Ein paar Fixpunkte am progressiven Horizont

  • So, das wird vielleicht ein etwas längerer Beitrag, aber ich versuche, nicht allzu sehr auszuschweifen.


    Auch, wenn es aus dem Genesis-Umfeld wohl nicht mehr so viel neues zu erwarten gibt, ist der ganze Sektor progressive rock ja nicht gerade einer, in dem es an Output und Bands mangelt. Ich zumindest bin in den letzten Jahren immer wieder auf einige gestoßen, die mich sehr beeindruckt haben und die hier meiner Meinung nach eine Erwähnung wert sind. Dabei geht es mir eher um unbekanntere und oft auch jüngere Bands, bei denen ich mich auch frage, ob ihr von denen schon mal gehört habt.

    Haken, The Pineapple Thief, Riverside etc. lasse ich hier mal bewusst weg. Die brauchen glaube ich nicht extra erwähnt zu werden und haben ja auch eigene Threads. ;)

    Ich würde diesen Thread sozusagen als "Sammelthread" interpretieren, weil ich die Bands mal erwähnen, aber für keine extra einen neuen Thread aufmachen wollte.

    Vielleicht kann ich ja den einen oder anderen anfixen, der sich die Zeit nimmt ;) hier ein paar der Bands und Alben, die mir in den letzten Jahren aufgefallen sind; einige danke Erwähnung auf den BBS.


    Pervy Perkin - ToTeM / Comedia: Inferno


    Zu Beginn lassen wir es gleich mal krachen. Pervy Perkin kommen aus Spanien, wurden wohl um 2010 rum gegründet und wenn man es einordnen wollte, rangieren sie irgendwo zwischen Prog-Rock und Prog-Metal (wie es ja zugegeben bei vielen neueren Bands der Fall ist). Selber beschreiben sie sich mit "Some interestingly weird shit". Nicht verwunderlich, dass sie sich mal als Fan von Bands wie Haken geoutet haben. Es klingen aber auch absurd viele andere Stile an, zu viele, um hier alle aufzuzählen. Die Band besteht aus der klassischen Fünfer-Besetzung, singen können die alle hervorragend und der Keyboarder Alex Macho growled sich hin und wieder durch einige Abschnitte.

    2014 kam das etwas wirre Debut "Ink" in Eigenproduktion, 2016 folgte mit "ToTeM" ein Highlight meines musikalischen Jahres. Zwar über 78 Minuten Spielzeit auf 9 Songs aufgeteilt, aber das ganze Album lässt sich wahnsinnig gut durchhören. Das Herzstück bildet "Mr. Gutman" mit 26 Minuten und steht stellvertretend für das ganze Album: exzellente Produktion und kristallklarer Klang, etliche verschieden Stile, die immer passend inszeniert sind und dennoch alles stringent und schlüssig: so vielseitig (und auch mutig) habe ich lange keine Band mehr erlebt. Dazu beißend satirische und humoristische Lyrics.

    Am Anfang und am Ende steht jeweils ein weiterer Longtrack. "I Believe" als Opener kommt etwas straighter daher, aber nicht weniger charismatisch und "T.I.M.E." am Ende hält wieder andere Stimmungen und selbst nach einer Stunde Musik noch Überraschungen bereit, mit denen man nicht rechnet...Ursula von der Leyen hätte wohl nicht gedacht, dass sie mal auf einem 19-Minüter einer spanischen Band Erwähnung findet.

    Vor wenigen Wochen kam mit "COMEDIA: INFERNO" der Nachfolger, die Produktion hat die Band auf Verkami gesichert (so etwas wie das spanische Crowdfunding): https://www.verkami.com/projects/22786

    Wie der Name andeutet, behandelt das aktuelle Album inhaltlich Dantes Magnum Opus, lyrisch also schon mal anspruchsvoll und eine ambitionierte Idee. Die Umsetzung der verschiedenen Charaktere, die von allen 5 Bandmitgliedern und einigen Gastsängern gesungen werden, ist schon genial. Musikalisch geht das Album verglichen mit dem Vorgänger doch recht deutlich in Richtung Metal; daher ist das 2016-Album vielleicht als Einstieg etwas freundlicher. Immerhin bleibt die Band nicht auf der Stelle, sondern entwickelt sich und man darf gespannt sein, was noch kommt.

    Alle drei Alben gibt's zum name-your-price als mp3 bei bandcamp: https://pervyperkin.bandcamp.com/



    Karmic Juggernaut - The Dreams that Stuff are made of


    Karmic Juggernaut is eine amerikanische Band, die wohl schon länger existiert, aber nach 2 EPs erst letztes Jahr (nach Aufnahme eines Keyboarders und eines Sängers) als erstes vollwertiges Album "The Dreams that Stuff is made of" herausbrachten. Auch einige der Attribute der Spanier oben finden sich hier wieder: sehr humoristisch, technisch grandios eingespielt, vielseitig und als Album trotzdem schlüssig.

    Wer heraussticht, ist sicherlich der Sänger Daimon Santa Maria. Der Vergleich mit Jon Anderson hinkt nicht, die Intonation ist stets grandios! Dabei ist er wohl in erster Linie eher zeichnender Künstler als Sänger und als solcher sogar polizeilich verifizierter Phantombild-Zeichner. Dazu aber eben auch Multi-Instrumentalist.

    Insgesamt haben wir auch hier progressive / psychodelic rock, der aber auch in alle Richtungen ausschert und das Album so grandios macht; es macht einfach Spaß, das durchzuhören.

    Dabei ist es wichtig, dass man sich vom Opener "Bottomless Gypsy Pit" nicht abschrecken lässt, der einen wohl erstmal umhaut, aber auf völlig andere Weise, als man vermuten würde. Dass man wirklich SO ein Album eröffnen kann...^^

    Später haben wir allerlei kleine Spielereien mit singenden Sägen, Theremin, hochdynamischen Gitarren-Soli, wobei die 6-köpfige Kernband von den "extended KJ" mit 3 Bläsern und einem Percussionisten unterstützt wird.. Dazu das 9-minütige Fast-Instrumental "Moving", das einen wie im Rausch in den Bann zieht. Unterm Strich also ein sehr spannendes und abgefahrenes Teil!

    https://karmicjuggernaut.bandc…ms-that-stuff-are-made-of

    http://karmicjuggernaut.com/



    Pinn Dropp - Perfectly Flawed


    Unnötige, persönliche Anekdote vorab: Ich höre Alben eigentlich immer als ganzes, besonders jene, die ich neu habe. Kann mich auch nicht erinnern, je einen Track geskippt zu haben. Vor diesem Hintergrund hatte ich dieses Album schon eine ganze Weile auf dem Fiio-Player, ohne mich ranzutrauen...schon wieder 70 Minuten Spielzeit, 3 Tracks über 10 Minuten, davon einer über 20, dazu ein regelrechter Lyrics-Overflow. Ermüdend? Überfordernd? Vielleicht sogar langweilig?

    Nicht im geringsten! Aber der Reihe nach: Pinn Dropp ist eine polnische Band, über die nicht wirklich viel bekannt ist. Nach einer EP Ende 2017 und einem Einzeltrack kam Ende 2018 das Album "Perfectly Flawed".

    Und auch dieses lässt sich unheimlich gut durchhören. Es ist ein sehr kohärenter Band-Sound zu erkennen, die Arbeitsteilung scheint aufzugehen: ein Gitarrist, der komponiert, die Gesangsmelodien werden vom Sänger und Keyboarder beigesteuert, der Drummer macht die Arrangements.

    Das Album klingt ehrlich und authentisch, öfter mal etwas retro und bleibt eher auf der Prog-Schiene, ohne allzu sehr ins metallische zu manövrieren.

    Der Unterschied zu den beiden eben genannten Bands ist sicherlich, dass die Musik von Pinn Dropp insgesamt nicht so schräg, weniger "abgehoben" ist. Was an der Wirkung aber nichts zum negativen verändert: es ist ein sehr charismatisches Album, das trotz der Länge ziemlich auf den Punkt gebracht ist und sympatisch "reduziert" und "bescheiden" klingt...verstecken muss es sich dabei nicht. Den eigenen Stil scheint die Band bereits gefunden zu haben.

    Ein Indiz dafür ist das Ende des über 20-minütigen Titeltracks: wo andere Bands (etwa Dream Theater, an denen sich Pinn Dropp wohl teilweise orientieren) wohl einen Pathos-Overkill aus etlichen Orchester- und Gitarren-Spuren eingesetzt hätten, bleiben Pinn Dropp sich und ihrem Sound treu; und einen Longtrack eben nicht mit einem Übermaß an Epos enden zu lassen, halte ich für verdammt stilvoll, sehr passend und gelungen. In einer Rezension habe ich gelesen, die Band versuche auf diesem Album, immer so progressiv wie möglich zu klingen...und genau dieses Eindruck habe ich eben nicht.

    Zuletzt kann man sagen, dass die zentrale Message, dass man mit all seinen Fehlern doch irgendwie perfekt ist, nicht übermäßig originell ist; aber von Pinn Dropp so ehrlich und bodenständig rübergebracht wird, dass ich es ihnen abkaufe.

    https://pinndropp.bandcamp.com/album/perfectly-flawed


    Red Bazar - Tales from the bookcase / things as they appear


    Red Bazar ist eine britische Band, die die letzten Jahre immer mal wieder was veröffentlicht hat, aber erst mit Einstieg des von "Tiger Moth Tales" bekannten Sängers und keyboarders Pete Jones und dem Album "Tales from the bookcase" 2016 größere Aufmerksamkeit erregte. Jones machte ja zuletzt auch bei Camel durchaus guten Eindruck: https://www.youtube.com/watch?v=M0SqfOSdDsQ

    "Tales from the bookcase" behandelt vor allem lyrische Themen, viele Ideen sind literarischen Werken entnommen, etwa aus Orwells "1984", Kurzgeschichten von Arthur Conan Doyle, dem Roman "HMS Ulysses" von Alistair Maclean und mit dem Song "Calling her On" gibt die Band eine Antwort seitens der Ehefrau von Major Tom...can you hear me?

    Wieder tauchen vermehrt Longtracks auf, wieder ist das Album aber konsistent. Was auffällt, ist der raue und direkte Gitarrensound, der schon sehr im Vordergrund steht (und teilweise schon deutlich weniger "clean" klingt, als bei vergleichbaren Bands) und natürlich die Stimme von Pete Jones und dessen emotionaler Gesang. Jones ist wohl die tragende Säule dieses Projekts, der die unterschiedlichsten Stimmungen und Emotionen transportieren kann und als Sänger sehr vielseitig agiert.

    Anfang Januar diesen Jahres kam mit "Things as they appear" der Nachfolger und tatsächlich entwickelt sich die Band; hier geht es eher um die Realität, um Paranoia, um Enttäuschungen. Der teilweise etwas verträumte Sound weicht kühleren Arrangements und lässt so eben eine andere Seite der Band anklingen: von Storys, die in Büchern im Regal zu finden sind hin zur kühlen Wirklichkeit...wie die Dinge erscheinen, so wie sie nun mal sind. An anderer Stelle las man, Jones würde auf dem Rausschmeißer "We Will Find You" intonieren, wie einst Gabriel auf "Intruder"...der Vergleich hat schon seinen Grund. Sehr spannend anzuhören!

    www.redbazar.co.uk/
    https://redbazar.bandcamp.com/album/tales-from-the-bookcase


    Eveline's Dust - The Painkeeper / K


    Eine italienische Band, die bereits 2016 mit "The Painkeeper" eine LP lieferte und aktuell mit "K" ein beeindruckendes Prog / Jazzfusion-Album vorlegt. Sehr verspielte Arrangements, luftig instrumentiert und ein - für eine recht junge Band - erstaunlicher Sinn für passende Stimmungen an den richtigen Stellen. "K" klingt ausgereift und sehr intelligent und schafft eine gelungene Balance zwischen aggressiven Parts und zurückhaltenden Kontrapunkten.

    Auf deren Website liest sich "the world is a work in progress(ive)". Weniger Sätze beschreiben das aktuelle Drumherum meiner Meinung nach besser.

    https://www.evelinesdust.com/



    Schon danke an die, die es bis hier geschafft haben ;) Weiterhin erwähnenswert:


    All traps on Earth - A Drop of light

    Skandinavisches Projekt, an dem die letzten Jahre immer mal wieder gewerkelt wurde, schließlich gegen Ende 2018 erschien und instrumental gut funktioniert.


    Gleb Kolyadin

    Der iamthemorning-Keyboarder geht in seinem ersten ebenfalls 2018 erschienenem Soloalbum als Pianist voll auf. Glanzvolles Piano-Album, das mit "The Best of Days" von Steve Hogarth gesungen einer meiner Lieblings-Balladen der letzten Jahre enthält.


    Machines Dream - Black Science

    Kanadisches Projekt, das schon einige Jahre existiert und aktuell sein Archiv etwas aufgefrischt hat. Haben 2017 mit "Black Science" ein beachtliches Album vorgelegt, das die Bedrohlichkeit der aktuellen Weltlage ganz zu zusammenfasst.


    Rikard Sjöblom's Gungfly - On her journey to the sun / Friendship

    "Gungfly" das Solo-Projekt des von Beardfish bekannten Rikard Sjöblom. Zuletzt kam 2018 mit "Friendship" ein sehr schönes Album, das eine gekonnte Brücke zwischen Art-Rock und Retro-Prog schlägt und auch einige passend eingesetzte Country-Anleihen bietet.



    Habe über diesen Artikel nun länger nachgedacht und wollte ihn jetzt mal online stellen...vielleicht kann ja jemand was damit anfangen. Hab hoffentlich niemanden mit diesem Text-Overflow überfordert :)

  • Rhys Marsh - October after all


    Passend zur trüben Jahreszeit und vielleicht auch zur Stimmung mancher bin ich über den mir vorher völlig unbekannten Rhys Marsh gestoßen, dessen Album "October after all" schon im Februar erschien. Marsh stammt wohl aus GB, wohnt inzwischen in Norwegen und hat die letzten Jahre immer wieder Musik veröffentlicht, wovon ich mich bislang intensiver nur mit dem hier angesprochenen Album beschäftigt hab.

    Selten hatte man wohl beim Titel eines Albums eine so genaue Vorstellung, wie die Musik darauf klingen mag…und lag dabei genau richtig! Kommt der Opener "River" noch relativ unbeschwert und aufgelockert daher, wird es mit dem Verlauf des Albums zunehmend melancholischer, düsterer, teils fast ein wenig tragisch. Dabei zeigt sich Marsh so stilsicher, dass er es schafft, zwar wehmütig und wahnsinnig gefühlvoll zu singen, ohne jedoch affektiert zu wirken oder ins Sentimentale abzudriften. Die Stimme und der Gesang sind die tragenden Elemente des Albums. Musikalisch und von der Stimmung und Atmosphäre ist sicher auch eine Verbindung zu "The Pineapple Thief" gegeben, wobei letztere im Sound nicht so "Retro" sind wie Marsh.

    Woran hat mich das Album am meisten erinnert? Eine solch konsequente Melancholie hab ich bewusst bislang nur bei Hacketts "Guitar Noir" entdeckt. Während dort aber irgendwann der Bruch einsetzt, bleibt dieser bei Marshs Album in der Art aus.

    Groovende, rhythmisch starke und musikalisch optimistischere Momente sind zwar auch hier zu hören; die Stärke des Album liegt aber in dessen Schwermut, in der Tristesse und der absolut authentischen Elegie, die Marsh in Tracks wie "Butterflies" oder "One Hundred Memories" oder dem Titeltrack und Finale "(It will be) October After All" - mit einem gesanglich unterstützenden Tim Bowness irgendwo ganz weit hinten - so ausdrucksstark vermittelt. So bleibt es ein emotional warmes Album, das sich aber trotzdem wie die akustische Manifestierung eines verregneten Herbsttages anfühlt.


    https://rhysmarsh.bandcamp.com/album/october-after-all

    Einmal editiert, zuletzt von Munro ()