SdW [31.08.-06.09.09]: GENESIS - Mama

  • Aus gegebenem Anlass (off-topic-Diskussion im "One For The Vine"-Thread ;)) quasi als Replik auf die Beiträge der geschätzten al board und Slubberdegullion nun meine kommentierte Bewertung zu "Mama", das mir stolze 14 Punkte wert ist. Zy hat hier vor fast 12 Jahren schon sehr viel geschrieben, was ich 1:1 übernehmen würde: Wunderbarer, dunkler und "wabriger" Anfang und ein extrem emotionaler Gesang. Was die Power angeht, würde ich unterschreiben, dass es möglicherweise sein bester Gesangspart "aller Zeiten" ist. Die volle Punktzahl kann ich mittlerweile jedoch nicht mehr geben. Nicht nur im Kontext aller anderen Genesis-Songs (und genau so gebe ich meine Bewertungen hier immer ab. Im Vergleich zu 08/15-Bands müsste sonst ja quasi jedes Genesis-Stück 15 Punkte kriegen), sondern auch, weil mir die Drums am Ende tatsächlich nicht besonders gut gefallen. Klasse Sound (Hugh Padgham halt), aber irgendwie sehr statisch gespielt. Wird alles mit voller Absicht erfolgt sein, das ist bei Phil mal ganz klar. Nur meinen Geschmack trifft es eben nicht so sehr. Aber das ist Klagen auf extrem hohem Niveau, daher eben auch dennoch ´ne glatte 1.


    Dass mir die Live-Version (nochmals Grüße an die beiden Herren oben! ;)) einfach besser gefällt, hat durchaus nostalgische Gründe und liegt zweifelsohne auch daran, dass ich von Anfang an geprägt war vom Live-Video der "Mama"-Tour. Die Aufnahme aus Birmingham 1984 ist einfach genial. Hatte den Konzertmitschnitt damals als 11jähriger 1987 im Allgäu-Urlaub im Schweizer Fernsehen gesehen. Und da fing das Konzert nicht wie auf Video/ DVD mit "Abacab", sondern eben mit "Mama" an. Da hatten die Schweizer eine gute Idee, zumal ja auch "Abacab" nicht der korrekte Opener gewesen ist. Aber das ist eine andere Geschichte, und soll ein andermal erzählt werden... :P


    Für meine Begriffe gibt es live eh kaum einen besseren Opener - zumindest bei Hallenkonzerten, wo es komplett dunkel ist. Das war für mich quasi der Moment, wo ich von einem großen Sympathisanten (ich besaß damals glaub ich lediglich die "Shapes" und die "Abacab" auf LP, dazu die Singles von "Land Of Confusion" und "Tonight, Tonight, Tonight") zu einem riesigen Fan geworden bin. Ich hatte bis dahin noch nie so eine tolle Live-Show und so eine Spielfreude gesehen. Und Phils Lache im gelben Scheinwerferlicht hat mich einfach umgehauen. Entsprechend enttäuscht war ich, dass der Song damals 1992 nicht dabei war, als ich sie in Hannover vor Ort gesehen hatte. Umso schöner war es, ihn dann bei den vier Reunion-Shows 2007 doch noch zu hören zun kriegen. Obwohl Phil natürlich viel weniger Kraft in den Gesang legen konnte, war ich dennoch positiv überrascht. Der Song hatte auch da immer noch Strahlkraft!

  • (...) Für meine Begriffe gibt es live eh kaum einen besseren Opener - (...)

    Das kann ich voll unterschreiben, außer vielleicht: Watcher of the Skies! Auf meinem ersten Genesis-Konzert (zur Abacab-Tour konnte ich meinen älteren Bruder oder meine Mutter leider nicht überreden, wegen meiner Minderjährigkeit konnte ich nicht hin) in Mannheim 1987 war Mama als Opener mit langem Vorspiel, dem spannungsgeladenen Drum-Computer-Rhythmus, bevor die Jungs die Bühne betraten und das Intro-Video (wo sie durch den Gang kommen, Phil boxend) eingeblendet wurde, ein Gänsehaut-Erlebnis der besonderen Art! Was sich da für eine Spannung aufgebaut hat!!!!!! Kein Wunder, dass von oben schließlich die Suppe runterkam und Tony (oder sein Assistent, der hier offenbar sein Instrument anfassen durfte ;-)) die Tasten mit einem Tuch abtrocknen musste, als das Stück vorbei war. Weil dieses Erlebnis so überwältigend war, muss ich MAMA unfairerweise - trotz Deinen m.E. richtigen Einwänden im Vergleich zu anderen Genesis-Stücken - die volle Punktzahl geben. Ich kann das aber rechtfertigen: Supper`s Ready und Firth of Fifth bekämen von mir volle satte 15 Punkte, Mama hingegen "nur" 14,51, was aufgerundet 15 macht ;)

    MAMA ist für mich ein Phänomen in mehrfacher Hinsicht. Einerseits ist es trotz des unglaublichen Spannungsbogens, der die 7 (!) Minuten sehr kurzweilig macht, in der Melodie und im Aufbau so simpel wie kaum ein anderes (ausgenommen vielleicht das auf der Platte folgende (durchaus gelungene) Country-Liedchen und der viel Argwohn auf sich genommene Sträflings- Track auf Abacab). Andererseits gehört es zu den Genesis-Songs, die sich bei mir relativ wenig abgenutzt haben, und das trotz der "Eingängigkeit". Es handelt sich hier wohl um eine andere Art von Eingängigkeit, die nicht das geringste mit einer Ohrwurm-Qualität zu tun hat. Ich bin jedenfalls noch niemandem begegnet, der Mama fröhlich (oder von mir aus traurig) vor sich hin geträllert hat. Hier hat es ein 7 Minuten langes Stück tatsächlich geschafft, die Charts zu erklimmen. Es ist diese unfassbare Eindringlichkeit dieses Songs, die die Menschheit offenbar viel mehr gepackt und berührt hat als einfach nur die Eingängigkeit der sonst üblichen Chart-tauglichen Hits so mancher Bands. Ich erinnere mich noch, als eine Freundin im Auto damals fassungslos war, als ich es laufen hatte, dass das Genesis sein soll. Sie hat das eher für einen moderneren, zeitgenössischen Wurf einer Krautrock- oder Psychedelic-Band gehalten.

    Einzig und allein mit Phil`s Interpretation der Bedeutung des Textes komme ich nicht ganz klar. Für mich war und ist MAMA ein Stück, das ein sehr dramatisches, ambivalentes Verhältnis eines Mannes zu seiner Mutter ausdrückt. Ich sehe da immer auch einen Muttermord am Ende, der dem bindungsgestörten Mann am Ende sehr weht tut und zur Verzweiflung bringt, die Verzweiflung nach der Verzweiflungstat sozusagen (wie bspw. bei "Psycho" von Alfred Hitchcock oder ohne Mutterbezug bei "Indiscipline" von King Crimson ). Phil erklärte aber, dass das Lied von dem "Besuch" eines Mannes bei einer Prostituierten handelt. Ich vermute mal, dass diese Themen (Bindungsstörung/Mutterproblematik und Rotlicht-Milieu) sich nicht ausschließen und irgendwie zusammen gehören.

    From the pain comes the dream. From the dream comes the vision. From the vision come the people. From the people comes the power. From this power come the change.”

    Peter Gabriel

  • Da muß ich nun auch mal den Punkteschnitt nach unten treiben, denn ich mag den Song nicht, und das Album, auf dem er sich befindet, mag ich auch nicht. "Mama", - da ist alles so aufdringlich, effekthascherisch, sehr früh schon repetitiv, langweilig, vorhersehbar, peinlich. Natürlich gibt es noch Schlimmeres, "Illegal Alien" etwa, aber hier etwas zu feiern, nur weil es einen ganz geringen Hauch des einstigen Niveaus reflektiert wie eine Fata Morgana die italienische Küste in der Sahara via Wolken - nein. Und nochmals nein. 6 Punkte.

  • wie eine Fata Morgana die italienische Küste in der Sahara via Wolken

    ^^ gut ausgedrückt, Chapati, äh ich meine ,Chapeau, selten so gelacht, aber dieser Vergleich ist für mich trotzdem in diesem Falle nicht passend. Es reflektiert für mich nicht etwas auf einem niedrigeren Niveau, was schonmal da war, sondern steht für mich als etwas völlig Neues, nie dagewesenes von einer Band, die aus einer jahrelangen Prog-Tradition stammt und sich hier in ein für sie abenteuerlustiges Neuland begibt. Und dieses "Experiment" klingt noch nicht einmal so, dass man der Band anhören könnte, dass es eigentlich nicht "ihr Land" ist und es daher unsicher oder unpassend wirkt. Sie machen das hier so selbstverständlich, also ob sie diesen Sound schon immer so für sich gepachtet hätten. Dennoch: Der Pionier-Geist eines neuen Aufbruchs in eine neue Musik-Landschaft ist trotz Professionalität und perfekter technischer Produktion sehr hörbar. Phil`s Stimme klang noch nie so vorher. Auf Abacab versuchten sie, sich neu zu erfinden, hier haben sie sich wirklich neu erfunden. Und Illegal Alien mag ich auch sehr, und wenn ich ehrlich bin, eigentlich das ganze Album, mehr als alles, was danach kam.

    From the pain comes the dream. From the dream comes the vision. From the vision come the people. From the people comes the power. From this power come the change.”

    Peter Gabriel

  • Die Aufnahme aus Birmingham 1984 ist einfach genial. Hatte den Konzertmitschnitt damals als 11jähriger 1987 im Allgäu-Urlaub im Schweizer Fernsehen gesehen. Und da fing das Konzert nicht wie auf Video/ DVD mit "Abacab", sondern eben mit "Mama" an. Da hatten die Schweizer eine gute Idee, zumal ja auch "Abacab" nicht der korrekte Opener gewesen ist. Aber das ist eine andere Geschichte, und soll ein andermal erzählt werden... :P

    In 1984 fing das Konzert immer mit Dodo/Lurker an.

  • In 1984 fing das Konzert immer mit Dodo/Lurker an.

    Das meinte ich ja damit, dass "Abacab" auch nicht der korrekte Opener war. ;)

    Bei der Gelegenheit muss ich dann doch noch etwas loswerden, was ich auch nur hier abladen kann, ohne mit großen Augen angeschaut zu werden und das leise geflüsterte Wort "Zugriff!" zu hören.


    Ich habe mich immer ein wenig über die Songreihenfolge der ersten Lieder der Mama-Tour gewundert. Statt Dodo/ Lurker, Abacab, That´s All, Mama wäre es aus meiner Sicht dramaturgisch sehr viel wirkungsvoller gewesen, wenn Mama eröffnet hätte, gefolgt vom bombastischen Dodo/ Lurker (frei nach der von Nick Hornby trefflich formulierten Regel "You´ve got to kick off with a corker, to hold the attention, and then you´ve got to up it a notch!"), Abacab - und dann zur "Abkühlung" That´s All und seiner Ansage. Aber ja, ich weiß, es musste seit 1977 ja immer ein Song des vorangehenden Albums den Opener bilden...


    Und schon steuere ich elegant wieder auf "Mama" zu, denn ich fühle hier schon den zurecht angedeuteten Stock, der mich von Moderatorenseite von der Seite antippt, um mir zu signalisieren, dass ich schwadroniere über Dinge, die an diese Stelle nur sehr, sehr bedingt hingehören.


    "Repetitiv" und "vorhersehbar" finde ich den Song nun wirklich nicht. Nicht nur, dass er sich von langsam, bedrohlich wabernd zu einem tosenden Schrei der Leidenschaft entwickelt. Nein, er ist doch auch durchaus innovativ. Damit meine ich nicht nur das Lachen (ja, ich weiß, "Grandmaster Flash" stand hier Pate, aber schon diese Reminiszenz allein ist für eine ehemalige Progband ja auch schon Innovation genug!)!

    Aber allein schon die Veränderungen danach im "Can´t you see me here Mama"-Teil mitsamt seines fast schon nach "Foxtrot"-Orgel klingenden Synthesizers finde ich bei einem von manchen als "Plasiksong" titulierten Werk schon sehr gewagt. Und Mikes wunderbare Gitarrenarbeit mit den nahezu klagenden Tönen ist mehr als stimmungsvoll. Nicht umsonst hat ja auch ein gewisser Steve Hackett mal erzählt, dass "Mama" sein Lieblingssong der Band nach seinem Ausstieg war ("beautifully haunting").

  • Dieser Stück hat mich als 12jähriger in die Genesiswelt gezogen. Sowas Unglaubliches hatte ich bis dato noch nie gehört. Auch wenn sich das mit den Jahren für den mittlerweile absoluten Musiknerd ein wenig relativiert hat, ziehe ich auch heute noch meinen Hut.

    Die renommierte Musikjournalistin Silvie Simmons hat den Song mal "einen der genialsten Kitschsongs der Musikgeschichte" genannt. Und hat damit auch ein wenig das Dilemma der Trio Genesis beschrieben. Erstaunliche musikalische Möglichkeiten und Bandchemie, die sich allzuoft im kalten Perfektionismus auflösen.

    Nichtsdestotrotz bleibt Mama ein ziemliches Brett, im besten Sinn eine Soundorgie. Die Drummaschine, das Schlagzeug, Tonys Keyboards und Phils wunderbare Art mit dem Klang und Echo seiner Stimme zu spielen.

    13 Punkte