Am Hofe des karminroten Königs 3: In den Wind gesprochen
King Crimson: "I talk to the wind" https://www.youtube.com/watch?v=zAwYRhlALLY
"I talk to the wind" ist mit gut 6 Minuten Dauer der Shorttrack des ersten Albums. Und es ist nicht nur das kürzeste, sondern auch das musikalisch leichtgewichtigste Lied. Ein Paar Querflöten turteln anfangs harmonisch und fast schon folkig durch die schwach bewegten Lüfte und alterniert später mit einem Pendant von Klarinetten, das Schlagzeug setzt zunächst helle Akzente und gleitet später in feinen Grooves weiter, die Gitarre lässt im Refrain glöckchenhafte Töne erklingen - und Greg Lake singt die Strophen schlicht und dezent mit sich selbst im Duett. Easy listening. Woher eine sanfte Melancholie rührt, ist kaum zu sagen, aber sie ist spürbar. Und zwar schon längst, bevor im Refrain zum ersten Mal überhaupt ein Mollakkord auftaucht. Als das Stück dann praktisch schon zu Ende ist, darf sich abschließend eine Querflöte noch allein und spielerisch frei durch den Wind schlängeln - steigend, fallend, gleitend... und das Herz des von unten zusehenden Betrachters stets durch Anmut verzückend.
Das ist bis auf Lakes Intonationsprobleme alles von beträchtlichem Liebreiz. Und damit auch ein jeweils sehr großer Ausdruckskontrast zum vorangegangenen (das aggressive "21st century schizoid man") und nachfolgenden (das elegisch-pathetische "Epitaph") Track auf dem Album. Und so macht es auch richtig Sinn. Es gibt Progbands, die das nicht kapieren. Auf deren Alben ein schwergewichtiges 20-Minuten-Epos an das nächste geklatscht wird. Als ob die Bedeutsamkeit von Musik so vergrößert würde. Aber das Gegenteil ist der Fall. Echte Höhepunkte entstehen erst im Kontrast bzw. nachdem die Musik auf sie hin entwickelt wurde. Massiver Bombast nimmt sich selbst die Wirkung und wird ermüdend, wenn er inflationär bemüht wird. Ein Höhepunkt, umgeben von gleichartigen Höhepunkten, ist kein Höhepunkt mehr. "For absent friends" ist eine dramaturgische Notwendigkeit.
Wie Genesis auch, die hierfür wirklich Spezialisten sind, beweist der karminrote König bei seiner Premiere ein ganz, ganz feines Händchen für die wirkungsvolle Abfolge verschiedenster Ausdruckswelten. Es ist unwahrscheinlich faszinierend, darauf zu hören, wie sinnhaft jeweils Stückenden und Stückanfänge der Tracks miteinander korrespondieren oder sogar verbunden sind - so mischt sich z.B. in den ausgelassenen Abschluss von "I talk to the wind" der bedeutungsschwere Paukenwirbel, mit welchem "Epitaph" dann beginnt. Das ist alles sehr sorgfältig gestaltet und einer der Gründe dafür, dass das Album auch als Gesamtentwurf so abgerundet erscheint.
Man kann diesen Aspekt wohl prinzipiell auf so ziemlich jedes Album King Crimsons ausdehnen: In ihrem Werk prallen enorm kontrastierende Ausdruckswelten aufeinander, teilweise auf engstem Raum. Vom knüppelharten Exzess über surreale / ironisierte Verfremdungen bis hin zu zärtlichster Poesie bietet die Band eine riesige emotionale und stilistische Bandbreite. Nicht zuletzt die langsamen Stücke, die lyrischen Töne sind es, die den Hörern durch die Jahrzehnte hindurch auch immer wieder die Wärme geben, ohne die das Gesamtwerk wohl nur wenig erträglich und deutlich ärmer wäre.
Es kommt, was kommen musste: das 'Aber'. Denn: Der Text mag sich den obigen Überlegungen auf den ersten Blick irgendwie nicht so richtig anschließen. Jedenfalls nicht dem attestierten Liebreiz, eher schon dem melancholischen Unterton. Es offenbaren sich hier sogar Parallelen zu dem, was ich vor ein paar Tagen zum musikalisch so deutlich kontrastierenden "Epitaph" schrieb. In "I talk to the wind" heißt es an einer Stelle: "Much confusion [!], disillusion / All around me". Auch hier also wieder der Hinweis auf eine ernüchternd prosaische, dabei aber bezeichnenderweise desorientierte und verwirrte Umgebung, in welcher sich das Ich findet - bzw. sich wohl gerade nicht findet. Denn sein Blickwinkel auf diese Art von Wirklichkeit ist derjenige des Außenstehenden: "I'm on the outside looking inside".
Und eine weitere Parallele: Sprache erweist sich in dieser Welt als ungeeignet, als flüchtig oder sogar nichtig. Im nachfolgenden "Epitaph" hieß es: "The wall on which the prophets wrote / Is cracking at the seams". Hier, in "I talk to the wind", findet sich die Sprachskepsis schon im Titel angedeutet. Und dann heißt es im Refrain: "My words are all carried away / (...) The wind does not hear / The wind cannot hear." Verständigung also ausgeschlossen. Es bleiben Einsamkeit und Vereinzelung in einer äußerst instabilen, aus den Fugen geratenen Welt - und Melancholie als eine Ausdrucksmöglichkeit dessen, sie zu ertragen.