TotW [02.07.-08.07.12]: PETER GABRIEL - My Body Is A Cage


  • Dieser (unvollständigen...) Hörerfahrung möchte ich etwas entgegensetzen:


    Sicherlich gehört der Song zu den ernsten und wenig leicht verdaulichen. Mit Depression hat er aber m.E. herzlich wenig zu tun.
    Textlich wie auch musikalisch wird deutlich, dass da jemand leidet. Und dieses Leiden manifestiert sich zugegebenermaßen zunächst einmal in einer Art Kreisen - gedanklich sieht man das an den vielen Wiederholungen von Textzeilen, musikalisch am Zirkulieren in rhythmisch schwerfällig gestalteten akkordischen Schleifen. Hier, im ersten Stadium des Songs bis zu 2:30, könnte man wirklich das Gefühl haben, nicht wegzukommen, den resignativen Stimmen des Geistes und der trägen Schwere seiner Physis ausgeliefert zu sein. Im Text gibt es darüber hinaus noch Hinweise darauf, dass der Sprecher nicht nur an sich selbst, sondern auch an seiner Zeit / seinen Zeitgenossen leidet - und es nicht schafft, sich als Persönlichkeit innerhalb dieser Komponenten in eine ausgeglichene Balance zu bringen.


    Später wird dann jedoch vor allem in der Musik deutlich, dass sich etwas extrem auflädt, dass da eine dramatische Auflehnung gegen den ursprünglichen Zustand stattfindet: Ab 2:30 erhebt sich das Orchester mit großer Mächtigkeit, nach und nach konterkarieren einzelne Streicherstimmen die bisherige Bewegungsunfähigkeit, setzen gegen die dumpfen und erschreckend fatalistischen Akkordstrukturen motivische Ausbrüche, schnellen aus der dunklen Tiefe in die Höhe, gewinnen hörbar auch an rhythmischer Dynamik und scheinen fast schon eine Befreiung verwirklicht zu haben...


    Dann bei 3:30 aber ein Moment tiefer Frustration: Die Soloklarinette macht deutlich (indem sie melodisch erneut das Moment des verharrenden Kreisens um einen tonalen Punkt aufgreift), dass Befreiung nicht stattgefunden hat. Kurz darauf schreit Gabriel diese Frustration als große, furchtbare Klage heraus - im Gegensatz zum Anfang, als die Klage noch schwach und resignativ klang. Depression ist das für meine Begriffe nicht, eher seelischer Kampf und Dramatik.


    Aber damit ist es ja nicht zu Ende.
    Bei 4:20 glaubt man fast, nun würde die Stimme und der Song wirklich in depressiver Resignation versinken. Dies ist aber nur ein scheinbarer "Rückfall". Wer genau hinhört, wittert schon nach wenigen Sekunden, dass das Ganze zunächst fast unmerklich in ein anderes Licht getaucht wird...
    Es folgt die große Wendung, die mutzelkönig womöglich gar nicht kennt und mit welcher der Song m.E. in der Gesamtschau das repräsentiert und bewirkt, was Musik / Kunst so unglaublich gut kann: Trost geben, Gegenwelten und Räume schaffen, welche die vordergründig unveränderbaren Zwänge der Realität plötzlich aus einer unerwarteten Perspektive heraus als veränderbar erscheinen lassen.
    Die Befreiung vom Anfangszustand wird zwar nicht als Faktum - und damit als unglaubwürdig konstruiertes "Happy End" - dargestellt, aber als Möglichkeit, als Vision projiziert: "Set my spirit free / Set my body free" heißt es nun - und es geht von dieser Vision, von dieser Hoffnung, eine Kraft aus, die eine Versöhnung mit sich selbst und dem geschilderten Leiden in Sichtweite rücken lässt.
    Die Musik beginnt hier in höheren Regionen zu schweben, die Last des Anfangs ist nun gar nicht mehr zu spüren, man hört Engelsstimmen (was mir ein bisschen zu dicke vorkommt...:augenrollen:), da ist überall Licht und Zuversicht...


    Das Ganze ist für mich eine Art inneres Drama. Da gibt es emotionale und gedankliche Facetten, Entwicklungen, Brüche und eine Wendung ins Unerwartete - Monotonie kann ich da hinsichtlich der Gesamtstruktur nicht erkennen.
    Zudem ist es letztlich das Gegenteil von Resignation, da der Song das menschliche Leiden hier hoffnungsvoll in ein anderes Licht taucht.

  • Dieser (unvollständigen...) Hörerfahrung möchte ich etwas entgegensetzen:


    Zumindest ist meine Hörerfahrung jetzt nicht mehr unvollständig:).


    Ich kann auch viele Dinge, die du analysiert hast, nachvollziehen.
    Dennoch mag ich diesen Song nicht HÖREN.
    Mein Zugang zu Musik ist grundsätzlich positiv (ich höre sie GERNE / ich habe LUST, sie zu hören), und ich empfinde dieses Lied als anstrengend und negativ. Das passt für mich nicht zusammen. Da sträubt sich/wehrt sich etwas in mir.


    Dieses Stück mag thematisch/textlich interessant sein. Es ist aber für mich nicht HÖRENSWERT. Letztlich bin ich aber nur an Musik interessiert, die ich mir GUT anhören kann.
    Ich habe leider für derartige Musik auch keine Verwendung. Sie eignet sich nicht zum Tanzen, Mitsummen, Grooven, Luftgitarrespielen. Sie spendet mir auch keinen Trost. Im Gegenteil: Sie deprimiert mich, so dass ich anschließend erst einmal eine gute Portion DUR brauche. Und selbst in einer persönlichen Krisensituation bräuchte ich wohl nicht diese redundante, selbstreflektierende "Krisenmusik", sondern etwas Leichtes und Aufmunterndes.

    But we never leave the past behind, we just accumulate...

    "Von jedem Tag will ich was haben

    Was ich nicht vergesse

    Ein Lachen, ein Sieg, eine Träne

    Ein Schlag in die Fresse"

  • Zumindest ist meine Hörerfahrung jetzt nicht mehr unvollständig:).


    Ich kann auch viele Dinge, die du analysiert hast, nachvollziehen.
    Dennoch mag ich diesen Song nicht HÖREN.
    Mein Zugang zu Musik ist grundsätzlich positiv (ich höre sie GERNE / ich habe LUST, sie zu hören), und ich empfinde dieses Lied als anstrengend und negativ. Das passt für mich nicht zusammen. Da sträubt sich/wehrt sich etwas in mir.


    Dieses Stück mag thematisch/textlich interessant sein. Es ist aber für mich nicht HÖRENSWERT. Letztlich bin ich aber nur an Musik interessiert, die ich mir GUT anhören kann.
    Ich habe leider für derartige Musik auch keine Verwendung. Sie eignet sich nicht zum Tanzen, Mitsummen, Grooven, Luftgitarrespielen. Sie spendet mir auch keinen Trost. Im Gegenteil: Sie deprimiert mich, so dass ich anschließend erst einmal eine gute Portion DUR brauche. Und selbst in einer persönlichen Krisensituation bräuchte ich wohl nicht diese redundante, selbstreflektierende "Krisenmusik", sondern etwas Leichtes und Aufmunterndes.


    Anmerkung: man muß dazu wissen, dass mutzelkönig nebenbei auch Mod im Forum der Kastelruther Spatzen ist.

  • "Scratch My Back" gehört nicht gerade zu meinen häufig aufgelegten Platten. Darauf ist "My Body Is A Cage", (welches ich dem Original jederzeit vorziehen würde), eher eins der unbequemen Stücke, hat’s also doppelt schwer, ernsthaft gewürdigt zu werden.
    Habe mich in den Wochen nach der Veröffentlichung neugierig und intensivst durch das ganze Werk gehört. Hinterher war ich meistens matter als vorher, dunkel und schwer blieb der überwiegende Eindruck, als wäre ein Energie-Vampir am Werke. Von daher kann ich Mutzelkönigs Rezeption verstehen, ohne daß bei mir ähnliche Abneigung vorherrscht, dafür bleibt mir das Stück emotional zu fern, wie mich überhaupt die Orchestrierung des gesamten Albums selten überzeugt - ich höre Kunst, empfinde aber wenig Berührung.
    So hielt ich mich gelegentlich an die drei, wie ich finde, durchgehend gelungenen Stücke (Bowie, Simon, Talking Heads), und hätte das Album wohl vorerst nicht 'rausgezogen – jedenfalls sicher nicht mehr diesen Sommer.

    Dies wäre zum Thema alles nicht der Rede wert. Nun lese ich aber die Beiträge der beiden Versehrten und kurz darauf die intensive Auseinandersetzung des Stadtmannes (wer sich so reinkniet, muß wohl Musiker sein), die mich nachgerade zwingt, das Ding noch mal anzuhören, und gewinne einen neuen Zugang, denn die Entwicklung, die das Stück nimmt, ist sehr anschaulich beschrieben.
    Faszinierend finde ich vor allem, was Musik immer wieder in der Lage ist, für Reflexionen auszulösen. Wenn sie dann noch so illustriert dargestellt werden, ist das überaus bereichernd.
    Außerdem mußte ich beim Wiederhören feststellen: Gabriels Stimme, mit deren Brüchigkeit auf "Scratch" ich immer wieder mal hadere, hat nach wie vor ihre Momente, und einer ist sicher hier im Mittelteil, wo er sich (um 4.00) zu dem für ihn so typischen "Schrei" erhebt.

    "Scratch" wird wohl nicht meine Gabriel-Platte, und "My Body Is A Cage" berührt mich persönlich nach wie vor nicht, aber ich höre es jetzt anders und hätte wohl vor kurzem noch keine 10 Punkte gegeben. Oder sagen wir, im Überschwang des Augenblicks, 11.

    P.S.

    (...) was Musik / Kunst so unglaublich gut kann: Trost geben, Gegenwelten und Räume schaffen, welche die vordergründig unveränderbaren Zwänge der Realität plötzlich aus einer unerwarteten Perspektive heraus als veränderbar erscheinen lassen.



    Könnte man mal irgendwo hinmeißeln.

  • Freude, Schönheit, Wut, Aggression, Witz, Sarkasmus, Trauer, Melancholie - ja, ich mag durchaus verschiedene musikalische Facetten. Aber auf Depression kann ich verzichten.[/B]


    Es ist immer die Frage, mit welchem Ansatz man sich so etwas anhört. Für mich ist es so, dass ich mit dem Thema Depressionen einige Erfahrungen gemacht habe in den letzten zehn Jahren. Umso mehr interessiere ich mich auch für Stücke, die dieses Thema aufgreifen oder bei denen man auch nur atmosphärisch irgendwie das Gefühl hat, dass es damit zu tun haben könnte. Es ist dann so, dass es mich beeindruckt, wenn Musik ein so heftiges Gefühl umsetzen kann. Wenn man sich da ein bisschen reindenken kann und will, dann ist genau das für mich wirkliche Kunst. Musik ist halt entstanden, weil Menschen Gefühle ausdrücken wollten. Da passt natürlich alles rein, was Mutzelkönig aufgezählt hat. Aber eben auch andere Dinge.


    Ich kann aber gut nachvollziehen, wenn man sich mit so etwas nicht beschäftigen möchte, weil es einen sonst runterzieht. Mich persönlich interessiert es im musikalischen Zusammenhang mehr als beispielsweise Freude und Schönheit. Vielleicht weil ich es schwieriger finde, so etwas auszudrücken oder vielleicht auch deshalb, weil man so etwas seltener hört. Gute Laune-Musik kriegt man im Radio einfach häufiger um die Ohren geknallt. Sogar so viel, dass es einen schon fast wieder depressiv machen kann! ;)

  • Nee, nichts für olle Herma. Und wegen des beklemmenden Gefühls, das fast schon klaustrophobisch wirkt und mir nichts gibt nur 4 Punkte.

    Niveau sieht nur von unten aus wie Arroganz.

  • Wahnsinn, wie intensiv gerade dieser Song seine Wirkung bei euch entfaltet. Ich finde ihn zwar gut gemacht und lasse mich auch von der Ausdrucksgewalt faszinieren, aber so ganz nah kommt er an mich nicht ran. Ich schrob beim damaligen "Sctrach der Woche" schon mal, dass er mir fast schon zu plakativ daherkommt. Getroffen fühle ich mich nicht zuletzt deswegen nicht so sehr. Da gibt's auf dem "Scratch"-Album Songs, die mich viel mehr (be)treffen und dann auch wirklich richtig unter die Haut gehen.


    Gute Laune-Musik kriegt man im Radio einfach häufiger um die Ohren geknallt. Sogar so viel, dass es einen schon fast wieder depressiv machen kann! ;)


    Da sagst du was. Auch wenn ich nun nicht genau weiß, welche Musik genau das bei dir auslöst, ich kann's mir vom Prinzip her gut vorstellen.
    Bei mir ist's eher die gegenteilige Reaktion: Bei so 'ner aufgesetzten "Wir-sind-so-cool-und-ausgelassen-und-haben-alle-gute-Laune"-Musik werde ich recht schnell aggressiv und gereizt. Kommt schon mal vor, dass ich dann unkontrolliert um mich schlage.

  • Erst wollte ich 14 Punkte geben, weil es noch stärkere Songs auf SmB gibt. Aber da man das dem Song nicht anlasten kann, sind's dann doch in voller Überzeugung 15.


    Übrigens gefällt mir sehr, was Ihr - unabhängig von der Punktzahl - zu dem Song geschrieben habt.

    I'll never find a better time to be alive than now.

    Peter Hammill (on "X my Heart")

  • Zitat

    Nun lese ich aber die Beiträge der beiden Versehrten und kurz darauf die intensive Auseinandersetzung des Stadtmannes


    Äh, ja, ver(s)ehrter littlewood, dürfen wir Dich dann ab nun - for more reasons -
    Kleinholz nennen? :D:mrgreen::)