"Beatles vs. Stones vs. Mozart" - Sinn und Unsinn von Ranking-Listen und Spekulationen über zukünftige Rezeption klassischer Rockmusik...

  • Heute im SPON ein großer, reichhaltiger Artikel über die universelle Bedeutung von Musik. Leider Schranke: https://www.spiegel.de/panoram…2a-4957-87cb-c7368e4288ad


    Weshalb ich das hier poste: Es gibt eine Reihe von Anknüpfungsknüpfen zu den letzten Seiten in diesem Thread.


    Zwei Dinge dazu mit Blick auf die Klassik:

    1. J.S. Bach gehört mit Mozart und Beethoven angeblich zu den beliebtesten Komponisten weltweit - das sollen Aufführungs- und Verkaufs-/ Streamingzahlen belegen.

    2. Der Artikel legt nahe, dass das Standing der Klassik nicht nur stabil ist: Der Chef der "Deutschen Grammophon" geht sogar davon aus, dass die besten Zeiten noch bevorstünden.


    Obwohl oder gerade weil der Artikel sicherlich auch viel Diskussionspotenzial mitbringt, kann ich ihn sehr empfehlen. Er rührt an grundsätzlichsten Dingen nicht nur der Musik, sondern damit einhergehend des Menschseins.

  • Ja, ist ein guter Artikel, macht Hoffnung, dass es auch mit der Klassik weitergeht und vermittelt viele interessante Aspekte, was diese Musik ausmacht.

    Allerdings wird auch hier deutlich, dass der Kanon auf eher wenige Komponisten geschrumpft ist, Bach, Beethoven, Mozart; Brahms Händel... und Co... Und mir kommt bei der - grundsätzlich interessanten - Beschreibung all dessen,was Musik leisten kann, der Blick auf andere Musikrichtungen - Rock, Pop, Jazz etc. - zu kurz. Zumal nicht jeder gewillt ist, sich allein mit dem Gefühls- und Atmosphärenspektrum der Klassik zu begnügen oder sich überhaupt darauf einzulassen. Ich glaube, es ist dafür nicht hinreichend genug.

    Allein schon vieles, was mit der industriellen Revolution nach und nach an neuen Erfahrungen für den Menschen hinzukam, wird von der Klassik - zumindest für mein Empfinden - nicht hinreichend bedient. Zum Beispiel Faszination, Schönheit und ebenso all die Probleme, die mit dem Klang von Maschinen, Technik überhaupt verbunden sind, werden doch mit dem seit Jahrhunderten mehr oder weniger gleich gebliebenen Instrumentarium nicht wirklich musikalisch gespiegelt.

    Und was ist mit dem Seelenleben und der Alltagswelt, den Empfindungen der Menschen unterhalb des höfischen oder des großbürgerlichen Publikums? Wird das nicht von den Klassikern entweder gar nicht oder nur sehr bedingt und allenfalls mit Fortschreiten der Demokratisierung im Laufe des 19. Jahrhunderts mit einbezogen? Und auch wenn ich keineswegs bestreiten kann und will, dass sich nicht doch etwas von alledem auch bei Bach, Beethoven und Co. findet - es hören ja heutzutage auch Menschen aller Schichten klassische Musik, so wie auch wir ;) - die ganz große Stärke der Klassik scheint es nicht zu sein.

    Auch deshalb macht ja dann seit dem 20. Jahrhundert auch die populäre Musik durchaus viel Sinn.

    Ein paar Gedanken, die der Artikel ausgelöst hat, nicht als Kritik, eher alls Ergänzung.

  • Ja, ist ein guter Artikel, macht Hoffnung, dass es auch mit der Klassik weitergeht und vermittelt viele interessante Aspekte, was diese Musik ausmacht.

    Allerdings wird auch hier deutlich, dass der Kanon auf eher wenige Komponisten geschrumpft ist, Bach, Beethoven, Mozart; Brahms Händel... und Co... Und mir kommt bei der - grundsätzlich interessanten - Beschreibung all dessen,was Musik leisten kann, der Blick auf andere Musikrichtungen - Rock, Pop, Jazz etc. - zu kurz. Zumal nicht jeder gewillt ist, sich allein mit dem Gefühls- und Atmosphärenspektrum der Klassik zu begnügen oder sich überhaupt darauf einzulassen. Ich glaube, es ist dafür nicht hinreichend genug.

    Für meine Begriffe legt der Artikel sehr viele z.T. provokant zum Weiterdenken animierenden Anknüpfungspunkte aus.

    Dass er den etablierten Kanon klassischer Musik ins Zentrum der Betrachtungen rückt, ist aus meiner Sicht nachvollziehbar. Fichtner kann sich damit nämlich auf Musik berufen, der sich ein Höchstmaß kulturell transhistorischer Gültigkeit zuschreiben lässt. Um wieder auf den Beatles-Gedanken oder vielleicht sogar noch besser auf Taylor Swift zu kommen: Dass deren Werk einmal als ähnlich zeitlos "gültig" dastünde und damit ein vergleichbarer Bestandteil musikalischer "Hochkultur" würde, steht in den Sternen bzw. müsste sich erst erweisen.

    Fichtner geht zudem davon aus, dass klassische Musik zum einen ein mustergültiges "Gleichgewicht zwischen Intellekt und Emotion" (Barenboim) herstellen könne und zum anderen "objektiv mehr zu bieten" habe als "alle anderen Gattungen". Was natürlich für die ein oder andere nicht nur hier im Forum eine Provokation bedeutet. Da Fichtner aber eben zu dieser Überzeugung gelangt ist, liegt es auf der Hand, dass er die vielschichtige Bedeutung von Musik auch anhand ganz herausragend vielschichtiger Musikschöpfungen untermauern möchte.

    Allein schon vieles, was mit der industriellen Revolution nach und nach an neuen Erfahrungen für den Menschen hinzukam, wird von der Klassik - zumindest für mein Empfinden - nicht hinreichend bedient. Zum Beispiel Faszination, Schönheit und ebenso all die Probleme, die mit dem Klang von Maschinen, Technik überhaupt verbunden sind, werden doch mit dem seit Jahrhunderten mehr oder weniger gleich gebliebenen Instrumentarium nicht wirklich musikalisch gespiegelt.

    Darauf habe ich einen anderen Blick. Die bedeutendsten Komponistys der Klassik waren ganz überwiegend "progressiv", indem sie Formen, Stile und Instrumentarium erweitert/verändert und auch den Geist ihrer Zeit in ihr Werk einbezogen haben. Kurz nach Erfindung des ersten Fließbandes im 19. Jh. schrieb Wagner z.B. das damals außergewöhnliche, metallisch-stupide "Schmiedemotiv" der Nibelungenzwerge, dessen Ausdrucksgehalt den mechanischen und vom Menschen zunehmend entfremdeten Arbeitsprozess des beginnenden industriellen Zeitalters "spiegelt".

    Simon Rattle hat mal eine Fernsehserie mit dem Titel "Die Revolution der Klänge" (glaube ich) gemacht, in der er seine Faszination für Neue Musik teilt. Da geht es u.a. darum, dass "die Klassik" sich ständig am Lebensgefühl ihrer Zeit orientiert und zu Beginn des 20. Jh. zum Beispiel ganz deutlich das Maschinen- und Technikzeitalter reflektiert - u.a. durch einen fast schon exposionsartig erfolgenden Einbezug verschiedensten Schlagwerks. Aber auch mit Blick auf die sich veränderten musikalischen Strukturen.

    Und die elektronische Avantgarde fand zum Beispiel auch in der Neuen Musik statt, Jahre bevor die Popkultur das Instrumentarium resp. Aufnahmetechnik als "avantgardistisch" an ihre Hörys brachte.

    Und was ist mit dem Seelenleben und der Alltagswelt, den Empfindungen der Menschen unterhalb des höfischen oder des großbürgerlichen Publikums? Wird das nicht von den Klassikern entweder gar nicht oder nur sehr bedingt und allenfalls mit Fortschreiten der Demokratisierung im Laufe des 19. Jahrhunderts mit einbezogen? Und auch wenn ich keineswegs bestreiten kann und will, dass sich nicht doch etwas von alledem auch bei Bach, Beethoven und Co. findet - es hören ja heutzutage auch Menschen aller Schichten klassische Musik, so wie auch wir ;) - die ganz große Stärke der Klassik scheint es nicht zu sein.

    Das verstehe ich womöglich nicht so ganz. Deshalb ein wenig ins vermutete Blaue:

    "Das" Lebensgefühl einer Generation findet sich m.E. in der Musik der jeweiligen Zeit. Deshalb ist es für mich auch "normal" und überhaupt nicht negativ besetzt, dass Musik kommt und geht. Sowohl im Bereich der Klassik als auch im Pop, Rock, Jazz, Schlager, Musical usw.

    Ich sehe es also überhaupt nicht so, dass "die" Klassik grundsätzlich davon ausgeklammert werden kann. Dafür spricht der überwältigende Teil klassischer Musik, der heute kaum oder gar nicht mehr aufgeführt/aufgenommen wird.

    Der verhältnismäßig kleine Klassik-Kanon, den es im kulturellen Bewusstsein noch gibt, ist die absolute Ausnahme. Und die "Überzeitlichkeit" dieses Kanons könnte man im Sinne Fichtners in ihrer universellen humanistischen (oder anthropologischen) Bedeutsamkeit sehen - ohne diese Bedeutsamkeit wäre die Musik nicht ganz direkt erfahrbar und somit auch nicht mehr relevant für zeitgenössisches Kulturleben.

    Dass Klassik nicht wirklich populär ist, ist klar. Für das "Seelenleben" und die "Alltagswelt" der großen Masse waren in den letzten wenigen Jahrzehnten wohl vor allem Rap/Hip-Hop und Mainstream-Pop relevant. Wer darin eine besondere Qualität dieser Musik erkennen möchte, hat mindestens den Zuspruch der hörenden Mehrheit auf seiner Seite. Anspruch auf "überzeitliche" Gültigkeit lässt sich daraus aber sicherlich nicht ableiten - im Gegenteil: Musik, die in erster Linie als Ausdruck ihrer eigenen Zeit fungiert, also "Mode" ist, dürfte auch ihr eigenes Verfallsdatum mehr als deutlich in sich tragen.

    Und sicher: Es gibt Musik, die einen primären Hang zum Elaborierten hat. Davon nehme ich die "Zauberflöte" im Gegensatz zu Bachs "Wohltemperiertem Klavier" ausdrücklich aus. Ich denke aber auch an Genesis und Yes in den 70ern. Solchen Progbands ist ja wiederholt der Vorwurf intellektueller Abgehobenheit gemacht worden. Und wenn ich an "Close to the edge" und "Supper's ready" denke, dann kommt mir das mindestens nachvollziehbar vor. Ein Defizit sähe ich darin allerdings nicht. Genauso wenig, wie ich es als Negativpunkt sehe, dass Bach mit seinen siebenstimmigen Quadripelfugen (okay, etwas übertrieben) erstens völlig unzeitgemäß/unpopulär und zweitens mit höchstem geistigen Anspruch komponiert hat. Heute gilt sein "Wohltemperiertes Klavier" als "Altes Testament" der Klavierliteratur (Beethovens Sonaten werden manchmal als "Neues Testament" bezeichnet) und die "Kunst der Fuge" als mindestens ebenso herausragend kunstvolles Werk menschlicher Kultur.

    Was ich damit sagen will (und Fichtner legt ja selbst Wert darauf, jeder solle hören, "wie und was er beliebt"): Es ist schön, wenn Taylor Swift mit massentauglicher Musik, die sicherlich als Ausdruck "unseres" Zeitgefühls zu gelten hat, Menschen erreicht und beglückt. Und zwar Menschen so ziemlich aller sozialer und lokaler Herkunft. Und es ist ebenso schön, wenn sich andere (und deutlich weniger) Menschen lieber ein "intellektuelleres" Klavier-Recital mit lauter Bach-Fugen anhören. Auch das nämlich ist unmittelbarer Ausdruck eines seelischen Bedürfnisses des 21. Jahrhunderts.

    Auch deshalb macht ja dann seit dem 20. Jahrhundert auch die populäre Musik durchaus viel Sinn.

    Unbedingt. Ich sehe nichts, was dieser Feststellung entgegenstehen könnte.


    2 Mal editiert, zuletzt von townman ()

  • Für meine Begriffe legt der Artikel sehr viele z.T. provokant zum Weiterdenken animierenden Anknüpfungspunkte aus.

    Dass er den etablierten Kanon klassischer Musik ins Zentrum der Betrachtungen rückt, ist aus meiner Sicht nachvollziehbar. Fichtner kann sich damit nämlich auf Musik berufen, der sich ein Höchstmaß kulturell transhistorischer Gültigkeit zuschreiben lässt. Um wieder auf den Beatles-Gedanken oder vielleicht sogar noch besser auf Taylor Swift zu kommen: Dass deren Werk einmal als ähnlich zeitlos "gültig" dastünde und damit ein vergleichbarer Bestandteil musikalischer "Hochkultur" würde, steht in den Sternen bzw. müsste sich erst erweisen.

    Fichtner geht zudem davon aus, dass klassische Musik zum einen ein mustergültiges "Gleichgewicht zwischen Intellekt und Emotion" (Barenboim) herstellen könne und zum anderen "objektiv mehr zu bieten" habe als "alle anderen Gattungen". Was natürlich für die ein oder andere nicht nur hier im Forum eine Provokation bedeutet. Da Fichtner aber eben zu dieser Überzeugung gelangt ist, liegt es auf der Hand, dass er die vielschichtige Bedeutung von Musik auch anhand ganz herausragend vielschichtiger Musikschöpfungen untermauern möchte.

    Dass klassische Musik objektiv mehr zu bieten hat, ist eigentlich eine sehr gewagte Behauptung. Aber ich nenne es auch mal - provokant. Das schließt dann bereits eine gewisse Subjektivität mit ein.

    Allein schon das "Gleichgewicht zwischen Intellekt und Emotion" überzeugt mich nicht. Ich beschränke mich mal auf die Emotion. Mich erreicht die in der Klassik nur bedingt, weil ich emotional hauptsächlich mit der Wucht und dem Pathos versorgt werde, die Streicher getriebene Ensembles erzeugen (zum Piano ganz weiter unten). Einer Vielzahl an Emotionen, Impressionen und Szenarien des Lebens werden die aber nicht gerecht. Mal ein Beispiel eher aus der Filmmusik: Mich nerven die Streicher in den Western vor allem der 50er Jahre. In den Wüsten von Texas und Arizona höre ich keine fetten, düsteren Streicherwände. Da fühle ich mich emotional betrogen. Ich höre zum Beispiel Ry Cooders trockene, lakonische Slide-Gitarre oder ein karges Flötenspiel.

    Nicht ganz so krass ist es bei den Klassikern, aber auch Beethovens Symphonien interessieren mich eher als abstrakte Klangkunstwerke, als Ausdruck von Emotionen taugen sie für mich zumindest nicht. Ich nehme mal an, dass sie das aber sehr wohl bei der Mehrzahl jener tun, die öfter oder nur auf die Klassik zurückgreifen, wenn sie musikalische Erfahrungen machen wollen. Umgekehrt gibt es sicher einige, denen es mehr oder weniger so geht wie mir, weshalb populäre Musikformen gepflegt werden.

    Das mit dem Intellekt ist mir jetzt ein zu großes Fass, das ist so wie mit Shakespaere Sonetten und Brechts Lyrik oder eben wie Beethoven und Bo Diddley's Who Do You Love...


    Darauf habe ich einen anderen Blick. Die bedeutendsten Komponistys der Klassik waren ganz überwiegend "progressiv", indem sie Formen, Stile und Instrumentarium erweitert/verändert und auch den Geist ihrer Zeit in ihr Werk einbezogen haben. Kurz nach Erfindung des ersten Fließbandes im 19. Jh. schrieb Wagner z.B. das damals außergewöhnliche, metallisch-stupide "Schmiedemotiv" der Nibelungenzwerge, dessen Ausdrucksgehalt den mechanischen und vom Menschen zunehmend entfremdeten Arbeitsprozess des beginnenden industriellen Zeitalters "spiegelt".

    Simon Rattle hat mal eine Fernsehserie mit dem Titel "Die Revolution der Klänge" (glaube ich) gemacht, in der er seine Faszination für Neue Musik teilt. Da geht es u.a. darum, dass "die Klassik" sich ständig am Lebensgefühl ihrer Zeit orientiert und zu Beginn des 20. Jh. zum Beispiel ganz deutlich das Maschinen- und Technikzeitalter reflektiert - u.a. durch einen fast schon exposionsartig erfolgenden Einbezug verschiedensten Schlagwerks. Aber auch mit Blick auf die sich veränderten musikalischen Strukturen.

    Und die elektronische Avantgarde fand zum Beispiel auch in der Neuen Musik statt, Jahre bevor die Popkultur das Instrumentarium resp. Aufnahmetechnik als "avantgardistisch" an ihre Hörys brachte.

    Ja, ein gutes Beispiel, das mit Wagner und der Zwergenfabrik. Aber das war eben auch Wagner, der zwischen 1830 und 1882 komponiert hat (ich habe es gerade nachgeschaut ;) ). Er hat also mit den Mitteln seiner Zeit aufgegriffen, was um ihn herum passiert ist. In dem Fall zumindest - vorbildlich.

    Und ich habe Mozart, Bach und Beethoven und anderen... auch nicht vorgworfen, dass sie daran desinteressiert waren oder es einfach nicht hinbekommen haben. Es wäre natürlich zu fragen, inwieweit sie sich mit gesellschaftlichen Zuständen, Veränderungen und Missständen befasst haben, in einer noch stärker höfisch und absolutistisch geprägten Zeit. Jedenfalls, von dem, was die industrielle Revolution und alles, was ihr bis heute nachfolgte, an Konsequenzen mit sich brachte, konnten sie natürlich nichts wissen, da sie früher lebten und wirkten als Wagner. Aber daher sind ihre Werke auch als Kommentare für viele Bereiche des Lebens nicht geeignet, sondern mehr oder weniger als rein musikalisch Kunstprodukte interessant, als solche aber dann schon.

    Ich wunder mich übrigens auch zuweilen, wenn ich in die Oper gehe und über der Bühne die Texte eingeblendet werden, wie banal und überholt die teilweise sind. "Oh, wie schön ist diese Frau." "Man hat mir berichtet, sie gehört einem anderen." "Doch ich muss sie haben." "Ich werde sie ihm entreißen. Mir muss nur eine List einfallen."... so ungefähr...

    Die Neue Musik wiederum ist ja tatsächlich innovativer und einflussreicher, als es manchen wohl zunächst scheint. Allein mal den Stockhausen genommen, ohne den es viellecht eine ganz wichtige Band des 20. Jahrhunderts - nämlich Can - gar nicht gegeben hätte, und der auch andere stilprägende Rockmusiker wie Grateful Dead und Steve Miller inspiriert hat. Und natürlich ein Werk geschaffen hat, das für sich besteht. Leider aber führt die Neue Musik auch ein Schattendasein. Zu komplex?


    Der verhältnismäßig kleine Klassik-Kanon, den es im kulturellen Bewusstsein noch gibt, ist die absolute Ausnahme. Und die "Überzeitlichkeit" dieses Kanons könnte man im Sinne Fichtners in ihrer universellen humanistischen (oder anthropologischen) Bedeutsamkeit sehen - ohne diese Bedeutsamkeit wäre die Musik nicht ganz direkt erfahrbar und somit auch nicht mehr relevant für zeitgenössisches Kulturleben.

    Dass Klassik nicht wirklich populär ist, ist klar. Für das "Seelenleben" und die "Alltagswelt" der großen Masse waren in den letzten wenigen Jahrzehnten wohl vor allem Rap/Hip-Hop und Mainstream-Pop relevant. Wer darin eine besondere Qualität dieser Musik erkennen möchte, hat mindestens den Zuspruch der hörenden Mehrheit auf seiner Seite. Anspruch auf "überzeitliche" Gültigkeit lässt sich daraus aber sicherlich nicht ableiten - im Gegenteil: Musik, die in erster Linie als Ausdruck ihrer eigenen Zeit fungiert, also "Mode" ist, dürfte auch ihr eigenes Verfallsdatum mehr als deutlich in sich tragen.

    Und sicher: Es gibt Musik, die einen primären Hang zum Elaborierten hat. Davon nehme ich die "Zauberflöte" im Gegensatz zu Bachs "Wohltemperiertem Klavier" ausdrücklich aus. Ich denke aber auch an Genesis und Yes in den 70ern. Solchen Progbands ist ja wiederholt der Vorwurf intellektueller Abgehobenheit gemacht worden. Und wenn ich an "Close to the edge" und "Supper's ready" denke, dann kommt mir das mindestens nachvollziehbar vor. Ein Defizit sähe ich darin allerdings nicht. Genauso wenig, wie ich es als Negativpunkt sehe, dass Bach mit seinen siebenstimmigen Quadripelfugen (okay, etwas übertrieben) erstens völlig unzeitgemäß/unpopulär und zweitens mit höchstem geistigen Anspruch komponiert hat. Heute gilt sein "Wohltemperiertes Klavier" als "Altes Testament" der Klavierliteratur (Beethovens Sonaten werden manchmal als "Neues Testament" bezeichnet) und die "Kunst der Fuge" als mindestens ebenso herausragend kunstvolles Werk menschlicher Kultur.

    Was ich damit sagen will (und Fichtner legt ja selbst Wert darauf, jeder solle hören, "wie und was er beliebt"): Es ist schön, wenn Taylor Swift mit massentauglicher Musik, die sicherlich als Ausdruck "unseres" Zeitgefühls zu gelten hat, Menschen erreicht und beglückt. Und zwar Menschen so ziemlich aller sozialer und lokaler Herkunft. Und es ist ebenso schön, wenn sich andere (und deutlich weniger) Menschen lieber ein "intellektuelleres" Klavier-Recital mit lauter Bach-Fugen anhören. Auch das nämlich ist unmittelbarer Ausdruck eines seelischen Bedürfnisses des 21. Jahrhunderts.

    Unbedingt. Ich sehe nichts, was dieser Feststellung entgegenstehen könnte.

    Hier stimme ich eigentlich fast vollständig zu. Ich würde nur Taylor Swift etwa von den Beatles trennen. Von denen wissen wir immerhin, dass sie nun schon rund 60 Jahre gut überlebt haben und in dieser Zeit einen großen Einfluss auf die Entwicklung der populären Musikszene hatten. Ich behaupte einfach mal, Gefühl und Erfahrung zu Rate ziehend, dass Taylor Swift diese Nachhaltigkeit und Breitenwirkung nicht entwickeln wird. Ich würde dann eher in dem Segment auf Madonna tippen, mir scheint da mehr musikalische Substanz und Zeitlosigkeit im Spiel. Aber nun gut, wir wissen es nicht, wer von A wie Abba bis Z wie Zappa in 300 Jahren noch in größerem Rahmen gespielt wird.

    Interessant ist auch, dass die Sex Pistols (die ich immer mochte, John Lydons Arbeit mit PIL liebe ich sogar sehr) sich am Ende dann doch nicht wirklich gegen Genesis und Yes und andere durchgesetzt haben. Gleiches gilt für viele der Punk- und Neo-Rock-Roll-Artisten, die Mitte der 70er auftauchten und den Kunst-Rock-"Dinosauriern" Paroli boten (und von denen ich viele nach wie schätze). Aber es ist auch irgendwie schön, dass The Clash, Genesis, Beethoven, Elvis Costello, Yes, Bach, Blondie, Mozart und King Crimson allesamt - noch zumindest - zum Kultur-Kanon gehören, zumindest bei den Musikliebhabern sagen wir mal zwischen 35 und 100 :)

    Aber es ist schon so, je stärker sich Künstler zum Zeitgeschehen engagieren, je mehr sie - oft aus dem Nichts heraus - auffällige Moden produzieren, desto geringer ist ihre Halbwertszeit.

    Ich habe mir übrigens geschworen - wenn Taylor Swift den Trump verhindert, kauf ich mir eine ihrer Platten.

    Und seltsam, ja, da Du unter anderem Bachs Klavierwerke erwähnst. Ich glaube fast, das Piano taugt mit am besten für die Ewigkeit, vielleicht mehr als Streichorchester, vielleicht auch mehr als E-Gitarren. Ist es vielleicht in der Mitte aller Klänge? Ich habe dieser Tage zwei Konzerte von Keith Jarrett gehört, Bremen/Lausanne, alles allein auf dem Piano gespielt, aber es schien alles dabei zu sein, akustische, elektrische und elektronische Reize, Gefühle von Lakonie bis zur großen Geste und vieles dazwischen, das war universell. Bachs Kunst der Fuge auf dem Piano kommt dann jetzt auch wieder dran.

  • Dass klassische Musik objektiv mehr zu bieten hat, ist eigentlich eine sehr gewagte Behauptung. Aber ich nenne es auch mal - provokant. Das schließt dann bereits eine gewisse Subjektivität mit ein.

    Allein schon das "Gleichgewicht zwischen Intellekt und Emotion" überzeugt mich nicht. Ich beschränke mich mal auf die Emotion. Mich erreicht die in der Klassik nur bedingt, weil ich emotional hauptsächlich mit der Wucht und dem Pathos versorgt werde, die Streicher getriebene Ensembles erzeugen (zum Piano ganz weiter unten). Einer Vielzahl an Emotionen, Impressionen und Szenarien des Lebens werden die aber nicht gerecht. Mal ein Beispiel eher aus der Filmmusik: Mich nerven die Streicher in den Western vor allem der 50er Jahre. In den Wüsten von Texas und Arizona höre ich keine fetten, düsteren Streicherwände. Da fühle ich mich emotional betrogen. Ich höre zum Beispiel Ry Cooders trockene, lakonische Slide-Gitarre oder ein karges Flötenspiel.

    Nicht ganz so krass ist es bei den Klassikern, aber auch Beethovens Symphonien interessieren mich eher als abstrakte Klangkunstwerke, als Ausdruck von Emotionen taugen sie für mich zumindest nicht. Ich nehme mal an, dass sie das aber sehr wohl bei der Mehrzahl jener tun, die öfter oder nur auf die Klassik zurückgreifen, wenn sie musikalische Erfahrungen machen wollen. Umgekehrt gibt es sicher einige, denen es mehr oder weniger so geht wie mir, weshalb populäre Musikformen gepflegt werden.

    Das mit dem Intellekt ist mir jetzt ein zu großes Fass, das ist so wie mit Shakespaere Sonetten und Brechts Lyrik oder eben wie Beethoven und Bo Diddley's Who Do You Love...

    Ich denke, dass man mit Fichtner folgendermaßen argumentieren könnte: Dass Mozart, Bach und Beethoven weiterhin massenhaft starke Emotionen hervorrufen können, ist unabhängig von deinem Erleben unstrittig. Dafür sprechen ihre Präsenz in den Konzertsälen und die Verkaufs- bzw. Streamingzahlen weltweit ganz eindeutig.

    Zu dieser objektiv vorhandenen emotionalen Kraft der Musik kommt dann noch eine Rezeptionsebene, die den Intellekt (ich würde lieber sagen: den Geist) der Menschen aktiviert. Fichtner knüpft diesen Gedanken an seine Erfahrungswerte, dass klassische Musik zum vertiefteren Hören einlädt, weil sie einen größeren Beziehungsreichtum aufweist, komplexer und herausfordernder ist. Umkehrschluss, den er auch andeutet: Rock und Pop haben diese den Geist herausfordernden Tiefenschichten nicht in diesem Maße.

    Und ich meine, dass das Wesen von Pop und Rock in der Tat sehr auf das Jetzt fokussiert ist, auf die ganz unmittelbare emotionale Wirkung. Dass sich Künstlys aus diesem Bereich mit musikalischen Formen und Tiefenschichten des Songwritings beschäftigen, die durch den Intellekt zu erfassen wären, ist natürlich nicht ausgeschlossen, ist meiner Erfahrung nach aber deutlich seltener und dann auch weniger ausgeprägt. Ich selbst kann also Barenboims Äußerung gut nachvollziehen: Das Bewusstsein für die Form der Musik, für die Vielschichtigkeit und vor allem sinnfälligen Beziehungen ihrer musikalischen Gestalten, ist bei den großen klassischen Komponisten so ausgeprägt, dass Emotion und Intellekt bzw. Geist "gleichgewichtiger" angesprochen werden. Aber klar: Das bleibt natürlich strittig, solange es nicht haarklein belegt ist... :)


    Ja, ein gutes Beispiel, das mit Wagner und der Zwergenfabrik. Aber das war eben auch Wagner, der zwischen 1830 und 1882 komponiert hat (ich habe es gerade nachgeschaut ;) ). Er hat also mit den Mitteln seiner Zeit aufgegriffen, was um ihn herum passiert ist. In dem Fall zumindest - vorbildlich.

    Und ich habe Mozart, Bach und Beethoven und anderen... auch nicht vorgworfen, dass sie daran desinteressiert waren oder es einfach nicht hinbekommen haben. Es wäre natürlich zu fragen, inwieweit sie sich mit gesellschaftlichen Zuständen, Veränderungen und Missständen befasst haben, in einer noch stärker höfisch und absolutistisch geprägten Zeit.

    Mozart hat mit "Figaros Hochzeit" puren gesellschaftlichen Zündstoff vertont. In der "Zauberflöte" findet sich ein ganzes Arsenal an Zeichen, die für seine historische Situation höchst relevant und aussagekräftig waren. Beethoven hat sich mit seiner Zeit intensiv befasst (politisch, gesellschaftlich, philosophisch) und mehrfach entsprechende Bezüge in seinen Werken verankert. Der Humanitätsgedanke nebst Kritik an absolutistischer Willkür im "Fidelio", die Schlacht von Vitoria in "Wellingtons Sieg" (ästhetisch ziemlich bescheidene Komposition für seine Verhältnisse). Beide sind vereint im aufklärerischen Denken.


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  • Ich denke, dass man mit Fichtner folgendermaßen argumentieren könnte: Dass Mozart, Bach und Beethoven weiterhin massenhaft starke Emotionen hervorrufen können, ist unabhängig von deinem Erleben unstrittig. Dafür sprechen ihre Präsenz in den Konzertsälen und die Verkaufs- bzw. Streamingzahlen weltweit ganz eindeutig.

    Ja, keine Frage, und das ist auch gut so. Und ich bin ja auch zuweilen dabei (wenn auch vor allem, weil ich unterschiedliche Klang- und Stilistikerfahrungen liebe). Vielleicht ist die Reduktion auf einige wenige Komponisten auch eine Stärke, beziehungsweise die Erfolgsformel. Was es an Angebot gibt, ist bewährt, sozusagen durch Jahrhunderte hinweg qualitätsgeprüft. Es ist übersichtlich, man kann sich gut verständigen, Erfahrungen austauschen, sich gegenseitg begeistern. Es wird so eine Art Sprache, die viele verstehen. In der populären Musik ist das Angebot an Altem und Neuem so riesig, dass man nicht so einfach jemanden trifft, der gleich weiß, was Genesis, Yes, Zappa und King Crimson ist.



    Zu dieser objektiv vorhandenen emotionalen Kraft der Musik kommt dann noch eine Rezeptionsebene, die den Intellekt (ich würde lieber sagen: den Geist) der Menschen aktiviert. Fichtner knüpft diesen Gedanken an seine Erfahrungswerte, dass klassische Musik zum vertiefteren Hören einlädt, weil sie einen größeren Beziehungsreichtum aufweist, komplexer und herausfordernder ist. Umkehrschluss, den er auch andeutet: Rock und Pop haben diese den Geist herausfordernden Tiefenschichten nicht in diesem Maße.

    Und ich meine, dass das Wesen von Pop und Rock in der Tat sehr auf das Jetzt fokussiert ist, auf die ganz unmittelbare emotionale Wirkung. Dass sich Künstlys aus diesem Bereich mit musikalischen Formen und Tiefenschichten des Songwritings beschäftigen, die durch den Intellekt zu erfassen wären, ist natürlich nicht ausgeschlossen, ist meiner Erfahrung nach aber deutlich seltener und dann auch weniger ausgeprägt. Ich selbst kann also Barenboims Äußerung gut nachvollziehen: Das Bewusstsein für die Form der Musik, für die Vielschichtigkeit und vor allem sinnfälligen Beziehungen ihrer musikalischen Gestalten, ist bei den großen klassischen Komponisten so ausgeprägt, dass Emotion und Intellekt bzw. Geist "gleichgewichtiger" angesprochen werden. Aber klar: Das bleibt natürlich strittig, solange es nicht haarklein belegt ist... :)

    Da ist mir vieles, was der Fichtner sagt erstmal zu unverständlich (einfach auch wegen zu geringer Erfahrung meinerseits), muss ich zugeben. Aber es scheint mir auch darüberhinaus recht abstrakt und subjektiv. Ist es nicht so, dass Musik mich vor allem erstmal emotional, oder besser atmosphärisch abholen muss? Was nützt es mir, dass die Formentiefe enorm ist, wenn - gerade bei den klassischen Opern - die Vibes mich nicht erreichen, wenn das nicht meine Gefühlswelt ist. Dann würde die Beschäftigung mit der Komplexität der Musik auf der intellektuellen Ebene, zur reinen Theorie, zur Mathematik der Noten. Die halte ich persönlich eh nicht für das allein Seligmachende in der Musik, aber wenn es denn auch mal darum gehen soll, dann hole ich mir das lieber im Jazz. Für andere wiederum ist die Klassik dafür genau richtig.

    Ich will damit nur dem Absolutheitsanspruch, den der Fichtner doch irgendwie erhebt, etwas entgegensetzen. Er sagt zwar, dass jeder hören soll, was er mag, deutet aber auch an, dass er die Klassik auf jeden Fall für überlegen hält. Das ist sie aber nur, wenn man sich auf alle ihre Bedingungen einlassen kann/will, wenn man ihnen gehorcht. Ich zum Beispiel gehöre zu denen, die das nicht wollen/können.


    Aber jetzt ist die Zeit, mal endlich die Version der Brandenburger Konzerte aufzulegen, die ich mir nach unserer Diskussion neulich auf Vinyl zugelegt habe. Da freu ich mich drauf. Die von Ray Lomas vorgeschlagene Version gab es übrigens nicht zu kaufen.

    Bach: Brandenburg Concerti
    Johann Sebastian Bach · Album · 1994 · 18 Songs.
    open.spotify.com

  • Ich bin leider nicht ganz hinterhergekommen und habe eben noch im Posting drüber eine kleine Ergänzung gemacht.

    Ist es nicht so, dass Musik mich vor allem erstmal emotional, oder besser atmosphärisch abholen muss? Was nützt es mir, dass die Formentiefe enorm ist, wenn - gerade bei den klassischen Opern - die Vibes mich nicht erreichen, wenn das nicht meine Gefühlswelt ist. Dann würde die Beschäftigung mit der Komplexität der Musik auf der intellektuellen Ebene, zur reinen Theorie, zur Mathematik der Noten.

    Mein Gedanke dazu: Wenn egal wer sich nicht in irgendeiner Weise emotional getroffen fühlt, wendet man sich auch von den bedeutendsten Werken ab. Ich könnte mich zwingen, Bachs h-Moll-Messe durchzustehen, weil sie ja schließlich zum UNESCO-Weltdokumentenerbe erklärt wurde. Aber warum sollte ich das tun, wenn mich nicht irgendetwas daran auch emotional antreibt bzw. bei der Stange hält? Ich verstehe unter einer lebendigen Begegnung mit Kunst grundsätzlich auch ein emotionales Beteiligtsein. Ansonsten: völlig sinnlos.

    Ich will damit nur dem Absolutheitsanspruch, den der Fichtner doch irgendwie erhebt, etwas entgegensetzen. Er sagt zwar, dass jeder hören soll, was er mag, deutet aber auch an, dass er die Klassik auf jeden Fall für überlegen hält. Das ist sie aber nur, wenn man sich auf alle ihre Bedingungen einlassen kann/will, wenn man ihnen gehorcht. Ich zum Beispiel gehöre zu denen, die das nicht wollen/können.

    Das kann ich gut verstehen.

    Einerseits sehe ich auch diesen unschönen "Überlegenheitsanspruch", den Fichtner formuliert. Meine Erfahrungen decken sich damit allerdings auch in dem Sinne, dass ich schon so einige Rezeptionserlebnisse gemacht und -erfahrungen mit klassischer Musik gesammelt habe, die ich als "ganzheitlicher" bezeichnen würde als diejenigen, die ich mit Rockmusik gemacht habe. Und das umfasst sogar noch einiges mehr als "nur" Emotion und Intellekt/Geist. Auf den Punkt gebracht: Mit und in mir ist im günstigen Falle einfach mehr los, mehr an der Rezeption beteiligt. Deshalb widerspreche ich auch gerne, wenn mir jemand erzählen will, Musik sei ja "pure Emotion", und als Höry müsse man den "Kopf ausschalten", um sie angemessen zu rezipieren. Das stimmt so definitiv nicht.

    Andererseits sehe ich kein Problem darin, Rockmusik genau dafür zu schätzen, was sie ihrem Wesen nach tendenziell ist: auf die unmittelbare Wirkung des Augenblicks fokussiert (wer hat nochmal geschrieben, dass "Now" der Schlüsselbegriff für das Verständnis von Rockmusik ist?), eine Orgie des Affekts, der Spontaneität (und eben nicht der ausbalancierenden Reflexion), der Einseitigkeit. Die Anerkennung des atomistischen Augenblicks, der sich nicht um das Eben und das Gleich kümmern muss, lässt sich doch auch auf ihre Weise als eine Art der "Überlegenheit" verstehen.

    Und damit komme ich an den Punkt, an dem dieses "Überlegenheits-Dings" relativ wird, weil klar ist, dass es auf die Kriterien ankommt, die ich anlege.

  • Ich trage hier noch das nach, was ich vorhin nicht geschafft habe.

    Ich wunder mich übrigens auch zuweilen, wenn ich in die Oper gehe und über der Bühne die Texte eingeblendet werden, wie banal und überholt die teilweise sind. "Oh, wie schön ist diese Frau." "Man hat mir berichtet, sie gehört einem anderen." "Doch ich muss sie haben." "Ich werde sie ihm entreißen. Mir muss nur eine List einfallen."... so ungefähr...

    Es gibt wirklich grausame Libretti, und zwar nicht zu knapp. Ich möchte aber einen Gedanken dazuholen: Die Texte sind zum Singen da. Was sich gelesen schlimm ausnimmt, kann gesungen eine ganz und gar andere Qualität bekommen. Ich habe das ganz besonders an den Texten Wagners bemerkt, wie krass sich der "Weia! Waga! Woge, du Welle!"-Quatsch in der Musik als sehr reizvoll zu erkennen gibt. So wie bei Songtexten auch bin ich irgendwann drauf gekommen, dass es nicht zuletzt auf die klangliche Eignung und Entfaltung ankommt. Damit zusammenhängend: literarisch anspruchsvolle Formulierungen können sich in Musik sehr gestelzt und konstruiert anhören.

    Die Neue Musik wiederum ist ja tatsächlich innovativer und einflussreicher, als es manchen wohl zunächst scheint. Allein mal den Stockhausen genommen, ohne den es viellecht eine ganz wichtige Band des 20. Jahrhunderts - nämlich Can - gar nicht gegeben hätte, und der auch andere stilprägende Rockmusiker wie Grateful Dead und Steve Miller inspiriert hat. Und natürlich ein Werk geschaffen hat, das für sich besteht. Leider aber führt die Neue Musik auch ein Schattendasein. Zu komplex?

    Ich spekuliere dem Threadtitel entsprechend mal herum, dass sich die meisten Menschen mit nichttonaler Musik ziemlich schwer tun. Mit geräuschhafter Musik auch. Aber das ist natürlich nicht alles, was die Neue Musik an unkonventionellen Merkmalen mitbringt.

    Es sind dennoch Lern- und Gewöhnungsprozesse für das Gehirn möglich, sodass man sich in Neue Musik immer besser "einhören" und diese genießen kann. Beispiele dafür, dass sich auch Neue Musik nach und nach im klassischen Kanon einfindet, gibt es dementsprechend.

    Und seltsam, ja, da Du unter anderem Bachs Klavierwerke erwähnst. Ich glaube fast, das Piano taugt mit am besten für die Ewigkeit, vielleicht mehr als Streichorchester, vielleicht auch mehr als E-Gitarren. Ist es vielleicht in der Mitte aller Klänge? Ich habe dieser Tage zwei Konzerte von Keith Jarrett gehört, Bremen/Lausanne, alles allein auf dem Piano gespielt, aber es schien alles dabei zu sein, akustische, elektrische und elektronische Reize, Gefühle von Lakonie bis zur großen Geste und vieles dazwischen, das war universell. Bachs Kunst der Fuge auf dem Piano kommt dann jetzt auch wieder dran.

    Ich habe zwar auch den Eindruck, dass Klavierklang einer der großen zeitlosen Klassiker ist, aber der (sehr variable) Klang eines Sinfonieorchesters gehört ebenso noch immer zu den ganz etablierten Klangidealen. Nicht nur weil sinfonische Musik am meisten Klassik-Hörys zieht, sondern auch Bereiche wie Filmmusik belegen das m.E. sehr eindrucksvoll: Da wird u.a. klassikfernem Publikum dann ein ganzer Score untergejubelt, ohne dass dies negativ auffällt. Ich bin auch überzeugt davon, dass man mit Streichorchester viel mehr machen kann, als du es bislang abgespeichert hast.


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  • Mozart hat mit "Figaros Hochzeit" puren gesellschaftlichen Zündstoff vertont. In der "Zauberflöte" findet sich ein ganzes Arsenal an Zeichen, die für seine historische Situation höchst relevant und aussagekräftig waren. Beethoven hat sich mit seiner Zeit intensiv befasst (politisch, gesellschaftlich, philosophisch) und mehrfach entsprechende Bezüge in seinen Werken verankert. Der Humanitätsgedanke nebst Kritik an absolutistischer Willkür im "Fidelio", die Schlacht von Vitoria in "Wellingtons Sieg" (ästhetisch ziemlich bescheidene Komposition für seine Verhältnisse). Beide sind vereint im aufklärerischen Denken.

    Ja, ok, dann taten auch sie wahrscheinlich, was sie konnnten, zu ihrer Zeit. Inwieweit die Libretti ihrer Opern und die anderer in die Tiefe gehen, kann ich gar nicht beurteilen. Das wäre mal etwas, mit dem ich mich demnächst beschäftigen könnte. Mein Eindruck bisher war, dass die nicht so komplex und/oder so poetisch sind wie - aus meiner Sicht - zum Beispiel ein Dylan-Text. Eine Freundin meint allerdings, das beste an Wagner seien die Texte zum Ring.

    Einerseits sehe ich auch diesen unschönen "Überlegenheitsanspruch", den Fichtner formuliert. Meine Erfahrungen decken sich damit allerdings auch in dem Sinne, dass ich schon so einige Rezeptionserlebnisse gemacht und -erfahrungen mit klassischer Musik gesammelt habe, die ich als "ganzheitlicher" bezeichnen würde als diejenigen, die ich mit Rockmusik gemacht habe. Und das umfasst sogar noch einiges mehr als "nur" Emotion und Intellekt/Geist. Auf den Punkt gebracht: Mit und in mir ist im günstigen Falle einfach mehr los, mehr an der Rezeption beteiligt. Deshalb widerspreche ich auch gerne, wenn mir jemand erzählen will, Musik sei ja "pure Emotion", und als Höry müsse man den "Kopf ausschalten", um sie angemessen zu rezipieren. Das stimmt so definitiv nicht.

    Andererseits sehe ich kein Problem darin, Rockmusik genau dafür zu schätzen, was sie ihrem Wesen nach tendenziell ist: auf die unmittelbare Wirkung des Augenblicks fokussiert (wer hat nochmal geschrieben, dass "Now" der Schlüsselbegriff für das Verständnis von Rockmusik ist?), eine Orgie des Affekts, der Spontaneität (und eben nicht der ausbalancierenden Reflexion), der Einseitigkeit. Die Anerkennung des atomistischen Augenblicks, der sich nicht um das Eben und das Gleich kümmern muss, lässt sich doch auch auf ihre Weise als eine Art der "Überlegenheit" verstehen.

    Und damit komme ich an den Punkt, an dem dieses "Überlegenheits-Dings" relativ wird, weil klar ist, dass es auf die Kriterien ankommt, die ich anlege.


    Hm, ja, also, das Now-or-Forever-Ding, das ist so eine Sache, Ich kenn das mit dem Now auch, komm aber auch nicht drauf, wer es gesagt, geschreiben hat. Ich erwarte aber auch von jedem Konzert, dass es mich jetzt berührt, mir Kicks gibt, egal in welchem Genre. Und wenn ich mal so meine Rockkonzerte Revue passieren lasse, waren da natürlich eine Menge schlechte, die haben jedoch auch im Now nicht funktioniert. Es waren aber auch Myriaden von Akten des Affekts dabei, die sehr nachhaltig sind. Oder nehmen wir mal unten hinzugefügtes Stück von Miles Davis aus den 70ern (da hab ich ihn aber leider noch nicht erleben dürfen). Das ist alles spontan, Augenblick, improvisiert und genau so sicher nie wieder gespielt worden, aber mich bereichert das seit vielen Jahren immer wieder, emotional und intellektuell.

    Und mehr oder weniger wie in dem Extrembeispiel ist es es bei - guten, gelungenen - Rock-Konzerten doch auch. Wo ist der Unterschied zu einer Musik für die Ewigkeit? Mal abgesehen davon, dass auch die Hausband dieses Forums und meine Seelen-Band zu denen gehören, die doch auch über den Augenblick hinaus musiziert haben, auch auf der Bühne.

    Klar, ein Unterschied zwischen Klassik und Rock im Zeichen des Now ist natürlich, dass eine klassische Komposition bis ins Detail festgelegt ist, während es in der Populären Musik größere Freiheiten gibt und Spontanes sozusagen zum Spiel gehört. Aber das bedeutet ja nun keineswegs, dass die Musik im Augenblick verpufft und jede weitere Gültigkeit verliert.


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  • Oder nehmen wir mal unten hinzugefügtes Stück von Miles Davis aus den 70ern (da hab ich ihn aber leider noch nicht erleben dürfen). Das ist alles spontan, Augenblick, improvisiert und genau so sicher nie wieder gespielt worden, aber mich bereichert das seit vielen Jahren immer wieder, emotional und intellektuell.

    Ja, geht mir ähnlich. Ein paar Nischen-Heinis wie uns wird eine solche Aufnahme auch weiterhin noch Freude bereiten können. Da aber die Komposition nur das rudimentäre Grundgerüst des Ganzen ist, liegt die Sache hier nochmal ganz anders.

    Dass Davis als einer der größten Jazzmusiker schon jetzt im Museum angekommen ist, ist die eine Sache. Ob seine Aufnahmen und Kompositionen auch für zukünftiges kulturelles Leben eine mehr als nur kleine Rolle spielen werden, wage ich zu bezweifeln. Ich stelle mir so kleine versprengte Jazz-Zirkel vor, in denen man sich über solche Aufnahmen austauschen wird. Ich sehe vor meinem antizipierenden Auge ein paar Davis-Tribut-Nächte in Clubs, vielleicht auch mal in größeren Sälen. Aber natürlich auch: Jazz-Combos, die immer mal den ein und anderen Davis-Titel im Set haben. Edit: Ich sehe bei längerem Nachdenken noch einen großen Davis-Spielfilm, der mal für ein zwei Jahre eine kleine Renaissance nach sich zieht.

    Und mehr oder weniger wie in dem Extrembeispiel ist es es bei - guten, gelungenen - Rock-Konzerten doch auch. Wo ist der Unterschied zu einer Musik für die Ewigkeit?

    Ich selbst gehe eher von Vergänglichkeit als Ewigkeit aus. Aber wie gesagt: Selbst die bislang schlappen 200 plus x Jahre "Zauberflöte" sind schon herausragend viel. Zudem scheint es, als ginge das erstmal noch so weiter mit Aufführungen rund um den Globus. In puncto Langlebigkeit würde ich auf "Sgt. Pepper" weiterhin nicht in der Form wetten.

    Mal abgesehen davon, dass auch die Hausband dieses Forums und meine Seelen-Band zu denen gehören, die doch auch über den Augenblick hinaus musiziert haben, auch auf der Bühne.

    Ja, gerade der Prog hat ja diese Rückwendung zur tradierten Klassik und ihrem Werkbegriff inne. Da spielt die Bedeutung der Form und des künstlerischen "Gehalts" eine größere Rolle, meine ich.