Am Hofe des karminroten Königs

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    Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Diese fast schon in die Binsen gehende Weisheit gilt wohl vor allem dann, wenn es gelingt, einen komplexen Begriff in eine unmittelbar wirkende Anschaulichkeit zu überführen. "Der Krieg" (Alfred Kubin, 1907) ist hier kein Abstraktum mehr. Sein abscheuliches, mächtiges Wesen offenbart sich dem Betrachter schon auf den ersten Blick.


    In der Musik liegen die Dinge ein wenig anders. Musik ist eine "Zeitkunst". Wenn sie nicht mit Gesangstext korrespondiert, übermittelt sie in der Regel keinerlei begriffliche Information oder bildhafte Anschaulichkeit.
    Als der englische Komponist Gustav Holst (1874-1934) kurz vor dem Ersten Weltkrieg - also durchaus in historischer Nähe zu Kubins Bild - anfing, sich mit der musikalischen Umsetzung astrologischer Inhalte zu beschäftigen, geriet der Mars wohl mit als erster Planet in seinen Fokus. Holst war weniger am Planeten selbst als an dessen Namensgeber, dem römischen Kriegsgott, interessiert. Ihn also, die allegorische Verkörperung des Krieges, wollte er musikalisch in einem Orchesterstück charakterisieren.Und damit das Publikum diesen Zusammenhang auch unbedingt verstehen würde, hieß das Stück dann letztlich: "Mars, the Bringer of War".
    Was bietet nun Holsts Musik auf, um das Wesen des Kriegsgottes in Tönen zu porträtieren? Es beginnt mit einem leisen Rhythmus: radada-dam-dam-dada-dam. Diese dumpfe, eintönige Marschfigur im 5/4-Takt mit der typischen militärisch assoziierten Triole gleich zu Beginn zieht sich durch den gesamten Satz und ist mit Sicherheit dessen musikalisches "Erkennungszeichen". Im weiteren Verlauf türmen sich zunächst vor allem die Blechbläser, doch letztlich auch der gesamte riesige Orchesterapparat in einfacher, ausdrucksstarker Melodik über diesem Rhythmus auf und zeigen den Kriegsgott als ein alles unaufhaltsam niederwalzendes Ungetüm - eine unerbittliche Todesmaschine, eine Heimsuchung. Der Schluss wie fürchterliche Schläge mit einer vernichtenden Waffe. Die Stille danach fordert den Gedanken heraus, Mars könne nur gähnende Zerstörung hinterlassen haben: https://www.youtube.com/watch?v=L0bcRCCg01I



    King Crimson spielten schon 1969 ihre Version des Orchesterstückes. Trotzdem gelangte die Adaption nicht auf das erste, sondern 1970 etwas verspätet auf das zweite Album "In the Wake of Poseidon". Und es hieß dort dann auch nicht mehr "Mars", sondern - wohl aus urheberrechtlichen Gründen - "The devil's triangel".
    Schon der neue Titel gibt Rätsel auf. Wer ihm nachspürt, befindet sich in einem unübersichtlichen Forschungsgebiet zwischen Bermudadreieck und Atlantis, zwischen spekulativ gedeuteter Schlangensymbolik und psychologisch fragwürdig aufgeladener Esoterik.
    Die Frage, hinter welcher Teufelsmaske genau sich Mars nun verbirgt, bleibt an dieser Stelle mangels überzeugender Hypothesen offen. Und welches Dreieck sich auch immer in seinem Besitz befinden mag - zumindest lässt sich festhalten, dass King Crimsons Instrumentalstück eine Dreiteiligkeit aufweist, die ihrerseits durch Untertitel festgelegt ist.
    Und noch etwas zur "Drei": Interessanterweise ist die Melodik des Holst'schen Originals in auffälliger Weise von einem bestimmten charakteristischen Tonabstand geprägt: dem Intervall des 'Tritonus'. Wenn zwei Töne im Abstand so eines Tritonus (= drei Ganztonschritte) erklingen, bewirkt das eine mächtig dissonante Reibungskraft. Und weil dieser Abstand eine solch scharfe melodisch-diabolische Wirkung erzeugt, gilt er musikwissenschaftlich auch als "Teufels(!)intervall" - schon Bach verwendete ihn z.B. in geistlichen Werken, um Analogien zwischen textlicher und melodischer Semantik zu erreichen. Und in der Tat tauchen auch in "The Devil`s Triangle" an mehreren exponierten Stellen deutlich hörbare Tritoni auf, sodass der Teufel hier also nicht unbedingt im Detail, dafür aber im Titel und den Tonbeziehungen steckt. Hier nun Mars im karminroten Gewand: https://www.youtube.com/watch?v=zume7gCo3_4


    Musikalisch geben sich King Crimson überhaupt keine Mühe, Mars hinter einer Maske zu verstecken. Sein Erkennungszeichen, der eintönig-martialische Rhythmus im 5/4-Takt, bestimmt auch die Adaption von Anfang an. Zwar zitiert die Band an einer Stelle auch Holsts Melodik in vereinfachender Weise ganz direkt (bei 2:17-2:40), aber ansonsten treibt sie ein eigenes Spiel mit dem marschierenden Kriegstreiber: Handelt es sich im ersten Teil des Stückes noch um weniger komplexe Akkordverschiebungen und -progressionen über einem Orgelpunkt im Bass, verliert die Musik dann zunehmend an Ordnung und Stabilität. In einer nächsten Phase (ab 3:56) gibt es vielfältige Klangschichtungen, die sich apokalyptisch auftürmen. Auch rhythmisch wird es hier zunehmend ungebundener und zügelloser. Ein monströser Sturmwind (ab ca. 6:53) fegt - schon begleitet vom Ticken eines Metronoms - durch die Szenerie, bevor das Metronom dann kurze Zeit später allein zu hören ist (ab 7:28). Ein gespenstischer Moment, denn man hat natürlich das vorangegangene musikalische Schreckensszenario noch im Gedärm, und zudem tut das Metronom eben auch nicht das, was man von ihm erwarten dürfte: für einen gleichmäßigen Puls sorgen. Einerseits gemahnt es den Hörer an die Zeitlichkeit der Dinge, andererseits tickt es so von seiner eigentlichen Funktionalität abweichend, dass auch dieser Aspekt der teuflischen Willkür geweiht ist. Kurze Zeit später (7:49) setzt dann plötzlich der Mars-Rhythmus wieder ein, diesmal aber im Tempo deutlich verschärft und auf einem höheren Orgelpunkt im Bass. Diese Steigerung endet dann schließlich in einer Art Strudel, der ein Wirrwarr von montierten Klangereignissen in sich hinabzieht und den totalen Zusammenbruch bedeutet. Interessanterweise verliert diese finale Phase aber etwas von ihrer Bedrohlichkeit und Ernsthaftigkeit. Der Bass bewegt sich plötzlich wie zu einem staksigen Tanz (Totentanz?), man hört kurz ein Streichquartett spielen, die Klänge werden fragmentarischer und grotesker, an einer Stelle sogar zitieren King Crimson sich selbst mit zwei Takten aus dem Abschlusssong des Vorgängeralbums ("In the Court of the Crimson King") - kurz: Das Stück endet in einem surrealistischen Taumel, als ob die Wirklichkeit nun völlig außer Kraft gesetzt wäre.
    Vielleicht ist es dann besonders grotesk, dass kurz danach, angekündigt von einem plötzlich unschuldig autauchenden Durakkord, Greg Lake das leitthematische "Peace" als Abschluss des ganzen Albums singt: https://www.youtube.com/watch?v=PJXu2upOPcI
    Kann man das jetzt überhaupt noch ernst nehmen?


    Das Mittel der musikalischen Groteske, welches das Ende der teuflischen Marsmobilisierung durchzieht, hatten King Crimson zuvor kaum eingesetzt. (Wer Kubins Bild oben betrachtet, wird übrigens ebenfalls über grotesk wirkende Darstellungsmittel stolpern.) Die meisten ihrer Songs waren bis dato elegisch, balladesk, pathetisch oder auch aggressiv. Eine Ausnahme aber gibt es noch auf "In the wake of Poseidon", die dann sogar deutlich die ästhetische Ausrichtung des dritten Albums "Lizard" vorwegnimmt. Dazu möglicherweise später mehr.

  • Doppelpost, sorry.


    Ich höre nur gerade den Titeltrack "In the wake of Poseidon" des zweiten Albums und möchte was zwischenschalten: King Crimson haben auf der ersten Seite dieses Albums stilistisch nicht unbedingt Neuland gewonnen. Deswegen wird der "offizielle Fettdruck" davon auch nichts vorstellen. Das heißt aber wirklich nicht, dass die betreffende Musik irgendwie unbedeutend oder gar schlecht wäre. Der Titeltrack ist ein wunderbarer Mellotron-Exzess mit sehr schönen Melodielinien. Natürlich absolut empfehlenswert, da beißt die Katze kein Katzenfutter ab.


    https://www.youtube.com/watch?v=HO8n5gmk0nU

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    [B]Schon der neue Titel gibt Rätsel auf. Wer ihm nachspürt, befindet sich in einem unübersichtlichen Forschungsgebiet zwischen Bermudadreieck und Atlantis, zwischen spekulativ gedeuteter Schlangensymbolik und psychologisch fragwürdig aufgeladener Esoterik.


    Da schau her (s. Bild unten).
    Und wer hat die Filmmusik beigesteuert?
    Den Film gibt es bei Youtube


  • Hallo, einfach umwefend, welche verschollenen Fäden Du hier an die Oberfläche bringst. Bevor ich von den einschlagenden "Bildern" so KO bin, dass ich die ganze Angelegenheit lieber auf sich beruhen lasse, wage ich mich doch mal ganz unbedarft an den ersten Eindrucks des Blicks in das Schaufenster heran.


    Was bietet nun Holsts Musik auf, um das Wesen des Kriegsgottes in Tönen zu porträtieren? Es beginnt mit einem leisen Rhythmus: radada-dam-dam-dada-dam.


    Ein Herzschlag, der Unrast, ja Ungeduld verrät. Aber woher? Das wissen wir nicht genau. Es scheint unergründlich. Nur dass sich etwas unbestimmt dunkles, bedrohliches aus der Tiefe regt und langsam zu stärker wedenden Wellen aufbäumt. Da ist der Impuls des Aufbruchs (0:52), der, bevor er zur Blüte bersten kann, von der drohenden Wogen vereinnahmt wird. Statt eine liebliche Blume, nährt die verschwendete Kraft eine Richtung, ein Zielstreben. Die Unruhe der Herzschläge wird unterdessen zur unerbitterlichen Norm der Geschwindigkeit, den wachsenden Druck beherrschend. Die Befreiungsversuche des Aufbruchs verwandeln die Bedrohung erst zur blendend prächtigen, aber schrecklichen Schönheit, die dann schließlich jäh zusammenbricht/ der ein jähes Ende gemacht wird(?) (3:22). Der Aufbruch ist einverleibt, die Schönheit damit Vergangenheit.
    Zurück bleibt eine nackte, lauernde, heimtückische Bedrohung, durch ihre beiden "Monde" aufgeladen, die bald vehement und unbeherrschbar weiter drängt und wütet...


    Bei Crimsons Version scheint der "Aufbruch" nicht mitspielen zu wollen. Die Bedrohung, immer gegenwärtig, wird weder irgendwann schön, noch wirkt sie überwältigend stark; kein Anzeichen von Erhabenheit. Sie steigt nicht aus den Tiefen auf, sondern breitet sich dort, im Mark, aus. Sie mäandert vor sich hin und pirscht sich an den unerschütterlichen Takt (Herzschlag) heran, um ihn schließlich zu überwuchern und mit sich in die Tiefe zu ziehen, wo das Stück dann in allen möglichen Gegenteilen des Aufbruchs endet.


    Verdeutlicht Holst die Kraft des Er-/Einschlagens, das den Zuhörer der Stille überlässt, zeigt sich bei KC eine ungebündelte, aber mindestens gleichstark verheerende Kraft des Zerschlagens, die in der tiefen Stille nicht sichtbar ist/wäre.


    Musik ist eine "Zeitkunst". Wenn sie nicht mit Gesangstext korrespondiert, übermittelt sie in der Regel keinerlei begriffliche Information oder bildhafte Anschaulichkeit.


    Bei dem Stichwort "Zeitkunst" fällt mir noch ein, dass ich Deine an Orte orientierte Darstellung von 21.CSM sehr interessant fand. Ich sehe es eher als eine erzählte Geschichte, etwas wie ein Theaterstück. Nur beim Abschlusssong wird für mich die Bühne als Ort sichtbar: Die Darsteller versammeln sich hier in einer Schlussszene.
    Das Stück wird wieder und wieder (in Varianten) gespielt. Vielleicht ist ITWOP demnach eine Art 2. Runde?

  • Hallo, einfach umwefend, welche verschollenen Fäden Du hier an die Oberfläche bringst. Bevor ich von den einschlagenden "Bildern" so KO bin, dass ich die ganze Angelegenheit lieber auf sich beruhen lasse, wage ich mich doch mal ganz unbedarft an den ersten Eindrucks des Blicks in das Schaufenster heran.


    Sehr schön, freut mich!


    Ein Herzschlag, der Unrast, ja Ungeduld verrät. Aber woher? Das wissen wir nicht genau. Es scheint unergründlich. Nur dass sich etwas unbestimmt dunkles, bedrohliches aus der Tiefe regt und langsam zu stärker wedenden Wellen aufbäumt. Da ist der Impuls des Aufbruchs (0:52), der, bevor er zur Blüte bersten kann, von der drohenden Wogen vereinnahmt wird. Statt eine liebliche Blume, nährt die verschwendete Kraft eine Richtung, ein Zielstreben. Die Unruhe der Herzschläge wird unterdessen zur unerbitterlichen Norm der Geschwindigkeit, den wachsenden Druck beherrschend. Die Befreiungsversuche des Aufbruchs verwandeln die Bedrohung erst zur blendend prächtigen, aber schrecklichen Schönheit, die dann schließlich jäh zusammenbricht/ der ein jähes Ende gemacht wird(?) (3:22). Der Aufbruch ist einverleibt, die Schönheit damit Vergangenheit.


    Was ich auch so höre, ist der Aufbruch - oder ein Herannahen. Und auf jeden Fall auch eine gewisse Schönheit/Erhabenheit dessen, welches diese ungeheure und zerstörerische Dynamik entwickelt: eine "schreckliche[...] Schönheit", wie du es treffend ausdrückst. Allerdings höre ich sie in der Reprise (ab 4:24), also dort, wo der ursprüngliche Rhythmus wiedererscheint und sich die Monstrosität nach dem von dir erwähnten vorläufigen Zusammenbruch erneut erhebt, immer noch (z.B. an Stellen wie 5:55). Keine Frage: Die Macht und die Kräfte, die hier wirken, haben etwas äußerst Imposantes an sich. Dennoch gehört der Schlusspunkt - obwohl natürlich auch recht plakativ in Szene gesetzt - zu einem der gewalttätigsten, grauenerregendsten Finals, die ich in der klassischen Musik kenne. Das ist ja wirklich pure und vor allem offen-brutale Zerstörung.


    Bei Crimsons Version scheint der "Aufbruch" nicht mitspielen zu wollen. Die Bedrohung, immer gegenwärtig, wird weder irgendwann schön, noch wirkt sie überwältigend stark; kein Anzeichen von Erhabenheit. Sie steigt nicht aus den Tiefen auf, sondern breitet sich dort, im Mark, aus. Sie mäandert vor sich hin und pirscht sich an den unerschütterlichen Takt (Herzschlag) heran, um ihn schließlich zu überwuchern und mit sich in die Tiefe zu ziehen, wo das Stück dann in allen möglichen Gegenteilen des Aufbruchs endet.


    :topp:


    Crimsons "Mars" kann ich weniger greifen. Das Stück ist für mich weniger plastisch, dafür mehrdeutiger. Findest du nicht, dass auch die ersten Mellotron-Akkorde aus "den Tiefen" aufsteigen? Dass auch ab 1:15 so etwas wie die Ästhetik einer Erhabenheit wirkt?
    Aber auf jeden Fall höre ich das ebenfalls eher "mäandern", "überwuchern" und "in die Tiefe [...] ziehen". Was mich assoziativ dann eher zu Poseidons Gefilden (Bermudadreieck?) führt: Ich höre im letzten Teil wirklich einen "Strudel", als ob da etwas in einen Schlund gerissen wird.



    Bei dem Stichwort "Zeitkunst" fällt mir noch ein, dass ich Deine an Orte orientierte Darstellung von 21.CSM sehr interessant fand.


    Damit ich das richtig verstehe: Meinst du die Hinweise auf die westliche Gesellschaft?


    Einmal editiert, zuletzt von townman ()

  • Was ich auch so höre, ist der Aufbruch - oder ein Herannahen. Und auf jeden Fall auch eine gewisse Schönheit/Erhabenheit dessen, welches diese ungeheure und zerstörerische Dynamik entwickelt: eine "schreckliche[...] Schönheit", wie du es treffend ausdrückst.


    Um das etwas zu erläutern: Ich bin von einer Figur ausgegangen, die ich mir ausgedacht habe. Bestehend aus dem Takt/Herzschlag, dem Bedrohlichen und dem Aufbruch. "Drei" Dinge, die ich direkt aus dem Stück heraushöre (mangels musikalischer Ausbildung denke ich mir Bezeichnungen einfach aus). Die Dynamik entsteht für mich mit dem "Impuls" des Aufbruchs (bei 0:52), mit dem die "Schönheit" (Sinnbild: Impuls > Aufbruch=Schönheit) in's Spiel gebracht wird. Die Dynamik könnte auch als Kampf beschrieben werden. Sobald die Schönheit "aufflammt" (die Bedrohung "wogt" hingegen, der Takt schlägt), wird sie abgebremst/beschlagen und/oder begrenzt. Die Energie der Schönheit wird von der Bedrohung (und dem Takt) dabei aufgenommen. Die Bedrohung gewinnt dadurch Kontur, der Takt Druck (klare Richtung), = Präsens. Sie entwickelt sich selbst "scheinschön" (entwickelt eine Ordnung). Das "Sinnbild" der Schönheit als unabhängige, sich selbst genügende (pulsierende) Kraft ist verloren. Das meine ich mit "sie ist Vergangenheit" und mit "ist einverleibt".
    Ja, ich stimme Dir zu: Diese "Scheinschönheit" ist weiterhin da, aber eben nicht mehr die "Schönheit", die eigentlich nur einmal ganz kurz im Aufbruch auffgeflammt war und in ihren weiteren Entfaltungsversuchen nur das Gemisch aufheizte.


    Dennoch gehört der Schlusspunkt - obwohl natürlich auch recht plakativ in Szene gesetzt - zu einem der gewalttätigsten, grauenerregendsten Finals, die ich in der klassischen Musik kenne.


    Ich kenne die klassische Musik nicht. Von daher habe ich keinen Vergleich. Ich habe dieses Stück zum ersten mal gehört und das Ende in meiner Beschreibung (zunächst) offen gelassen. Das Finale erregte in mir eigentlich kein Grauen, sondern eine absolute Stille (die ja auch grauenhaft sein kann). Allerdings kann es auch sein, dass es im Moment einfach meine Vorstellungskraft übersteigt oder diese noch nicht bis an's Finale heran reicht. Aber allein Musik, die eine absolute Stille hinterlässt...Ich glaube, da muss sich noch was setzen. Vielleicht bin ich wirklich einfach erstmal erschlagen. Das einzige, was mir dazu noch einfällt ist, dass das Stück, so wie es sich mit dem Aufbruch entwickelt, mit einer geballten Entladung endet. Von Im-puls zu Impuls. Auf den Punkt (und hier sehe ich Ähnlichkeiten zum Strudel).
    Ich fand z.B. Deinen Ausdruck "Todesmaschiene" seltsam und konnte den nicht in irgendeine Beziehung setzen. Erst nachdem ich meinen ersten Eindruck geschrieben hatte, sind mir meine Adequate aufgefallen: heimtückisch, wahllos, gnadenlos. Vielleicht immernoch zu schön, weil sie nicht entpersonifiziert sind.


    Das ist ja wirklich pure und vor allem offen-brutale Zerstörung.


    Das ist diese Entladung, gewaltig und blind: die Verfremdung der sich nicht aufgehen (ge)lassenden (explodierenden) Blume. Vielleicht muss ich mich von meinem zu Anfang geschaffenen Bild lösen, um die "offen-brutale Zerstörung" besser wahr zu nehmen, die für mich so un(be)greifbar ist: so "schön" wie ein Atompilz.


    Crimsons "Mars" kann ich weniger greifen. Das Stück ist für mich weniger plastisch, dafür mehrdeutiger.


    Zitat

    Bei Crimsons Version scheint der "Aufbruch" nicht mitspielen zu wollen.


    Zitat

    ...wo das Stück dann in allen möglichen Gegenteilen des Aufbruchs endet.


    Ich habe hier auch einige Zeit über die Plastizität nachgedacht, aber vornehmlich in der "Triangle" des Titels (die für mich eine Plastizität ankündigt, die ich nicht sehe). Ich bin damit noch nicht durch. Aber es könnte sein, dass (entgegen des Titels) keine Plastizität "herauf beschworen" wird. Die Plastizitat ergiebt sich für mich im Dreieck von Takt-Schönheit-Bedrohung (meiner Figur). Einen eindeutigen anderen Aspekt, der Aufbruch/Schönheit ersetzt finde ich hier nicht. Und vielleicht ist das so beabsichtigt, wenn auch Du den Unterschied bemerkst.
    (Nach meiner Vorstellung bildet sich Plastizität im "Raum", es werden dazu 3 Größen/Koordinaten benötigt)


    Findest du nicht, dass auch die ersten Mellotron-Akkorde aus "den Tiefen" aufsteigen? Dass auch ab 1:15 so etwas wie die Ästhetik einer Erhabenheit wirkt?


    Auch das KC-Stück kenne ich nicht besonders gut. Ich müsste mir die Stellen nochmal (bei Tag und mehr Lautstärke) anhöhren. Mache ich ein anderes mal.


    Damit ich das richtig verstehe: Meinst du die Hinweise auf die westliche Gesellschaft?


    Nein. Ich meinte Deine Szenarien: Friedhof, Mondlandschaft und so. Ich hatte mir nie konkrete Orte vorgestellt. Nur eben die "Bühne für die Abschlussszene", was mir auch dann beim Lesen Deiner "Stories" erst so richtig bewusst wurde. Für mich ist der Aspekt einer (zeitlichen) Abfolge deutlicher als die Bindung an Örtlichkeiten.

  • Der Kriegsbringer und das Dreieck des Teufels - Holst und King Crimson zur guten Nacht, dazu noch ein wenig im Werk von Kubin gestöbert, von dem der Mars ja eher zum harmloseren Teil gehört: mehr Destruktion und Endzeit geht eigentlich nicht, die Albträume sind schon vorprogrammiert.
    Ja nee, aber sehr schöne Vertiefung von Euch beiden, vielen Dank dafür.

    Vielleicht ist es dann besonders grotesk, dass kurz danach, angekündigt von einem plötzlich unschuldig autauchenden Durakkord, Greg Lake das leitthematische "Peace" als Abschluss des ganzen Albums singt: https://www.youtube.com/watch?v=PJXu2upOPcI
    Kann man das jetzt überhaupt noch ernst nehmen?


    Unbedingt. Als Klammer des Albums, als Kontrapunkt zum überstandenen Epos von Tod & Vernichtung, als Wegweisung nach innen, in die Herzen der Menschen…oder so.
    Naja, ich hör am besten nochmal "Two Hearts", das beruhigt die Nerven wieder etwas…

  • Der Narr am Hofe des karminroten Königs oder „Still Writing After All These Years“ (1)


    Was haben Cher, Bucks Fizz, ELP, Keith Christmas, Michael Ball, PFM, Diana Ross, Celine Dion und King Crimson gemein?


    Nun, für diese Künstler schrieb Pete Sinfield Songs, die sogar Hits wurden – z. B. Cher´s „Heart of Stone“, oder „Land of Make Believe“ von Bucks Fizz, oder Celine Dion´s „Think Twice“.


    Wie kam Pete(r) Sinfield zur Musik? Geboren wurde er am 27.12.1943 in London. Er wuchs in einem wohlhabenden, unkonventionellen Haushalt auf. Seine Mutter war eine bisexuelle Unternehmerin. Peter genoss viele Freiheiten und wurde bereits früh mit Literatur vertraut. Mit 16 verließ er die Schule, jobbte und tingelte durch Europa.
    In den 60er Jahren kam er mit der Musik von Donovan in Kontakt. Dieser, sowie die Schriften Khalil Gibrans und Alan Watts inspirierten ihn, selbst zu schreiben. 1968 begann er zu komponieren, gründete die Band World Domination, zu der ein gewisser Ian McDonald stieß. Sie sollen eine Urversion von „In the Court of the Crimson King” gespielt haben. Kurz nach der Umbenennung in Infinity trennte man sich.


    Sinfield und McDonald stießen mit Sängerin Judy Dyble, vormals Fairport Convention, zu Giles, Giles & Fripp. Aus der Zeit stammt eine erste Version von „I Talk to the Wind“ mit Judy als Sängerin (veröffentlicht auf „The Young Person´s Guide to King Crimson“ 1976).


    Man heuerte Greg Lake als Sänger und Bassisten an (Judy war schon bei Trader Horn mit Jackie McAuley - Ex - Them) und gründete eine neue Band - King Crimson. Sinfield hatte die Idee für diesen Namen, der ein Synonym für Beelzebub, den zweithöchsten Höllenfürsten nach Satan, ist.


    Pete wurde zwar festes Bandmitglied, trat aber nie als Musiker ins Rampenlicht. Vielleicht nahm man sich Keith Reid von Procol Harum als Vorbild, als man Pete zum Lyriker und Lichttechniker bestimmte. Seine Lyrics sind integraler Bestandteil der Musik auf den ersten vier Alben. Sie sind nach Aussagen von Sinfield beeinflusst von Shakespeare, Shelley, Blake und Rilke. Also ein Romantiker am Hofe! Ich möchte die Texte jetzt nicht interpretieren. Das macht hier ja townman.


    Die frühen Genesis hatten sich ihn vielleicht zum Vorbild genommen, als sie von einer Karriere als Songtexter träumten. Wie wir wissen, kannten und bewunderten sie „In the Court of the Crimson King“


    Als Lake die Band verließ und Emerson, Lake und Palmer mitgründete, begann Sinfield auch für diese Paradekombo des Prog die Texte zu verfassen.


    Nach „Islands“ forderte Robert Fripp (der Crimson King?), dann seinen Narren auf, zu gehen. Über die Gründe will ich hier nicht spekulieren (s. Sinfield´s Aussage zu „Still“). Fripp ist gewiss ein Egozentriker, der den progressiven Weg seiner Band mit dem Input durch häufigen Personalwechsel verband. Sinfield war der letzte Kumpel aus den Anfangstagen.


    Wie sehr Pete Sinfield die Musik von King Crimson beeinflusste, zeigt sein einziges Soloalbum „Still“ von 1973, dass als „Stillusion“ als CD mit Bonustracks wiederveröffentlicht wurde.
    Effekte, Produktion, die Mixtur unterschiedlichster Musikstile, zusammengehalten von einem beinahe ätherischen Touch von Jazz und orchestralen Harmonien, erinnern stark an seine alte Band. Die Mitwirkenden lesen sich wie ein Who is Who der Progressive/Jazzrockszene: Lake, Wetton, Wallace, Tippett, Burrell, Mel Collins usw. Das Album krankt nur an dem dünnen (Sprech-)Gesang Sinfields. Lediglich das Duett mit Lake auf dem Titeltrack „Still“ kann gesanglich überzeugen. Für mich ist das Album dennoch ein glanzvolles Kleinod, das in der Ruhmeshalle des Hofes des karminroten Königs einen Ehrenplatz verdient hat.


    Pete sagt dazu: „I´d been annoyed about this falling out with Robert Fripp – it was basically him or me – and since Robert was going off and making more aggressive, black iron noises I wanted to do something more wood and sweety. So I did. In fact, I went too far perhaps, in some ways; probably too pastel and watercoloury but that´s what happens when you try and prove a point. And I did never done this before with the help of friends. But I very much wanted to say this is the part of King Crimson that was me.”(2)


    Nach dem geringen kommerziellen Erfolg seiner Solo-Platte, wandte sich Peter Sinfield dem Produzieren (z. B. Roxy Music´s Debut) und stillem Schreiben von Songs zu, übersetzte Texte Angelo Branduardis ins Englische und schrieb einen Lyrikband („Under the Sky“ 1974). 1979 war er der Erzähler auf Brian Eno´s Vertonung von Robert Sheckley´s „In the Land of Clear Colours“.


    Erfolg mit seinen Songs hatte er in den 80er und 90er Jahren - s. o. Er ist stolz auf den Cher-Hit „Heart of Stone“: „I´m very fond of Heart of Stone. There are a few songs that I would find very difficult to improve on although there are lots that I wince at - ´Oh god, the words are wrong!´- but Heart of Stone was a nice simple summary of 20 years in the rock´n´roll business which obviously appealed to Cher as well.”(3)


    Für seine Texte erhielt er dreimal den Ivor Novello Award for Best Song - Musically & Lyrically. Ivor Novello Award


    Hier ein Beispiel: https://www.youtube.com/watch?v=X9EC51RwMf4


    Still


    Still I wonder how it is to be a stream,
    From a dark well constant flowing,
    Winding seawards over ancient mossy wheels
    Yet feel no need of knowing?
    Still I wonder how it is to be a tree,
    Circled servant to the seasons,
    Only drink on sky and rake the winter wind
    And need no seal of reasons?


    Still I wonder why I wonder why I'm here
    All my words just the shaft of my flail
    As I race o'er this beautiful sphere
    Like a dog who his chasing his . . .
    Tailors and tinkers, princes and Incas,
    Sailors and sinkers, before me and like me . . .


    Still I wonder how it is to be a bird,
    Singing each dawns sweet effusions;
    Flying far away when all the world has stirred
    Yet seek no vain conclusions . . . . . .


    Still I wonder if I passed some time ago
    As a bird, or a stream, or a tree?
    To mount up high you first must sink down low
    Like the changeable tides of the
    Caesars and Pharoahs, prophets and heroes,
    Poets and hobos, before me and after me all the
    Painters and dancers, mountainside chancers,
    Merchants and gamblers, bankers and ramblers,
    Winners and losers, angels and boozers,
    Beatles and Bolans, raindrops and oceans,
    Kings, pawns and deacons, fainthearts and beacons,
    Caesars and Pharoahs . . . . . .


    Peter Sinfield hat all die Jahre nach dem Ausstieg bei King Crimson auf das Angebot einer Band / von Musikern gewartet, die ihm eine Rolle wie in seiner alten Kombo anbieten: „....or somebody would ask so I could see that they needed me to add the element they haven´t got. Oddly enough Crimson needed me to put a frame round it – someone who understands words and music but can´t quite do it themselves.”(4)


    Bis dahin - he is “still writing.”


    In der Tube findet ihr noch interessante Aussagen Peters zu seiner Zeit bei King Crimson. Empfehlenswert ist auch seine Seite: Peter Sinfield's Song Soup on Sea.


    1-4 zitiert nach Voiceprint News No1, spring 1994
    Weitere Quellen: Musikexpress Nr.2 1980, stereoplay Nr. 7 1999, wikipedia, song soup on sea