The „Queen of Maybe“ oder auch „Die Gewissheit des Ungewissen“
Vorweg: Mit dem Text komme ich kaum irgendwie klar. Einen möglichen Ansatzpunkt für einen besseren Zugang habe ich für mich hier gefunden:
„Absicht war, sichtbar zu machen, inwieweit Teile eines älteren Großbritanniens absorbiert wurden, um in einer modernen Welt zu neuem Leben zu erwachen.“ (Chapter & Verse, S.144)
…spricht Peter Gabriel und bezieht sich danach konkret auf den doch etwas problematisch zusammengeschusterten Song „The battle of Epping forest“.
Mindestens genauso relevant erscheint mir das Zitat jedoch für „Dancing with the moonlit knight“. Nicht umsonst erschien Gabriel bei der „Selling(…)“-Tour ja auch als Britannia auf der Bühne (zumindest im Shepperton-Konzert allerdings entledigte er sich des Helms nach dem Vers „Digesting England by the pound“) und bezeichnet seine dargestellte Figur als „Voice of Britain before the ‚Daily Express‘“. Tradition und Moderne sind hier schon (antithetisch?) ins Bewusstsein gerückt.
„Can you tell me where my country lies?“
Nicht nur, dass der “unifaun” auf seine Frage keine eindeutige Antwort bekommt – es scheint fast so, als würde das gesamte Stück darauf hinwirken, dass der Rezipient keinen festen Boden unter die Füße bekommen soll. Natürlich werden bruchstückhafte Zusammenhänge geschaffen, die nahelegen, dass (englische) Traditionen absterben und verhökert werden und dass die Gegenwart geprägt ist von Schacherei, Scheinhaftigkeit und (blindem?) Schicksal / Glück. Und eines scheint auch klar zu sein: dass die Macht nicht in der Hand der „Citizens of Hope & Glory“ ist, sondern Gesetzmäßigkeiten unterliegt, die nicht (be?)greifbar sind. Die Menschen können eigentlich nur eins tun: Mit den Mächten mittanzen, ihnen nachfolgen, weitermachen: „join the dance / Follow on!“
Trotzdem: Der Text ist keine einseitige Abrechnung mit, Warnung vor oder Protest gegen die Moderne. Er ist perspektivisch so mehrdeutig, gedanklich so fragmentarisch, so hybrid, dass hier sicherlich kein Nationalpessimismus als „intendierte Botschaft“ verstanden werden soll.
Bislang verstehe ich ihn eher als eine poetische Verdichtung bestimmter neuralgischer Punkte zur Thematik und nicht als parteiische Bewertung.
„O meine Zeit! So namenlos zerrissen,
So ohne Stern, so daseinsarm im Wissen
Wie du, will keine, keine mir erscheinen.
Noch hob ihr Haupt so hoch niemals die Sphinx!
Du aber siehst am Wege rechts und links
Furchtlos vor Qual des Wahnsinns Abgrund weinen!“
(W. Klemm: aus „Meine Zeit“ [1920]
Die Auseinandersetzung mit Tradition und Moderne findet wohl immer dann besonders intensiv statt, wenn Menschen ihre eigene Zeit als Epoche des Umbruchs begreifen. Die Gegenwart wird dann zur Erfahrung von Unsicherheit, Orientierungslosigkeit, Chaos – und der eigenen Unfähigkeit zur distanzierten Deutung der eigenen Zeit.
Was m.E. sehr passend ist: Die Sprache und die Art der textlichen Darstellung wird dieser Erfahrung gerecht, da kein einheitliches kausales Prinzip und kein kausaler Gestaltungswille sichtbar wird. (Oder übersehe ich da etwas?)
„Dancing(…)“ weist diese typischen Merkmale eines solchen Zeitenumbruchs auf – wie sie Klemm auch so ähnlich für die Jahrhundertwende um 1900 empfunden haben mag (und dies allerdings ohne Gabriels entspanntere Art der ironischen Brechung und Mehrdeutigkeit zum Ausdruck brachte).
Mein Empfinden ist allerdings auch, dass der Umbruch, der in „Dancing…“ anklingt, weder bewältigt noch abgeschlossen ist. Ich sehe eher die anklingenden Prozesse mittlerweile deutlich beschleunigt und von immer größerer Wucht und Tragweite. Die Supermarkt- und Börsenorgien, die einen ganz zentralen Vorstellungsbereich des Textes bilden, sind sicherlich kein sonderlich englisches Phänomen und auch kein europäisches – diese Art der Tänze ums goldene Kalb sind international und zunehmend ungebremst.
Trotzdem: Welche (erhaltenswerten?) Traditionen klingen denn im Text an? Da vermisse ich für mich verstehbare Bezüge.
Und die Musik?
Ich halte den Anfang des Songs mit für das Schönste, was Genesis je geschaffen haben. So ein bisschen hat man ja in den ersten Sekunden den Eindruck, dass hier eine Anspielung auf musikalische Vergangenheit vorhanden wäre: Als ob ein Spielmann des ausgehenden Mittelalters ein spartanisch begleitetes Lied zum Besten gäbe.
Wie die Musik hier melodisch und akkordisch gestaltet ist und dass Gabriel seine erste Zeile – und eben diese Zeile – unbegleitet als Opener für das gesamte Album singt, finde ich unglaublich innig und ganz besonders.
Sowieso: Die musikalischen Motive und Ideen des Songs sind erste Sahne. Da gibt’s, finde ich, keinen schwachen Part, kein substanzloses Geplänkel (ich zähle den Schlusspart hier bewusst dazu) – und dazu tragen auch alle 5 Musiker sehr ausgewogen bei.
Meine bleibenden Irritationen betreffen jetzt vor allem das Verhältnis von Text und Musik: Spiegelt sich in der Musik die (von mir angenommene) Mehrdeutigkeit des Textes wider? Der Aufbau des Songs ist zwar auch bunt, kontrastierend, manchmal vielleicht ein wenig überbordend-chaotisch, aber trotzdem gibt es auch mehrere Elemente, die den Laden deutlich zusammenhalten sollen (Steves berühmtes Gitarrenmotiv, das refrainartige „The captain leads his dance(…) Follow on“).
Ich kann hier nicht weniger als 14 Punkte vergeben – dafür finde ich das Ganze musikalisch zu mitreißend. Aber ganz konsequent gestaltet erlebe ich den Song auch nicht – deshalb bleibt ein Punkt stecken.