Bericht/Interview FAZ 03.06.2008

  • Genesis über die Frage, ob sie klassisch sind: Da geht es doch auch um die Ewigkeit - Menschen - Gesellschaft - FAZ.NET dort auch mit Bilderserie vom Interview


    Genesis über die Frage, ob sie „klassisch“ sind
    „Da geht es doch auch um die Ewigkeit“


    03. Juni 2008 Phil Collins, Tony Banks und Mike Rutherford von Genesis haben im Gespräch mit unserem Autor versucht, ihre eigene Rolle zu definieren. Außerdem reden sie über Madonna, die Schere im Kopf und die Sehnsucht nach Einfachheit.


    Meine Herren, der Gegenwartskomponist Pierre Boulez hat einmal gesagt, dass er sich nicht sicher sei, welche Musik in hundert Jahren klassisch sein wird - seine oder die von Madonna. Was glauben Sie?
    Banks: Eines kann ich ziemlich sicher sagen: Madonna wird wohl kaum klassisch werden. Denn was ist schon klassisch? Doch das, was bleiben wird, oder? Madonna ist eine geniale Erscheinung, aber weniger durch ihre Musik als durch das, was sie jenseits ihrer Musik für ein Image aufbaut. Für mich ist sie das Gegenteil von klassisch - vielleicht modernistisch.
    Collins: Mensch, Tony, jetzt wirst du aber gleich am Anfang ziemlich persönlich.
    Banks: Na ja, aber es geht doch auch um die Ewigkeit. Also gut, ich glaube, dass jemand wie Brian Wilson von den „Beach Boys“ klassisch ist, weil er wirklich Bleibendes geschrieben hat und auch technisch interessant war - er hat als Erster Innovationen wie einen Acht-Kanal-Multitrack benutzt.


    Also reden wir nicht länger um den heißen Brei herum: Sind Genesis klassisch?
    Banks: Da kann ich nur mit Boulez antworten: Ich weiß es nicht. Wir selbst denken nicht in der Kategorie des Klassischen. Schließlich machen wir Rock - und da zählt nur die Gegenwart und nicht das, was in der Zukunft vielleicht Vergangenheit sein wird. Mir kann auch niemand erzählen, dass Beethoven für die bürgerlichen Konzertbesucher unserer Zeit geschrieben hat. Er wollte die Leute seiner Zeit erreichen. Was danach kam, war Zufall oder Beweis der Stärke seiner Musik.



    Lustigerweise haben Sie einmal Mahler, Debussy und Rachmaninow als Vorbilder für Genesis genannt.
    Banks: Aber wir haben nicht dagesessen und überlegt, wie man Rachmaninow in die Zukunft übersetzen könnte. Am Anfang von Genesis ging es darum, neue Formen des musikalischen Erzählens zu finden. Und, ja, wir wollten etwas Episches schaffen, Rock, der sich Zeit nimmt, einen Gedanken oder ein Gefühl auszuformulieren. Bei dieser Überlegung spielte klassische Musik natürlich auch eine Rolle.


    Sie reden besonders von der Anfangszeit mit Peter Gabriel, als Sie noch legendäre Konzeptalben wie „The Lamb Lies Down on Broadway“ gemacht haben. Als Sie, Phil Collins, kamen, wurden die Stücke wieder kürzer. Gleichzeitig wurde die Stage-Show größer. Der Pop wurde zu einer Form der großen Oper.


    Collins: Als ich zu Genesis kam, standen wir jenseits aller Schubladen, die damals bedient wurden. Und auch später verweigerten sich viele unserer Stücke noch dem damaligen Trend, irgendwelche Beziehungsprobleme in möglichst drei Minuten abzuhandeln. Wir haben das „Phantasy“-Element integriert, haben auf die Broadway-Bühnen geschaut und versucht, unsere Songs auch in Bilder umzusetzen. Die Bühnenshow war ein optisches Mittel, die Musik eindringlicher zu vermitteln, also eigentlich die logische Konsequenz, der Musik eine weitere Ebene zu geben.
    Rutherford: Die Bildsprache war ja auch nur ein Teil dessen, was Genesis ausmacht. Was wirklich neu war, waren instrumentale Zwischenspiele, die es so nicht gegeben hat. Auch das ist, wenn Sie es so wollen, ein sehr klassisches Mittel. Uns ging es darum, die Gedanken des Zuhörers nicht nur in den Gesangsteilen zu lenken. Wir wollten, dass sich die Eindrücke in den instrumentalen Passagen frei entfalten können. In der Rückschau glaube ich auch, dass dieses der Punkt war, an dem die Bühnenshow und die Videos plötzlich einen neuen Aspekt bekommen haben: Sie haben nicht mehr das gesungene Wort interpretiert, sondern die psychologischen Subtexte, die Atmosphäre eines Songs. Insofern ist der Vergleich mit der Oper vielleicht gar nicht so falsch, auch wenn wir darüber nie konkret nachgedacht haben.
    Collins: Tatsächlich hatten wir das Gefühl, dass man in den Songs nicht immer alles und jedes Wort verstanden hat, und das Bild kam hinzu, um den emotionalen Charakter unserer Lieder deutlicher erscheinen zu lassen.


    Mit Ihnen, Herr Collins, galten Genesis plötzlich als „Bombastrocker“ - dabei sind Songs wie „One for the Vine“ doch klassische Suiten.
    Collins: Das liegt an Tony, der von uns das größte Klassik-Faible hat.
    Banks: Ja, und ihr habt deshalb dauernd über mich gelacht! Weil ich klassische Musik mag. Dauernd musste ich mich verteidigen und schwören, dass mein Herz in Wahrheit für den Rock schlägt. Aber ich habe eben auch einiges aus der Klassik aufgesogen, von dem ich fand, dass es wichtig für den Rock sein könnte. Letztlich war es ja so, dass wir am Anfang von Genesis wirklich alle Ideen aus jedem Feld der Musik und der Kunst an sich aufgesogen, gefiltert und nach unseren Vorstellungen verarbeitet haben, um einen neuen Klang zu finden. Es ging uns nie darum, revolutionär zu sein, aber wir fanden es schon langweilig, so zu sein wie alle anderen.
    Collins: Es ist ja auch ein Irrglauben, dass wir plötzlich angefangen hätten, auf die Charts zu schielen. Die meiste Musik, die wir in den vergangenen zwanzig Jahren geschrieben haben, ist sehr organisch entstanden, meist in langen Prozessen. Und es war unser Ziel, bei jedem Song wieder bei null anzufangen. Auch das könnte zu dem Eindruck beitragen, dass es sich bei Genesis um klassische Musik handelt: Sie ist homogen mit den Menschen und Ideen gewachsen, aus denen sie entstanden ist.
    Rutherford: Das Lustige ist ja, dass auch die Songs, die es dann in die Charts geschafft haben, eigentlich auf die gleiche Art und Weise entstanden sind wie die anderen. Ich habe bis heute nicht verstanden, welche Stücke erfolgreich werden und welche nicht, denn letztlich entspringen alle demselben Prozess.


    Aber es ist schon auffällig, dass Ihre Songs irgendwann kürzer wurden und - mit Verlaub - auch populärer.
    Rutherford: Ja, aber am Anfang waren selbst unsere Chart-Songs noch länger. Nur plötzlich kam die Industrie, die wir eigentlich nie im Nacken hatten, dazu und hat gesagt: „Ey, Jungs, dieses kurze Stück könnte ein toller Trailer für das Album sein. Das passt auch ins Radio.“ Letztlich kann man schon sagen, dass das eine Entwicklung des Marktes war und nicht unserer musikalischen Seele. Die haben wir aber weiterhin auf unseren Konzerten baumeln lassen.
    Banks: Wir waren ja auch nie wirklich erfolgreich wegen der Chart-Plazierungen, sondern weil wir als Live-Band verstanden wurden.


    Aber ist das Problem heute nicht noch viel größer? Sie hatten wenigstens noch am Anfang die Freiheit, zu machen, was Sie wollten. Heute haben junge Bands Angst, ein Konzeptalbum aufzunehmen - weil ihre Plattenfirma Angst hat.
    Rutherford: Ach, das gibt es schon alles noch, das Problem ist nur, dass es nicht mehr erfolgreich ist. Denn heute ist leider nur noch erfolgreich, wer es ins Fernsehen schafft. Und ins Fernsehen schafft es nur, was nicht länger als drei Minuten dauert. Deshalb höre ich Musik auch lieber auf Platte oder in Konzerten. Ich kann nur jedem raten, es auch so zu tun, denn nur auf diesen Entdeckungsreisen findet man die guten, langen, epischen Songs, die eine viel größere Chance haben, irgendwann mal klassisch zu werden.
    Collins: Wir hatten früher so etwas wie Blankoscheine der Industrie. Wir konnten machen, was wir wollten, und wurden trotzdem gespielt. Es gab keine Schere im Kopf. Heute sagen die Companys zu den jungen Künstlern: „Wir glauben, hier ist irgendwas falsch, könnt ihr nicht dieses oder jenes ändern?“ Wir haben unsere Platte selbst aufgenommen, und dann wurde sie gepresst. Fertig. Das gibt es heute nicht mehr.


    Ist das ein Grund, warum Sie sich in den vergangenen Jahren hauptsächlich auf das Recyceln alter Songs verlassen haben, anstatt nochmal etwas Neues zu wagen?
    Collins: Das stimmt so ja nicht, auf der Bühne haben wir durchaus neue Songs gespielt. Auf der anderen Seite sehen wir aber auch, dass das Publikum zu uns kommt, um die alten Stücke zu hören - und es gibt keinen vernünftigen Grund, sie nicht zu spielen.


    Doch: Um zu beweisen, dass Sie nicht selbst schon klassisch sind.
    Collins: Ich finde, dass wir das nicht beweisen müssen.


    Es ist schon erstaunlich, dass die großen alten Bands wie die Rolling Stones und Sie gerade wieder ein kollektives Revival feiern, während der Rest der Rock- und Pop-Musik sich in immer kleineren, spezialisierten Kreisen abzuspielen scheint.
    Banks: Vielleicht waren wir tatsächlich die letzten Bands, die noch von so etwas wie einem kollektiven Mainstream profitiert haben. Und damit meine ich nicht populäre Effekte, sondern einen gesellschaftlichen Konsens. Oder zumindest eine Situation, in der es zwei Lager gab: die einen, die dafür waren, die anderen, die dagegen waren. Es ist in unserer komplizierten Welt doch sehr schwer geworden, sich auf eine Mode, einen Stil, auf das Richtige oder Falsche zu einigen. Alles ist sehr vielschichtig geworden, sehr detailliert und versprengt. Die jungen Musiker haben damit zu kämpfen, dass es heute für jede individuelle Lebenshaltung einen individuellen Musikstil gibt. Das war bei den Stones oder bei uns und auch bei Pink Floyd anders: Es gab Fans und Feinde. Die Welt war sehr einfach - und ich glaube, dass es auch heute noch eine Sehnsucht nach dieser Einfachheit gibt. Sie könnte eines der Erfolgsrezepte der Revivals sein.


    Eigentlich hat diese Spaltung Genesis ja auch getroffen - plötzlich wurde der Punk zur Gegenbewegung Ihrer Musik.
    Banks: Auch das lag in der Luft. Nur ist das selbst in der Klassik nicht anders. Nach der Zwölfton-Musik zählten große Epochen wie das Barock, die Klassik oder die Romantik nicht mehr. Es gab keinen Konsens über Harmonien, Ausdruck und Formen mehr. Das ist wie bei den Planeten: Erst ist das sehr übersichtlich, und dann kommt der Asteroiden-Gürtel. Selbst Klassik-Komponisten formen sich heute ihre individuellen Musik-Systeme. Und was ist die Konsequenz? Leute, die keine Klassik-Freaks sind, so wie Phil und Mike, haben keine Lust, sich damit auseinanderzusetzen. Also, Jungs, wer ist euer amtierender Lieblings-Klassik-Komponist?
    Collins: Ich habe keine Ahnung! Ich finde die Fotos von Rachmaninow toll.
    Banks: Siehst du - der ist seit sechzig Jahren tot. Wer kennt diese Leute von heute noch? Ist Mark-Anthony Turnage etwa der größte englische Gegenwartskomponist?


    Ist er es?
    Banks: Ich habe keine Antwort. Aber ich glaube, dass die Klassik wirklich in einer Krise steckt, in die sie geraten ist, als sie sich separiert hat und unbedingt unharmonisch sein wollte. Elgar war noch so populär, dass die ganze Welt auf seine neuen Stücke gewartet hat. Ich glaube, dass die Gemeinde, die auf ein neues Stück von Harrison Birtwistle wartet, sehr überschaubar ist. Ich kann Ihnen jedenfalls sagen, dass ich an Komponisten wie Birtwistle kein Interesse habe. Sorry, aber vielleicht irre ich auch, und in hundert Jahren ist er der angesagteste Künstler des 21. Jahrhunderts.


    Also, meine Herren ist der Pop also doch die neue Klassik?
    Banks: Auf jeden Fall ist Brian Wilson für mich klassisch. Und die Beatles auch.
    Rutherford: Ich habe keine Ahnung, was die Leute in zweihundert Jahren hören werden. Bach, sicherlich noch Bach.
    Collins: Man muss dann doch auch schon mal sagen, dass niemand gedacht hat, dass die Stones mit sechzig Jahren immer noch auf der Bühne stehen und erfolgreich sind.
    Banks: Und Elvis! Verdammt, Heartbreak Hotel ist über fünfzig Jahre alt und noch immer ein saugeiles Album. Da sollen die Leute der Klassik, die schon damals auf den Pop heruntergeschaut haben, einfach mal die Klappe halten.


    Viele sagen, dass mit Elvis der Pop gestorben ist.
    Collins: Das hängt davon ab, ob man Elvis mag oder nicht. Ich glaube, dass er nichts geschrieben hat, damit es bleiben wird. Ich persönlich habe meine Schwierigkeiten mit Elvis. Ich verstehe den ganzen Zirkus, der um ihn gemacht wird, nicht. Vielleicht liegt es daran, dass er nicht meine Zeit war. Ja klar, er hat einige klassische Alben gemacht, aber ich würde immer die Beatles vorziehen.


    Warum das?
    Collins: Elvis hat die Popgeschichte nicht wirklich revolutioniert - eigentlich ist er auch stehengeblieben. Die Beatles haben dagegen fast mit jedem Song Popgeschichte geschrieben. Ich würde sie in meine Klassik-Kollektion einreihen. Sie fangen mit B an, kommen also gleich neben Beethoven.


    Genesis entstand 1967 aus den Mitgliedern von zwei Schülercombos: Tony Banks (Keyboard), Mike Rutherford (Gitarre und Bass), Peter Gabriel (Gesang), Anthony Phillips (Gitarre) und Chris Stewart (Schlagzeug). 1969 erschien das erste Album („From Genesis to Revelation“), ein Jahr später folgte „Trespass“. Im gleichen Jahr kam Phil Collins (Schlagzeug) dazu, 1971 folgte Steve Hackett (Gitarre). 1972 gelang mit dem Album „Foxtrot“ der Durchbruch. Im August 1975 verkündete Gabriel seinen Abschied von Genesis, daraufhin übernahm Collins die Rolle des Sängers. 1977 kehrte auch Hackett der Band den Rücken - das nächste Album hieß folglich „And Then There Were Three“, mit dessen Song „Follow me“ Genesis ihren ersten Hit in Amerika landete. 1986 erschien das mit 24 Millionen verkaufter Exemplare erfolgreichste Genesis-Album „Invisible Touch“, 1991 „We Can't Dance“ (22 Millionen). Fünf Jahre später verließ Collins die Band, Rutherford, Banks und der neue Sänger Ray Wilson konnten jedoch nicht an die Erfolge anknüpfen. Zwischen 1998 und 2006 war Genesis nicht aktiv, dann kam es zu einer Reunion von Rutherford, Banks und Collins - und zu „Turn it on again - the tour“.


    Das Abschlusskonzert der Europa-Tour ist seit dem 23. Mai 2008 auf dem DVD-Paket „Genesis - When In Rome“ (26,95 Euro) zu erleben.

    Tony Banks - der virtuoseste und beste Komponist und Keyboarder!


    Tour 1987: Mannheim / Tour 1992: Hockenheim / Tour 1998: Mannheim / Tour 2007: Frankfurt - Düsseldorf

  • Danke, Chrysanthus, dass du dieses interessante Interview hier eingestellt hast :topp:

    Saw that look of recognition

    When they know just who you are