hoher Status, mieser Gesang

  • Als Fan würde es mich jetzt auch überhaupt nicht stören wenn man hier noch Phil Collins anführen würde, denn geht man rein nach der Gesangstechnik kommt er endeutig selber nicht an Naturtalente wie zum Beispiel Paul Carrack heran.


    Kann natürlich sein, da kenne ich von Carrack viel zu wenig, um es zu beurteilen. Aber Phil ist nun wirklich einer der richtig guten Sänger. Wenn da live was nicht so prickelnd ist, dann sind's eigentlich nur die Höhen - er ging da wirklich oft an seine natürliche Grenze.



    Ein weiterer Gedanke: Und wenn ein Sänger live hier und da mal etwas unsauber singt, dann muss das noch lange kein Indiz für mangelnde gesangliche/musikalische Fähigkeiten sein. Vielleicht war er an dem betreffenden Abend einfach nur erkältet. Oder der Bühnensound war so scheiße, dass er sich selbst nur sehr schlecht hören konnte. Oder er hüpfte wie Gabriel während des Singens in einem großen durchsichtigen Ball hin und her, was der Intonation auch nicht unbedingt förderlich ist. Oder dies oder das...


    Anderson hat die geschilderten Probleme nicht nur auf "Yessongs". Auf "Yesshows" ist's prinzipiell dasselbe. Und ich habe mir heute z.B. "Magnification" gegeben - auch da fällt's immer mal wieder auf, dass er keine gut entwickelte Singstimme hat. (Trotzdem gefällt mir das Album wirklich prima.)



    Man kann Andersons Stimme gut finden oder nicht. Aber du gehst hier so weit, ihn als einen gesanglichen Nicht(s)könner abzustempeln. Findest du das nicht ein wenig anmaßend und überzogen? Hast du wirklich ein ausreichend gutes Gehör bzw. das Fachwissen eines Experten, um bei Anderson "keine gute Atemstütze" oder "eine mangelnde Tonvorstellung" zu diagnostizieren?


    Das kann ich dir nicht beantworten. Ich gehe von dem aus, was ich höre, und bringe eben die musikalischen Erfahrungswerte ein, die ich gesammelt habe. Was daran anmaßend sein könnte, müsstest du mir schon genauer erklären.
    "Nichtskönner" habe ich ja nun auch weder gesagt noch gemeint. Ich meine, dass Anderson eben ein Gesangslaie ist, der die Chance hatte, eine Band von Weltformat mitzuprägen. So singen wie er im Sinne der gesanglichen "Leistung" könnten sehr viele Amateure. Allerdings hat Anderson den entscheidenden Vorteil, dass seine Stimme einen sehr hohen Wiedererkennungswert hat und offensichtlich auch genug Menschen berührt. Und er hat eben auch noch andere Fähigkeiten vorzuweisen als nur die rein gesangsbezogenen.


    Mmmmhhh...weiß nicht, ob der Vergleich wirklich so abwegig ist. Ich habe zwar keine Ahnung von Gemälden...aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht das handwerkliche Können ist, welches den Stellenwert von van Gogh oder Picasso ausmacht. Es gibt sicher unzählige "Handwerker", die alle möglichen Werke berühmter Künstler ohne Probleme reproduzieren können, aber keinerlei künstlerischen Status besitzen, weil sie eben nur "Handwerker" und keine Künstler sind.


    Ich würde es so sehen: Die Beherrschung des Handwerks ist notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Künstler große Kunst erschaffen kann. (Da gibt es allerdings wohl auch Ausnahmen, dass Leute, die nix im Sinne eines "Kunsthandwerks" können, aber gute Ideen in einer passenden Art umsetzen, Großes vollbringen.) Es gibt aber viele, die gute Handwerker sind und trotzdem keine großen Künstler werden, weil ihnen die Genialität / Inspiration / Kreativität usw. fehlt.
    War das nicht bei Picasso so, dass er schon im Kindesalter fantastisch malen konnte?


    Wenn ich schon das Wort "Kastratenstimme" im Zusammenhang mit Jon Anderson höre, weiß ich sofort, welche "Experten" sich da zu Wort melden.


    Ich habe extra "Pseudo-Kastratenstimme" geschrieben, weil mir die barocke Praxis des Kastratentums bekannt ist. Bei Anderson sollte das nur heißen: Für einen Mann hat er eine sehr hohe Stimmlage. U.a. diese Tatsache ist m.E. ein Grund dafür, dass er mit seinen mäßigen Fähigkeiten so verhältnismäßig berühmt werden konnte.


    Mich würde jetzt auch mal ein konkretes Beispiel interessieren. Mir fällt spontan nur "White Mountain" ein. Da liegt er an zwei Stellen wirklich daneben. Ansonsten hab ich nie das Gefühl gehabt, dass Peter schief singt. Auch nicht bei "Seven Stones". Wenn sie damals im Studio mehr Zeit gehabt hätten, wäre durch mehrere Takes sicher hier und da noch was optimiert werden können. Aber dass da wirklich was "mies" klingt? :gruebel: Kann ich nicht nachvollziehen.


    Vielleicht ist es auch so, dass mich Unsauberkeiten und ungewollte Ungeschliffenheiten schneller stören als dich, dass dein Gehör dafür einfach eine größere Toleranz hat. Bei "Seven stones" z.B. sind es die hohen Töne, die er mit Kopfstimme singt - das ist sängerisch mit ganz viel Ach und Krach und mehr schlecht als recht bewältigt.
    Oder lies dir noch mal den SdW zu "The musical box" durch. Da habe ich auch irgendwo konkrete Stellen gepostet. Zuspruch habe ich allerdings auch damals nicht bekommen.

  • Ich würde es so sehen: Die Beherrschung des Handwerks ist notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Künstler große Kunst erschaffen kann.


    Natürlich ist ein gewisses Maß notwendig...aber ob Picasso und Van Gogh auf ihrem Gebiet das Handwerk besser beherrschten als Gabriel und Anderson dies tun? :ka:
    Die Beatles waren doch, soweit ich micht entsinne, musikalische Analphabeten, oder? Meiner Meinung nach kann das künstlerische Potential davon ungemein profitieren, wenn eine weitgehend eigenständige musikalische Entwicklung stattfindet. Eine zu intensive musikalische Bildung kann kreative Ideen durchaus auch im Keim ersticken.

  • Wie ich in Chapter und Verse gelesen habe, hatte doch gerade Peters Stimme die Aufmerksamkeit von Jonathan King erregt. Seite 44, Zitat: "Die Qualität von Peters Stimme haute mich total aus den Socken".
    Dem ist nichts hinzuzufügen.


    Trotzdem auch interessant, die Sache mal unter die Lupe zu nehmen.

  • Oder wie Picasso es formulierte:
    „Als ich so alt war wie diese Kinder, da konnte ich zeichnen wie Raffael. Es hat viele Jahre gedauert, bis ich wieder zeichnen konnte wie diese Kinder.“


    Sehr schön! Darf ich dazu Hammill zitieren:
    "It takes a lifetime to unlearn all that you know
    to return the things you borrowed for a day."
    (VdGG, Lifetime)



    Vielleicht habe ich die Beispiele aber tatsächlich etwas unglücklich gewählt :)
    Mir ging es ja nur darum zu zeigen, daß das, was wir als qualitativ hochwertigen Gesang (gilt auch für vieles andere) ansehen, immer nur für einen bestimmten Ort, eine Zeit oder Kulturkreis gelten kann, etwas normatives ist.


    Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, Caruso würde heutzutage in der Oper auch keinen Blumentopf mehr gewinnen. Im 12. Jahrhundert hätte man ihn bestimmt auch aus der Kirche gejagt und zu Römerzeiten an den Baum gefesselt :)
    Aber da wo er war und wirkte war er gewissermaßen die Referenz.
    Und das ist das nächste Stichwort: worauf bezieht sich unsere Beurteilung dessen, was wir als perfekt oder schön empfinden? Was messen wir womit?


    Um auf Anderson zu kommen, der ja gewissermaßen unser Paradigma stellt: vielleicht hat er keine ausgeformte Sangesstimme, aber da wo sie ist gehört sie hin, und was mich betrifft: ich finde sie wunderschön. Mehr noch: ohne Anderson hätte Yes mich nicht weiter interessiert, man denke an die scheußliche Trevor-Horn-Zeit: alles total plastisch, klinisch, tot.
    Jeden anderen der Musiker hätte man wahrscheinlich austauschen können, ohne daß ich es merke. Anderson nicht.


    Sagen wir, Anderson ist vielleicht jene "Verunreinigung", die Yes zu dem Besonderen macht, das sie sind, wie irgendein kleines Astloch in einer Stradivari womöglich genau für die kleine Unstimmigkeit sorgt, die sie einzigartig macht gegenüber gewöhnlicher Fließbandware.
    (war wohl auch wieder ein blödes Bespiel, aber eben nur ein Beispiel, ihr versteht schon.)


    Andersrum ist ein gute Frage, weshalb Supergroups so schlecht funktionieren wie das unsägliche GTR (erinnert sich wer?) z.b. oder Asia.


    Das Thema gefällt mir sehr gut und ich habe mal etwas nachgesonnen: für mich persönlich sind es immer die herausragenden (und damit abweichenden) Stimmen gewesen, die (Rock-)musik für mich eingenommen haben. Also gerade und unbedingt der Gesang. Vielleicht komm ich zu sehr vom Singer/Songwriter-Gedanken her, wo es ja auch darum geht, eine Geschichte zu erzählen wie man es nur selbst tun kann.


    Oben wurde Lady Gaga genannt: die kann wirklich singen, mit allem pipapo, aber wer ist in der Lage, sie unter 100 anderen zu erkennen? Gegenbeispiel: David Bowie, an seiner ausgebildeten Stimme wird keiner zweifeln, aber er ist dennoch unverwechselbar.


    Und Gabriel: ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Freund, es ging um "Washing of the Water", wo ihm irgendwann die Stimme wegbricht. Blickt man aber nun auf die aufwendige Produktion eines solchen Albums und anerkennt die Tatsache, daß man zur Not auch 800 mal die selbe Spur singen kann, bis es eben paßt: das ist der dritte mir wichtige Punkt: nämlich daß ich bei einem Produkt eines Künstlers immer zunächst mal davon ausgehe, daß alles genauso ist, wie es sein soll. Damit erteile ich der Beliebigkeit keine Absolution!



    zum Weiterlesen: Die Meistersinger von Nürnberg (Wagner), Josephine, die Sängerin (Kafka).

    the wind is blowing harder now

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  • Und Gabriel: ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Freund, es ging um "Washing of the Water", wo ihm irgendwann die Stimme wegbricht. Blickt man aber nun auf die aufwendige Produktion eines solchen Albums und anerkennt die Tatsache, daß man zur Not auch 800 mal die selbe Spur singen kann, bis es eben paßt: das ist der dritte mir wichtige Punkt: nämlich daß ich bei einem Produkt eines Künstlers immer zunächst mal davon ausgehe, daß alles genauso ist, wie es sein soll. Damit erteile ich der Beliebigkeit keine Absolution!


    Das denke ich im Prinzip auch weswegen ich ja auch so schockiert bin über den wirklich schlimmen Schnitzer bei der deutschen Version von Biko....

  • Gerade angehört, das ist wirklich ein Schnitzer! Bei Washing of the Water ist es aber keiner, sondern muß so gewollt sein. Man muß ja auch bedenken, daß ein Sänger der einzige "Schaupieler" der Band ist, der Rollen spielen und eine Geschichte erzählen muß und wird: deshalb: "traut keinem Sänger!" (von wem war das doch gleich?)

    the wind is blowing harder now

  • Da wäre zunächst und natürlichst Phil Collins seit (allerspätestens) 1990. Was er sich da Gesangsmäßig leistete ist für ein gesundes Ohr kaum zu ertragen. Von der Qualität der Stücke als solche gar nicht zu sprechen. Für mich immer wieder ein Topkandidat für die Wetterleiter des Monats.


    Ähnlich unerträglich empfinde ich den Gesang von Paul Carrack. Kann bis heute nicht begreifen, was die Leute an dieser Schmalzstimme finden. Na ja, vielleicht hab ich mir einfach nur die entsprechenden Hirnfunktionen totgesoffen.


    Auch ein ganz heißes Eisen im Feuer meiner Missgunst ist die Sängerin von "Wir sind Helden". Wenn sie irgendwann mal Vokale richtig singt und dabei den Mund auseinander bewegt könnte man es sich vielleicht sogar anhören, aber bis dahin eine wandelnde Werbung für die Mute- oder Skiptaste.


    Und zum Schluss wäre dann noch Herbert "hat nuschelt" Grönemeyer. Bis Mario Barth ganze Stadien füllte war mir unklar wie Herbert das schafft. Seither weiß ich, es muss eine Art pervertiertes Mitleid sein.

    Niveau sieht nur von unten aus wie Arroganz.

  • Naja, Grönemeyer finde ich persönlich auch nicht gut. Wenn dein Alkoholkonsum allerdings wirklich so hoch ist wie du hier immer sagst können die Ohren ja auch nicht mehr so gesund sein wenn schon Teile des Gehirns abgestorben sind. Insofern verstehe ich natürlich deinen stagnierenden Musikgeschmack :)


  • Und zum Schluss wäre dann noch Herbert "hat nuschelt" Grönemeyer. Bis Mario Barth ganze Stadien füllte war mir unklar wie Herbert das schafft. Seither weiß ich, es muss eine Art pervertiertes Mitleid sein.


    Und bei einem Treffen der AN (Anonymen Nuschlern) muss Herbie dann Phillipe Poisel kennengelernt und zur Seite genommen haben: "Phillipe, wir verstehen uns! Weißt du, ich bring dich gaaaaanz groß raus".


    Dessen Gesangsqualitäten - insbesondere eine deutliche Artikulation - kann ich bis jetzt auch nicht ermessen.

    Can you tell me where my country lies
    said the unifaun to her true love's eyes