Heute erschien ein langer Artikel auf Seite 1 des Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen über Genesis. Er wird hier sicher für einige Diskussion sorgen:
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Gebt endlich auf
Warum die Band "Genesis" tot ist / Von Andreas Maier
Als ich acht Jahre alt war, 1975, verließ der Sänger Peter Gabriel die Rockgruppe "Genesis". Es ist für Nachgeborene schwer zu beschreiben, was das bedeutet: "Genesis" ohne Peter Gabriel. Besonders über die Konzerte, die sie damals gegeben hatten, wurden geradezu mythische Geschichten erzählt. Die, die zu jung waren, um die Band damals erlebt zu haben (wie ich), waren voller Neid auf die Älteren und schauten fast ehrfürchtig zu ihnen auf. Geblieben waren nur Fotografien - Gabriel als Blume, Gabriel mit Soldatenhelm, Gabriel mit langen Haaren in phantastischen Kostümen - und Platten mit einer Musik darauf, die mit der Welterfolgsband, die "Genesis" dann Anfang der achtziger Jahre bereits waren, nichts mehr zu tun hatte.
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Als ich "Genesis" kennenlernte, 1977, orientierte ich mich sofort rückwärts. Obgleich ich sehr jung war, ging die Musik der Gabrielzeit sofort an mich. Es waren labyrinthische, verwirrende, skurrile Lieder, sehr englisch, die mit nichts vergleichbar waren, was es sonst auf der Welt gab (das ist bis heute so geblieben). Die Eigenartigkeit der Musik muss damit zu tun gehabt haben, dass die Bandmitglieder musikalisch eigentlich gar nicht zueinander passten und jeder die verschiedensten Dinge beitrug. Diese Musik stand von Anfang an für gar nichts. Ihre Texte handelten von Riesenunkräutern oder Genkontrollfirmen. Ohne "Monty Python's" wären sie vielleicht nicht denkbar gewesen.
Dass in meinem ersten Genesisjahr 1977 auch der Gitarrist Steve Hackett gerade dabei war, die Band zu verlassen, wusste ich nicht. Bereits das nächste Album von 1978 war der Tod der Band, es kam nun zu den ersten der zahlreichen zermürbenden Hits im typischen Phil-Collins-Sound. Ja, das endgültige Ende war "Follow You, Follow Me": Wohlfühlmusik im kompatiblen Dreiminutenformat. Das Lied war so eintönig, der Erfolg so groß, dass sogar meine Schwester die Single kaufte. (Ansonsten hörte sie Shaun Cassidy oder California-Strand-Musik.)
Als Genesisianer konnte man sich bis etwa 1980 noch an Peter Gabriels Soloalben halten, die aber allesamt vergleichsweise schwach komponiert waren. Dazu funktionierten auch seine Texte nicht mehr so gut. Er wurde langsam pathetisch. 1986 wurde leider auch er zum Weltstar und füllte ganze Stadien, mit Hits wie "Sledgehammer" und "Don't Give Up". Im letztgenannten Song geht es um Arbeitslosigkeit, da wird die Geschichte eines Mannes erzählt, der sich verzweifelt gegen das Schicksal Arbeitslosigkeit wehrt, sehr pathetisch, sehr sozialkritisch. Gegen die fast freischwebende, spielerische Lyrik der früheren "Genesis"-Stücke war das an Peinlichkeit kaum mehr zu überbieten.
Ein, zwei Jahre vor "Sledgehammer" war ich auf einem Gabriel-Konzert in der Frankfurter Alten Oper. Im Publikum befanden sich "Genesis"-Fans der ersten Stunde. Sie trugen teilweise T-Shirts von der "Foxtrott"-Tour, von der "Selling England"-Tour, also aus den frühen Siebzigern, und erzählten "von damals", aus Urzeiten. Es war ein trauriges Konzert. Dort vorne auf der Bühne erschien ein Mann mit Haarwelle, bei dem mir immer klarer wurde, dass diese Haarwelle in gewisser Weise zu den Rhythmen passte, die er produzierte, sterile Pseudo-One-World-Rhythmen für den Tanzclub. Der Mann erstarrte in einem Pathos, das ich ihm nicht mehr abnahm. Er war ironiefrei geworden.
Was gibt es nun für eine bessere Ausgangssituation zur Konstruierung eines Mythos? "Genesis" waren ein Welterfolg, Gabriel auch; aber das, was ein wahrer Genesisianer wollte und mochte, war unwiederbringlich verloren. Deshalb waren Genesisianer immer solche, die a) ständig von den alten Zeiten sprachen und die sich b) schon Mitte, Ende der Siebziger, besonders wenn sie betrunken waren, der völlig utopischen und blödsinnigen Hoffnung hingaben, Gabriel und "Genesis" könnten noch einmal, wenigstens nur einmal noch, zusammenkommen. (Als wäre dann alles wieder gut!) Dafür wäre man dann bis Australien gereist. Genesisianer dieser Prägung haben etwas von Fans eines abgewirtschafteten Fußballvereins. Man redet ständig von den alten Zeiten und macht die Gegenwart madig (wer will schon einen fröhlichen Mike Rutherford in einem Hunderttausendmannstadion zu "I Can't Dance" seine Bewegungen machen sehen?). "Genesis" mit Gabriel (und Steve Hackett) wurden zum Mythos. Sie waren entrückt, wie König Artus.
Ich reiste durch die Gegend, um mir irgendwelche Schwarzpressungen früherer Konzerte zu kopieren, da war ich dreizehn oder vierzehn. Später musste man ständig neue "Genesis"-Alben und Wiedervereinigungen der Rumpfband (Phil Collins, Tony Banks, Mike Rutherford) über sich ergehen lassen; alles dudelte dann monatelang diese grauenhaften Hits wie "Invisible Touch" oder ebenjenes "I Can't Dance". Ich glaube, es kennen Millionen und Millionen Menschen auf der Welt "I Can't Dance", etwa so viele, wie auch "Lady in Red" von Chris de Burgh kennen dürften. So weit kam es mit "Genesis".
Lange Zeit blieb es still um die Band. Vor einiger Zeit entdeckte ich "Genesis" zufällig bei Youtube. Da war ich erstaunt: Nach fast dreißig Jahren endlosen, allgemeinen Mythisierens der Frühzeit sehe ich zum ersten Mal kurze Filmaufnahmen der damaligen Konzerte. Ich sehe Gabriel, wie er singt und sich bewegt: vollkommen anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Er schlug mit rechts ein Tambourin, sang und bediente dabei dauernd mit dem rechten Fuß eine Bassdrum. Er war hauteng in Schwarz gehüllt, hatte lange Ärmelaufschläge, war gertenschlank, tänzelte fast wie Furtwängler beim Dirigieren und, vor allen Dingen: Er sah unglaublich gut aus. Alles stimmte an ihm. Eine Freundin (die "Genesis" nur mit Phil Collins kennt) sah die Filme und fragte: Ist das eine Frau? Dass Gabriel in jungen Jahren so gesegnet war, hatte ich nicht gewusst. Ein Naturereignis auf der Bühne. Langsam wurde mir klar, warum die Konzerte von damals einen solchen Mythos bilden konnten. Und der Hunger nach einem Wiedersehen mit der Vergangenheit wurde immer größer.
Dann, vor etwa einem Jahr, ging ein kollektives Gerücht durch die Szene der alten Fan-Haudegen. Ein schier unglaubliches Gerücht. Es hieß: Sie wollten alle noch einmal zusammen auf die Bühne, mit Gabriel, und das letzte mit ihm eingespielte Album ("The Lamb Lies Down On Broadway" von 1974) auf die Bühne bringen. Viele Leute in meiner Umgebung bekamen durch dieses Gerücht einen Adrenalinschock. Der ewige Traum vom gnostischen Wiedereintritt ins Gute - sollte er wahr werden? Ich hatte dazu ehrlich gesagt keine Lust mehr. Ich konnte mir Gabriel, der inzwischen dick und glatzköpfig ist, nicht mehr vorstellen im Vergleich zum schlanken Götterliebling von damals. Zu schwer war das Pathos um den Mann inzwischen. Auch seine Stimme ist anders geworden. Damals waren die Musiker Mitte zwanzig gewesen. Die letzte Platte mit Gabriel liegt dreiunddreißig Jahre zurück!
Und wie immer wurden die Genesisianer enttäuscht. Gabriel sagte ab, und es kommt nun wieder zu einer weiteren Tournee der Collins-Rumpfband. Wir dürfen also wieder "I Can't Dance" hören. Im Grunde bin ich froh darüber. "Genesis" sind dazu da, dass man in einer Kneipe Bier trinkt und von "damals" spricht. "Genesis"-Gabriel ist ein typisches Samstagnachmittagsthema für Menschen über vierzig, die eine Stammkneipe haben. Zu reden gibt es auch nach mehr als dreißig Jahren immer etwas. Zumal "Genesis" von damals jetzt sogar die Ehre zuteil wurde, dass sich eine Band gründete (sie heißt "The Musical Box"), die mit geradezu wissenschaftlicher Genauigkeit ebenjene lang vermissten, mir ein Leben lang rätselhaften "Genesis"-Tourneen von 1972, '73 und '74 auf die Bühne bringen.
Neulich war ich auf einem dieser Konzerte. Es war die "Selling England"-Tour von 1973. Es war ein mittelgroßer Saal, bestuhlt, um einen herum Menschen in geradezu kindhafter Erwartungshaltung, mit den üblichen T-Shirts. Ich saß in der Mitte des Saals. Das Bühnenbild kannte ich von Fotos. Das Konzert beginnt, die Orgel, Gabriels Stimmklang, alles da, die Beleuchtung von damals, die Kostüme, die Platzverteilung auf der Bühne, die Instrumente. Ich kniff die Augen zusammen und fand es völlig unglaublich. Der Schlagzeuger spielte exakt wie Phil Collins, und der Sänger klang fast völlig wie Gabriel und spielte auch die Flöte wie er.
Mit zusammengekniffenen Augen waren das einfach "Genesis". Während des Konzerts entwickelte sich eine immer größere Begeisterung (man kann davon ausgehen, dass jeder Besucher jedes dort gespielte Lied Note für Note seit Jahrzehnten auswendig kennt). Anschließend herrschte eine fast andächtige Ausgelassenheit. Es war eine Rekonstruktion sondergleichen. Es war noch nicht einmal grotesk. Es war, als hätte man auf fußballerischem Höchstniveau die, sagen wir, Weltmeisterschaftspartie Deutschland gegen Italien von 1970 nachgestellt, bis hin zum Frisurenschnitt der beteiligten Akteure. Eine Woche später ging ich zu einem weiteren Konzert: "Foxtrott"-Tour. Diesmal saß ich in der ersten Reihe. Der Steve-Hackett-Gitarrist sah, aus der Nähe betrachtet, wie ein Mann aus, der schon seit vielen Jahren in diversen Kneipen sehr viel Whiskey trinkt. Er war am Geschehen völlig unbeteiligt (immerhin das hatte er mit Hackett gemein). Der Collins-Schlagzeuger spielte zwar genauso frisch und genial wie Collins damals, war aber leider auch genauso gut gelaunt wie Collins immer. Und der Gabriel-Sänger war nicht die Rekonstruktion einer Elfe, nein: Er war ein Buffi mit Bauch, an dem sich das hautenge schwarze Kostüm schon deutlich geweitet hatte; es schlabberte an ihm herum.
Sie waren dort oben auf der Bühne wohl alle um die vierzig, wirkten unbeteiligt wie bei einer Karnevalsaufführung und sahen aus, als kämen sie gerade aus der nächsten Kneipe. Es war nicht schön anzusehen, aber ich war irgendwie auch beruhigt. Das Konzert war perfekt, aber mein Platz in der ersten Reihe gab dem Abend zugleich eine gewisse reale Gegenwart. Im Verlauf des Konzerts machte sich ein gewisser Friede in mir breit. Etwas kam an ein Ende. Ich würde bis heute abstreiten, je ein Fan dieser Band gewesen zu sein. Aber wenn ich es nicht wäre, hätte ich wohl kaum diese beiden Konzerte besucht.
Das ist typisches Fanverhalten, das ist Genesis: Man geht auf Konzerte einer Band namens "The Musical Box". Auf den Gedanken, ein Genesiskonzert zu besuchen, kommt man gar nicht. Was "Genesis" einmal waren, gibt es nicht mehr. Gegen Ende des Konzerts ging ich dann allerdings doch nach hinten in den Saal und kniff noch einmal ein bisschen die Augen zusammen.
Der Schriftsteller Andreas Maier, 1967 geboren, lebt in Frankfurt am Main. 2005 erschien sein Roman "Kirillow", 2006 kamen seine Frankfurter Poetikvorlesungen "Ich" heraus (beide bei Suhrkamp).
Text: F.A.Z., 28.02.2007, Nr. 50 / Seite 33