Die Politik ist tot, es lebe die Politik! - kleiner politischer Frühschoppen, Live-Ticker, Austicker und was man sonst noch so zur Meinungsbildung braucht - oder auch nicht...

    • Offizieller Beitrag

    Wenn im Prinzip alle diesen Paragraphen für antiquiert und obsolet erachten, wenn es nicht einmal innerhalb der Bundesregierung Einigkeit über eine Strafverfolgung nach diesem Paragraphen gibt, es dann aber DOCH zu einer Ermächtigung der Staatsanwaltschaft kommt, nun ein Verfahren auf dieser Rechtsgrundlage in die Wege zu leiten, dann MUSS irgend jemand ein ziemlich großes Interesse daran haben.
    Und dass die SPD-Minister dieses nicht haben, ist ziemlich klar.


    Vielleicht ist Merkel einfach nur klar: Es gibt hier einen Rechtsstaat. Da gibt es eine Legislative, die macht die Gesetze, und eine Exekutive, die führt die Gesetze aus, und eine Judikative, die prüft, ob die Gesetze eingehalten werden. Und es gibt die sogenannte Gewaltenteilung, konkret angewendet: Die Exekutive hat der Judikative nicht dreinzureden, ob und wie sie ihre Arbeit macht. Ganz konkret: Die juristische Würdigung der Sachlage macht ein Gericht. Frau Merkel darf dazu eine Meinung haben, sie darf sie auch äußern, genauso wie du und wie ich. Aber urteilen tut ein Gericht. Und das Gericht urteilt auf der Basis der zum Tatzeitpunkt geltenden Gesetze, egal wie antiquiert oder modern dieses Gesetz sein mag.


    Aber tun wir mal so ... Welches "ziemlich große Interesse" hätte die Bundeskanzlerin daran, "mit allem Nachdruck" die Strafverfolgung zu erlauben? Immerhin erweckt es, wie hier auch schon geschildet wurde, damit so aus, als ließe sich die Bundesregierung von Erdogan vorführen. Das kann ja kaum ein "ziemlich großes Interesse" des Kanzlerin sein...


    Ich wiederhole die Frage gerne nochmal, vielleicht würdigst du sie einer Antwort ohne Vermutungen und dafür mit Belegen:
    Wo ist der Beleg dafür, dass Merkel die Strafverfolgung ermöglichen wollte? Wo ist der Beleg dafür, dass sie es "mit äußerstem Nachdruck" wollte?


    Zitat

    Merkel tut Erdogan hier ganz offensichtlich einen Gefallen. Sie offenbart damit einmal mehr die momentane Abhängigkeit der Bundesregierung von der türkischen Regierung.


    Merkel hält sich damit offensichtlich an die Verfassung und an geltendes Recht, das es verbietet, eine Klage niederzuschlagen, nur weil einem der Kläger unsympathisch ist.


  • Du unterschlägst hier, dass in diesem Fall diese Gesetzeslage eine "Einmischung" der Exekutive ausdrücklich erforderlich macht.


    Zitat von § 104a StGB

    Straftaten nach diesem Abschnitt werden nur verfolgt, wenn die Bundesrepublik Deutschland zu dem anderen Staat diplomatische Beziehungen unterhält, die Gegenseitigkeit verbürgt ist und auch zur Zeit der Tat verbürgt war, ein Strafverlangen der ausländischen Regierung vorliegt und die Bundesregierung die Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilt.


    Der von mir fett markierte Teil steht nicht im Gesetz, weil auf der Seite noch etwas Platz zu füllen war. Nein, hier wird von der Bundesregierung bereits eine Würdigung des Sachverhalts erwartet. Der Verweis, dass in einem Rechtsstaat Gewaltenteilung herrscht und sich die Exekutive somit aus Belangen der Judikative rauszuhalten habe, ist in diesem Fall Unsinn. Wenn Merkel die Ermächtigung zur Strafverfolgung Böhmermanns nicht zugelassen hätte, wäre das keineswegs ein Verstoß gegen geltendes Recht, wie von dir angedeutet wird, sondern im Gegenteil das Ausüben des gesetzlich ausdrücklich eingeräumten Ermessens- bzw. Beurteilungsspielraums (Ermessen und Beurteilungsspielraum sind juristisch unterschiedliche Dinge und ich kann gerade nicht auf die Stelle klären, um was es sich hierbei handelt).

    “THE NIGHT WE TRACKED DOWN PHIL COLLINS, BECAME BEST FRIENDS WITH HIM, AND TALKED HIM INTO REUNITING WITH PETER GABRIEL, AND THEN WE GOT TO SING BACKUP ON THE NEW GENESIS ALBUM AND IT WAS AWESOME!”

    — Barney Stinson, How I Met Your Mother, Season 7, Episode 21 ‘Now We’re Even’

  • Auch wenn meine vorherige Interpretation tatsächlich falsch war, hier bin ich ganz bei Eric, da das und im § 104a sehr eindeutig ist. Sie erlaubt ausdrücklich das Ablehnen des Ersuchens, da der Paragraph den Sinn und Zweck hat, den Staat davor zu schützen, dass ein anderer Staat innerhalb unserer Grenzen Politik betreibt. Die Zustimmung ermöglicht Erdogan nun genau das. Was das Interesse von Merkel betrifft, da empfehle ich, wenn du mal eine Stunde Zeit hast, die letzte Sendung von Anne Will, in der es nicht nur um das Gedicht, sondern auch das Türkei-Abkommen geht. Für einen politischen Talk war es abgesehen von dem unmöglichen AKP-Vertreter und seiner "beleidigten Ehre" eine sehr informative Sendung, auch Kalkofe als "Laie" war klasse.

    • Offizieller Beitrag

    Du unterschlägst hier, dass in diesem Fall diese Gesetzeslage eine "Einmischung" der Exekutive ausdrücklich erforderlich macht.


    Nicht im Mindesten! Wie du weiter oben nachlesen kannst, habe ich bereits dargestellt, dass ich diese Einmischung der Exekutive im Gegenteil sogar sehr problematisch finde!


    Ich kopiere die relevante Passage einfach nochmal hier hinein:
    Die Bundesregierung hat nicht nur den Herrn Böhmermann zu schützen, sondern auch die Rechtsordnung als solche. Also auch das Recht des Herrn Erdogan, gegen etwas, das für Beleidigung hält, vorzugehen. Artikel 3 Absatz 1 GG: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. In diesem Fall könnte man sogar behaupten, dass diese Gleichheit vor dem Gesetz und obendrein die Gewaltenteilung zumindest in Frage gestellt werden. Schließlich kann die Exekutive der Judikative vorschreiben, dass sie untätig bleiben muss - und die Bundesregierung kann Herrn Böhmermann vor juristischer Verfolgung schützen bzw. es Herrn Erdogan verweigern, eventuelle Rechtsansprüche geltend zu machen. Genau deshalb bin ich sehr dafür, dass dieser Eingriff nicht stattfindet.



    Zitat

    Nein, hier wird von der Bundesregierung bereits eine Würdigung des Sachverhalts erwartet.


    Allerdings keine rechtliche, sondern eine politische Würdigung des Sachverhalts.


    Zitat

    Wenn Merkel die Ermächtigung zur Strafverfolgung Böhmermanns nicht zugelassen hätte, wäre das keineswegs ein Verstoß gegen geltendes Recht, wie von dir angedeutet wird, sondern im Gegenteil das Ausüben des gesetzlich ausdrücklich eingeräumten Ermessens- bzw. Beurteilungsspielraums.


    Warum ich dies Bestimmung für einen Verstoß gegen die allgemeine Gleichheit vor dem Gesetz halte (wohlgemerkt: Nicht durch Frau Merkel, sondern durch die Gesetzgeber, die den Schah-Paragraphen erlassen haben): siehe oben.

  • Die Bundesregierung hat nicht nur den Herrn Böhmermann zu schützen, sondern auch die Rechtsordnung als solche. Also auch das Recht des Herrn Erdogan, gegen etwas, das für Beleidigung hält, vorzugehen. Artikel 3 Absatz 1 GG: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. In diesem Fall könnte man sogar behaupten, dass diese Gleichheit vor dem Gesetz und obendrein die Gewaltenteilung zumindest in Frage gestellt werden. Schließlich kann die Exekutive der Judikative vorschreiben, dass sie untätig bleiben muss - und die Bundesregierung kann Herrn Böhmermann vor juristischer Verfolgung schützen bzw. es Herrn Erdogan verweigern, eventuelle Rechtsansprüche geltend zu machen.


    Das ist so auch nicht ganz korrekt. Die Bundesregierung hätte nur ein Verfahren nach § 103 ablehnen können. Die bereits anhängige Klage Erdogans nach § 185 wäre von einer Ablehnung nicht berührt worden.
    Hier wird also nicht "das Recht des Herrn Erdogan, gegen etwas, das (er) für Beleidigung hält, vorzugehen" geschützt, sondern seinem Ansinnen stattgegeben, daraus eine Beleidigung für sein Amt abzuleiten.
    Ich bin im übrigen auch der Ansicht, dass dieser spezielle juristische Vorgang folgerichtig ist. Nicht, weil ich ihn für gut oder gerechtfertigt halte (da gehen ja auch bei Juristen die Meinungen sehr weit auseinander), sondern weil das die logische Konsequenz des Telefonats ("bewusst verletzend") ist. Meine Meinung hierzu brauche ich vermutlich nicht noch einmal zu erläutern.

    al's Lebensweisheiten:

    "Man muss sich seiner Arroganz schon bewusst sein, um sie genießen zu können."

    Einmal editiert, zuletzt von al board () aus folgendem Grund: Optische Gründe


  • Ich bin im übrigen auch der Ansicht, dass dieser spezielle juristische Vorgang folgerichtig ist. Nicht, weil ich ihn für gut oder gerechtfertigt halte (da gehen ja auch bei Juristen die Meinungen sehr weit auseinander), sondern weil das die logische Konsequenz des Telefonats ("bewusst verletzend") ist. Meine Meinung hierzu brauche ich vermutlich nicht noch einmal zu erläutern.


    Al, so sehe ich das auch. Hätte Merkel einfach gepflegt die Klappe gehalten und den Fall kommentarlos der Justiz zugeschoben, wäre es für mich ein immer noch akzeptabler Vorgang gewesen. Man hätte sagen können, die Politik nehme sich hier bewusst zurück, da derlei Fragen von der Justiz verhandelt gehören. Das wiederum hätte auch als ein angemessenes Zeichen an Erdogan gelten können (wobei ich nicht sagen will, dass es mir die liebste Lösung gewesen wäre - im Nachhinein denke ich, Merkel hätte ein großes Schild mit dem Wort 'Satirefreiheit' hochhalten und Erdogan eine Absage hinsichtlich der Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilen sollen, das wäre das wohl stärkste Zeichen gewesen).


    Da Merkel aber nicht zögerte, ihre ablehnende Haltung zur Satire auszuposaunen, bekommt der Gesamtzusammenhang des politischen Vorgangs nun eine Art von Folgerichtigkeit, die mir sehr sauer aufstößt. Merkel hat einen dicken Fehler gemacht. Und dieser Fehler wird - ob sie will oder nicht - immer mit einer Art von Abhängigkeit und Schwäche bezüglich der Türkei in Verbindung gebracht werden.


  • Aber tun wir mal so ... Welches "ziemlich große Interesse" hätte die Bundeskanzlerin daran, "mit allem Nachdruck" die Strafverfolgung zu erlauben? Immerhin erweckt es, wie hier auch schon geschildet wurde, damit so aus, als ließe sich die Bundesregierung von Erdogan vorführen. Das kann ja kaum ein "ziemlich großes Interesse" des Kanzlerin sein...


    Merkels Priorität ist der Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei. Damit dieser möglichst reibungslos abläuft, gilt es, Kritik an und Angriffe gegen Erdogan und seine(r) Politik zu verhindern oder wenigstens zu minimieren.
    Dass sie sich dabei von Erdogan vorführen lässt, sieht sie entweder nicht, oder aber es ist für sie das kleinere Übel, demgegenüber das Scheitern ihrer Flüchtlingspolitik das größere Übel ist.
    Deshalb wird auch seit geraumer Zeit die politische Entwicklung in der Türkei kaum noch von ihr angemessen kritisiert. Die zahlreichen Einbestellungen der Botschafter wegen Nichtigkeiten (Extra3-Satire) oder Selbstverständlichkeiten (Beobachtung des Strafprozesses gegen türkische Journalisten) werden auch eher auf Nachfrage kommentiert und dann auch nur sehr vage.
    Die auch über ihren Sprecher verbreitete Einschätzung der Böhmermann-Satire als "bewusst verletzend" und der Hinweis an die Türkei, dass das ZDF den Beitrag ja schon entfernt habe, sind dann der Gipfel einer selbstlosen Beschwichtigungsrhetorik.
    Wenn das für dich als Beleg nicht reicht, kann ich dir auch nicht weiter helfen. Ich bin mit meiner Vermutung aber nicht alleine. Unter anderem hat Wolfgang Bosbach die Reaktion der Kanzlerin heute in einer ähnlichen Weise bewertet.

    But we never leave the past behind, we just accumulate...

    "Von jedem Tag will ich was haben

    Was ich nicht vergesse

    Ein Lachen, ein Sieg, eine Träne

    Ein Schlag in die Fresse"

    • Offizieller Beitrag

    Das ist so auch nicht ganz korrekt. Die Bundesregierung hätte nur ein Verfahren nach § 103 ablehnen können. Die bereits anhängige Klage Erdogans nach § 185 wäre von einer Ablehnung nicht berührt worden.


    Natürlich geht es nur um §103 und nicht um §185! Ich habe niemals etwas anderes behauptet, das wäre ja auch Unfug.


    Zitat von al board

    Hier wird also nicht "das Recht des Herrn Erdogan, gegen etwas, das (er) für Beleidigung hält, vorzugehen" geschützt, sondern seinem Ansinnen stattgegeben, daraus eine Beleidigung für sein Amt abzuleiten.


    Es gibt kein "Ansinnen", eine "Beleidigung für sein Amt" abzuleiten, dem "stattgegeben" worden wäre. §103 StGB bestimmt "Wer ein ausländisches Staatsoberhaupt ... beleidigt, ..."
    Erdogan ist Präsident der Republik Türkei und als solcher Staatsoberhaupt der Republik Türkei.
    Das bedeutet: Erdogan kann §103StGB in Anspruch nehmen und die Aussagen von Böhmermann überprüfen lassen. Da gibt es nichts herumzudeuteln über eine "Beleidigung für sein Amt", sondern: Er ist Staatsoberhaupt, er fühlt sich beleidigt, und damit darf er seinen Anspruch nach §103 StGB geltend machen. Da ist nichts mit "Beleidigung für sein Amt", da erzählst du, pardon: Unfug.
    Ob tatsächlich eine Beleidigung stattgefunden hat, wird irgendein Richter feststellen müssen, den ich im Übrigen um diese Aufgabe nicht beneide.

  • Es gibt kein "Ansinnen", eine "Beleidigung für sein Amt" abzuleiten, dem "stattgegeben" worden wäre. §103 StGB bestimmt "Wer ein ausländisches Staatsoberhaupt ... beleidigt, ..."
    Erdogan ist Präsident der Republik Türkei und als solcher Staatsoberhaupt der Republik Türkei.
    Das bedeutet: Erdogan kann §103StGB in Anspruch nehmen und die Aussagen von Böhmermann überprüfen lassen. Da gibt es nichts herumzudeuteln über eine "Beleidigung für sein Amt", sondern: Er ist Staatsoberhaupt, er fühlt sich beleidigt, und damit darf er seinen Anspruch nach §103 StGB geltend machen. Da ist nichts mit "Beleidigung für sein Amt", da erzählst du, pardon: Unfug.


    Man verzeihe mir meine rhetorischen Unzulänglichkeiten, die mich zu der irrigen Annahme brachten, ich könne "Staatsoberhaupt" und "Amt" einfach gleichsetzen. Muss wohl an meiner Affektion für (manchmal groben) Unfug liegen. Und an zu wenig Rotwein, den ich mir jetzt genehmige.

    al's Lebensweisheiten:

    "Man muss sich seiner Arroganz schon bewusst sein, um sie genießen zu können."

    • Offizieller Beitrag

    Man verzeihe mir meine rhetorischen Unzulänglichkeiten, die mich zu der irrigen Annahme brachten, ich könne "Staatsoberhaupt" und "Amt" einfach gleichsetzen. Muss wohl an meiner Affektion für (manchmal groben) Unfug liegen. Und an zu wenig Rotwein, den ich mir jetzt genehmige.


    Ich verzeihe dir großmütig. Aber eigentlich ist es ganz einfach: Das Gesetz macht keinen Unterschied zwischen der Person und dem Amt. Es gibt also kein "Ansinnen, eine Beleidigung für das Amt" festzustellen. Will heißen: Es greifen hier zwei Paragraphen. Ja, mei.