesis haben live ein paar Passagen vereinfacht, oder genauer gesagt: Bis "Foxtrot" haben sie faktisch alle Live-Titel lange vor der Studioaufnahme gespielt und dann im Studio an ein paar Stellen ein anderes Instrument genommen oder noch etwas hinzugefügt. Bei "Selling" und "Lamb" wurden zuerst die Studioaufnahmen produziert und dann zeitnahe live gespielt - hierbei mußten sie (bedingt durch Kosten, technische Einschränkungen, zugegebenermaßen auch hier und da mal wegen fehlender Spielpraxis) das eine oder andere vereinfachen - also kurze Passagen weglassen oder einfacher spielen.

TMB haben frühzeitig beschlossen, die Studioversionen als "definitiv" zu betrachten, also als das, was Genesis unabhängig von materiellen, technischen und logistischen Einschränkungen "wirklich wollten". Love it or hate it - das ist nun mal das, was TMB vor 15 Jahren anfingen und wobei sie blieben...

Natürlich ist das eine kontroverse Entscheidung, aber man muß auch sehen, daß sie schon frühzeitig Kontakt zu Genesis selbst pflegten und damit auch ein Feedback mit den ursprünglichen Autoren über deren Ziele, Absichten, Wünsche und Einschränkungen bekamen.

Das Ergebnis ist nun, daß sie (musikalisch) nicht das explizite Konzert vom soundsovielten des Jahres soundso spielen, sondern (wann immer möglich) die Studiofassung als "definitive Referenz", so wie sie auch die visuelle Show in der bestmöglichen Variante zeigen, und nicht mit den Pannen und Limits, die an einem bestimmten Abend passierten. Es gab nie eine "Selling" oder gar "Lamb" Show von Genesis, wo alles zusammen so lief wie bei TMB - irgendein Teil hat immer gefehlt, war kaputt, konnte nicht mitgeschleppt werden, oder es war gerade kein Roadie da, der es einschalten konnte. Das war von Genesis auch keine "künstlerische Absicht", sondern ein trauriger Kompromiß, mit dem sie leben mußten.

Es ist allerdings nicht so, daß sie *immer* die Studio-Fassung spielen, tatsächlich entscheidet es sich an der Dramaturgie - wenn die visuelle Show eine Änderung verlangt, dann folgen sie der Live-Fassung, z.B. spielen sie "The Knife" in der Fassung vom 73er Live-Album und nicht die "Trespass" Version, das Intro von "Moonlit Knight" hat (so wurde mir gesagt) eine andere Tonlage, die nur mit einem kompletten Instrumentenwechsel möglich gewesen wäre, der Schluß von "it" ist anders, um den Flashpot zu zünden, etc.

Aber überall da, wo Genesis lediglich vereinfacht hatten, ohne daß es eine optische Auswirkung hatte, versuchen TMB, die volle Studio-Version zu spielen.