Three Sides Live (Album)

auf der 4-sides live doppel-lp waren live auf der vierten seite drauf:
one for the vine
fountain of salmacis
it/ watcher of the skies

Budapest, 1984: Es war eine komische Situation: Wir; ich und mien Kumpel Sven,
liefen durch eine der weniger belebten Hauptstrassen. Ein Typ folgte uns, und
starrte unentwegt auf meine weiße, etwas transparente Tragetasche, durch
die FOXTROT und die Rückseite von PETER GABRIEL III durchschimmerten. Der
Typ stellte sich schließlich vor mich, und redete erst ungarisch, dann deutsch auf
mich ein; nach dem Motto, ich möge ihm folgen. Ich verstand die Worte "Genesis!",
"Zene" (ungarisch für Musik), "nicht weit". Mein Freund Sven und ich verabredeten,
uns in etwa einer halben Stunde auf dem berümten, in der Nähe liegenden Vörösmarty
Tér zu treffen; einem Platz, der in etwa dem Alex in Berlin entsprach; nur, dass in
Budapest viel mehr los war: Maler, Straßenmusikanten, Pantomime usw.

Ich folgte dem Typen also in einen finsteren Hauseingang, und wir stiegen dann in
eine Wohnung in den ersten Stock. Dort lagen dann, ausgebreitet, eine ganze Menge
Westplatten, nicht nur von Genesis. Die einzige, die mich so richtig interessierte, war
das Doppelabum THREE SIDES LIVE. Ich beäugte die Platten und das Cover genau,
fand indes keinen Fehler daran. Bezüglich des Verkaufspreises einigten wir uns auf
600,- Forint, dass entsprach etwas 120,- Mark der DDR. In den großen Schallplatten-
geschäften, wie etwa dem "Fonograf", oder dem Händler in der Sziv-Utca, rechterhand
des Nyugaty-Bahnhofes; hätte mich das Doppelalbum mindestens 800,-; eher noch
850,- Forint gekostet. Es war also ein gutes Geschäft. Der Typ erklärte mir noch,
dass er in einem kleinen Dorf wohne; Westplatten von ungarischen Sportlern, die in
den Westen reisen durften, abkaufe; und im Sommer -quasi extra, um die
ostdeutschen Touristen abzupassen -, in Budapest ein Zimmer gemietet hatte.

Es war ja immer so eine Sache mit den Schallplattenkauf in Budapest. Hätten die
DDR-Zollkontrolleure etwas mehr Grips (oder einen noch böseren Willen) gehabt;
hätten sie sich sagen müssen, dass die Forint, die zu konvertieren einem DDR-
Bürger überhaupt erlaubt waren, niemals für 20 Westplatten nebst zwei Wochen
Aufenthalt in Ungarn reichen würden - dass also jemand, der 20 Westplatten in
die "Zone" einführen wollte, in irgendeiner Hinsicht etwas illegalen Dreck am
Stecken haben mußte - seien es nun hunderte geschmuggelte D-Mark, oder
illegale Mehrbeschaffung von Forint durch mehrere Zollerklärungen, auf die man,
für einen eventuellen Notfall, noch einmal 100,- Mark der DDR tauschen konnt.
Na; manchmal hatte ich 10 solche Dinger (der Geldtransfer wurde dann darauf
abgestempelt und eingetragen; sodass man sie dafür nur einmal benutzen konnte);
manchmal hatte ich Westgeld in einer wieder verschlossenen Schatel Zigaretten
der Marke "Semper" oder "Cabinet", unter dem Silberpapier versteckt.

THREE SIDES LIVE kannte ich bislang nur in Auszügen, dank der Sendung "Duett,
Musik für den Recorder". Das war mal eine gute Sache an der DDR; da wurde oft
Musik im Radio gespielt, die sich die Westsender in diesem Umfang niemals zu
spielen getraut hätten. Ich wußte also ungefähr, was mich erwarten sollte.
Natürlich handelte es sichbei der von mir gekauften Version um die Ausgabe für den
Rest der Welt-, von der englischen hatte ich allenfalls Gerüchte gehört. Was ich also
im Radio gehört hatte (Abacab, Me And Sarah Jane, Dodo/Lurker, Turn It On Again)
hatte mich - im Rahmen des möglichen - doch sehr angesprochen. Es wäre ja
töricht gewesen, 1982 auf eine Fortsetzung von SECONDS OUT zu hoffen.
Insofern gefiel mir an dem Doppelalbum die Kraft und Frische, die die Live-
Interpretationen hatten.

Es kommt bei mir eigentlich so gut wie nie vor, dass mir irgendwelche Live-Versionen
jemals besser gefallen, als die entsprechenden Studio-Aufnahmen; dafür bin ich zu
sehr Perfektionist. Live fehlt mir meistens irgend etwas Entscheidendes, zum Beispiel
die akustischen Gitarren im Mittelteil von "Eleventh Earl Of Mar". Aber bei THREE SIDES
LIVE geschah es, dass mir zumindest die Titel von ABACAB wesentlich besser gefielen,
als die entsprechenden Studio-Fassungen. Sie waren auf das Wesentliche, den Rock,
den Beat, den Drive reduziert; unnötiger Schnickschnack (zum Beispiel die für mich
unpassenden Bläser bei Dodo/Lurker) fehlten oder würden (meinenm Bild der Band
Genesis entsprechender) durch Synthis substituiert.

Das Album ABACAB hatte mich gerade sehr enttäuscht; nicht gänzlich, aber über weite
Strecken. Desto erstaunlicher fand ich es, dass sie von mir leidenschaftlich gehassten
Tiel "Who Dunnit?", "Man On The Corner", "No Reply At All" auf THREE SIDES LIVE
erfreulicherweise abwesend waren. Eigentlich ein absolutes Wunder. Es war beinah so,
dass ich mir auch "Keep It Dark" noch auf dem Album gewünscht hätte. Was mir das
Doppelalbum trotzdem mies tönte, solte dann eher die vierte Seite werden. Was war
das überhaupt für eine blöde Idee, Drei Seiten Live?! Was soll der Unsinn?! Was soll
diese "Resteverwertung" (so erschien es mir damals) auf der vierten Seite?! Das war ja
Teils noch schlimmer als der oben genannte "Mist", mit dem ich auf ABACAB konfrontiert
wurde. Dieses grauenvolle "Paperlate". Mensch Phil, mach das doch auf deinen
Soloplatten. Warum versaust du uns die gesamte Genesis Musik? Wie können Mike
und Tony das nur zulassen? (So dachte ich damals jedenfalls). Und die anderen Titel
erschienen mir bestenfalls langweilig. Grauenvoll "Me & Virgil" mit dem grotesken
Versuch eines Gitarrensolos; die beiden Duke-Reste noch das Beste an dem
Konglomerat. Als ich dann erfuhr, welche Perlen stattdessen auf der vierten Seite
der englischen Ausgabe waren; war ich wohl den Tränen nahe. Insofern wurde
THREE SIDES LIVE bei mir zu etwas Negativen. Ausverkauf, dachte ich.
Das Ende aller Kreativität.

Ich redete mir ein, dass die DUKE-Tour wesentlich Besseres zu bieten gehabt hätte.
Heute muß ich diese Meinung revidieren. Es kommt bei mir ebenfalls sehr selten vor,
dass mir etwas Späteres besser gefällt, als etwas Früheres. Aber die DUKE-Tour hat
mich doch enttäuscht. Zum einen ist es die arg kraftlose, langsame Interpretation der
Titel. Zum anderen die technische Imperfektion bei der Abmischung: Die Gitarren sind
oft auf die falschen Seite der Stereo-Kanäle gemixt; Daryl steht, wie dereinst Steve,
links (vom Zuschauerraum gesehen; wir hören ihn ("Dank" der BBC-Techniker, denke
ich), rechts. Und oft viel zu leise oder gar nicht. Viel zu leise auch einige Keyboards
von Tony, insbesondere bei "Dukes Travels/End". Heute weiß ich THREE SIDES LIVE
also etwas besser einzuordnen.

Inkonsequent ist natürlich auch die vierte Live-Seite der englischen Ausgabe.
Zwei Titel der Theatre-Duke-Tour kommen nun doch zu ihrem Recht.
Immerhin hören wir nun eine sehr gute, wennauch ebenfalls zu langsam vorgetragene
Version von "Fountain Of Salmacis", bei der Phil und Daryl die Sache von Peter und
Steve recht gut machen. "One For The Vine" ist ebenfalls ganz okay, 3 Jahre früher
hätte der Song aber frischer geklungen. Der instrumentale Mix aus "It" und "Watcher"
mit Bill Bruford aus dem Glasgow-Konzert von 1976 (auf der DVD fehlt er ja leider) lässt
einen natürlich etwas unbefriedigt zurück.

Fazit: Ich höre das Doppelalbum inzwischen recht gern; und finde, es ist besser,
als sein Ruf.