Die Politik ist tot, es lebe die Politik! - kleiner politischer Frühschoppen, Live-Ticker, Austicker und was man sonst noch so zur Meinungsbildung braucht - oder auch nicht...

  • Ist doch bereits so, die die am lautesten Schreien werden gewählt. Oder wie soll man sonst erklären, dass obwohl die Leute so intelligent sind und immer das optimale wählen, die Erde (und Deutschland) dermassen am Arsch ist

    Man höre sich den Song „Crime of the Century“ von Supertramp genau an. Dann weiß man, wer die Schurken auf dieser Erde sind. „Rip off the masks and let‘s see!“

    I'll never find a better time to be alive than now.

    Peter Hammill (on "X my Heart")

  • Oder noch kürzer ausgedrückt: Der Ruf nach härteren Strafen ist nichts weiter als billigster Populismus, der Versuch den "gerechten Volkszorn" für den Wahlkampf oder für die Quote/Auflage urbar zu machen. Geholfen wird dabei niemandem - weder den Tätern, dir nicht Täter sein wollen, noch den Opfern.

    Jein. Ich gebe dir Recht, dass die meisten, die jetzt härtere Strafen fordern, dies aus populistischen Beweggründen tun.


    Allerdings hält der Ulmer Kinder- und Jugendpsychiater Professor Jörg Fegert in einem lesenswerten Interview mit der FAS [leider nicht frei zugänglich] dies - neben vielen anderen Maßnahmen wie Hilfsangeboten für Kinder und Familien (z.B. Bystander), besserer Aus- und Weiterbildung für Erzieher, Lehrer, Ärzte und Familienrichter - für mehr als nur eine symbolische Maßnahme. Man müsse sich zwar vor der Illusion hüten, dass die Täter dadurch abgeschreckt würden, denn viele von ihnen seien "aufgrund einer Persönlichkeitsstörung oder Paraphilie wie süchtig" nach Bildern oder direkter Gewalt an Kindern.

    Zitat

    Trotzdem ist der Vorschlag richtig, weil das Unrecht dieser Taten deutlicher als bisher zum Ausdruck kommt. Die Statistik der Verurteilungen etwa zeigt, dass bislang kaum Freiheitsstrafen jenseits der Bewährungsschwelle verhängt werden. Das wird der Schwere der Delikte und dem Ausmaß an organisierter Kriminaliät nicht gerecht.

    • Offizieller Beitrag

    Wenn, wie Abbacab zitiert, "bislang kaum Freiheitsstrafen jenseits der Bewährungsschwelle verhängt werden", dann bedeutet dies: Der aktuelle Strafrahmen (je nach Fall bis fünf bzw. bis zu zehn Jahren) wird überhaupt nicht ausgereizt.


    Dann ist es doch völliger Quark, die mögliche Höchststrafe auf ... keine Ahnung ... zehn und zwanzig Jahre hochzusetzen (oder natürlich die auch immer wieder gern geforderte Todesstrafe).


    Die Gerichte müssen nicht in die Lage versetzt werden, härtere Strafen zu verhängen.

    Die Gerichte müssten den aktuellen Strafrahmen nach oben hin ausreizen.


    Für die Leute, die nach härteren Strafen rufen, gilt allerdings mit Sicherheit Tucholskys Wort: "Den Unterschied zwischen zwei und zweieinhalb Jahren Haft* macht sich auch nicht der Tausendste unter ihnen klar."


    *) im Original steht hier "Zuchthaus". Das habe ich angepasst, weil es diese Strafform in Deutschland nicht mehr gibt.

  • Mich machen im Kinderschänder-Thema die tiefen Gräben besonders unter den Liberalen besorgt: Warum solch unproduktives Schwarz-Weiß-Bashing?

    Fixierung auf Prävention /vs./ # alle Strafen sind populistisch ;

    "Alleinheilung Therapie" /vs./ # alle Schutzmaßnahmen sind Stasi

    Der Ruf nach mehr Therapie, mehr Prävention und allgemeiner Stärkung des kindlichen Selbstschutzes durch Kita, Kiga und Schule ist absolut richtig, das kann doch wohl kein klar denkender Mensch bestreiten.

    Aber da ist die Realität. Vergessen wir mal einen Moment, dass 2020 weder Suchtkranke noch ganz normale Depressive zeitnah an adäquate Kassen-Therapieplätze kommen, dass die Plätze für Opfer, geprügelte Frauen und lerngestörte Kinder gegen Null gehen.

    Um ein Therapieangebot für offenbar zigtausende Kinderschänder und Bilder-User zu schaffen, müssten sofort ganze Kohorten junger Menschen sich nach dem Abi für >Medizinische Psychotherapie< entscheiden, Geld und Kraft in die lange Ausbildung stecken. Müssten bewußt entscheiden, ihre Seele darauf zu trainieren, zwischen "Pädopilen die keine Täter sein wollen" und Manipulationen härtester Betrüger und Psychopathen unterscheiden zu können. Müssten sich finanziell für einen Krankenkassen-Stundensatz entscheiden, statt Privatpatienten zum zigfachen Satz abzurechnen... tbc

    Will sagen: Mehr Prävention meint immer eine politisch von oben gesteuerte Lenkung eines aus gebildeten Menschen bestehenden Therapieangebots. Das setzt massivste Investitionen, Anreize sowohl finanzieller Art als auch Kostenfreiheit der Ausbildung, Erleichterung der Kassenzulassung usw. voraus. Es würde sich lohnen, aber wer packt es an, wie und womit? Zu Ende gedacht: Was, wenn sich kein Abiturient auf solche Zukunft einlassen will?


    Personal-Aufstockung + Fortbildung: Richter schöpfen erstaunlich häufig den Strafrahmen in Missbrauchsfällen nicht aus. Es fällt zudem eine erstaunliche Häufung von erstklassigen Strafverteidigern in Kinderschänder-Fällen auf, die nur zu hohen Stundensätzen aktiv werden und einem kleinen Hascherl niemals zur Verfügung stehen. Beides müffelt.

    Fachleute bemängeln daneben eine viel zu geringe Personal-Ausstattung und einen großen Fortbildungsbedarf sowohl bei Richtern (Familienrecht, IT, modernen Medien) als auch bei Sozialarbeitern und Kommunalbehörden. Mehrere Fälle härtesten Missbrauchs fanden unter den Augen der leider überforderten Behörden statt. Also auch hier: Jede schöne Vorstellung von Optimierung scheitert im Moment noch an der Realität. Wer zahlt und organisiert die dringend notwendigen Fortbildungen?


    Ermittler + IT: Es macht Hoffnung und ist ein Lichtblick, was die Spezialteams in den den letzten Jahren geleistet haben. Vielen Dank an alle, die das ermöglichen. Sie sagen, es sei nur die Spitze des Horrors. Der gigantische Milliardenmarkt der Schänderei ermöglicht rasante technische Aufrüstung der Profischänder. Hoffentlich können hier die Gegen-Mittel mitwachsen.


    Härtere, längere Strafen für harte Täter würden diese länger von den Opfern fernhalten. Lange Jahre im Gefängnis machen wohl kaum jemanden zum besseren Menschen, aber bei diesen harten Tätern ist leider wirklich keine Rückkehr zur Menschlichkeit vorstellbar.

    Damit den anderen, den nicht-harten Usern, die Entscheidung erleichtert wird, KEIN Täter zu werden, könnte ein hoher Entdeckungs-Druck

    nicht verkehrt sein.


    Eine sehr fachkundige Runde dazu gab es vor 2 Wochen im

    Presseclub 05.07.2020


  • Es wundert mich, dass du dich mit dieser Thematik zu beschäftigen scheinst, aber einen gewichtigen Gesichtspunkt nicht erkennst. Ich zitiere mal die Zeit:

    Zitat

    Lambrecht will alle Fälle sexuellen Missbrauchs künftig als Verbrechen ahnden, was Mindeststrafen von einem Jahr nach sich ziehen würde. Bislang sind nicht schwere Fälle des Kindesmissbrauchs lediglich als Vergehen eingestuft, was mit geringeren Mindeststrafen verbunden ist.

    Wenn der Strafrahmen (insgesamt) erhöht wird, führt dies (nahezu) automatisch zu schärferen Strafen. Auch wenn Tucholsky natürlich mit Sicherheit Recht hat.

    • Offizieller Beitrag

    Das stimmt zwar, trifft aber nicht, was ich sagen wollte, nämlich:


    Die Gerichte bleiben - der Kritik zufolge, deren Wahrheitsgehalt ich hier nicht bewerte - eher im unteren Bereich der Strafmöglichkeiten und schöpfen den Strafrahmen nicht nach oben hin aus. Das wird sich auch mit einer Erweiterung des Strafrahmens nach oben nicht ändern (höchstens durch eine Einengung des Strafrahmens durch Anhebung der Mindeststrafe. Was bei besonders schweren Fällen gegeben ist: Hier verdoppelt sich die Mindeststrafe).


    Deutlich härtere Strafen sind heute schon möglich. Sie werden aber offenbar nicht verhängt.





    Soweit dieses. Ergänzend dazu: Richter sind Juristen. Ich bin keiner. Ich unterstelle den Richtern, dass sie wissen, welches Strafmaß angemessen ist. Es ist möglich, dass ich und andere Außenstehende, die mit den fraglichen Fällen nicht vertraut sind, das Strafmaß als unpassend empfinden. Sollten wir hier nicht darauf vertrauen, dass diejenigen, die damit viel öfter zu tun haben, wissen, was sie tun? (Wenn nicht: Sagt ihr eurem Zahnarzt, wie tief er bohren muss?)




    Der Ruf nach mehr Therapie, mehr Prävention und allgemeiner Stärkung des kindlichen Selbstschutzes durch Kita, Kiga und Schule ist absolut richtig, das kann doch wohl kein klar denkender Mensch bestreiten.

    Aber da ist die Realität. ... [längere, eloquente Passage gekürzt; die kann man ja oben nachlesen]

    Zu Ende gedacht: Was, wenn sich kein Abiturient auf solche Zukunft einlassen will?

    Ja, da ist die Realität mit den von dir geschilderten Problemen. Sollte man es denn dann lassen, weil es eine große, vielleicht allzugroße Aufgabe mit viel Arbeit, wenig Geld und wenig Ruhm ist? Ich meine: Nein. Eine einzige Therapeutenperson, die eine einzige Person davor schützt, ihre fehlgeleitete Neigung zu Kindern auszuleben, ist schon eine Verbesserung. Und viele Wenig sind ein Viel.

  • Ja, da ist die Realität mit den von dir geschilderten Problemen. Sollte man es denn dann lassen, weil es eine große, vielleicht allzugroße Aufgabe mit viel Arbeit, wenig Geld und wenig Ruhm ist? Ich meine: Nein. Eine einzige Therapeutenperson, die eine einzige Person davor schützt, ihre fehlgeleitete Neigung zu Kindern auszuleben, ist schon eine Verbesserung. Und viele Wenig sind ein Viel.

    Absolute Zustimmung. Jeder Helfer zählt. Ganz innigen Dank an alle, die auf diesem Feld aktiv sind! Auch jeder einsichtige und sich selbst am Riemen reißende, impulskontrollierende Gefährder ist lobenswert.


    Gewissensfrage: Wollen wir das Kostbarste, das wir haben, wirklich auf Dauer dem Zufall überlassen? Auf das Glück spekulieren, dass gerade in unserer Nähe ein solcher Therapeut freie Plätze hat, um fehlgepolten Männern und Frauen zum Schutz unserer Kinder wirksam und dauerhaft helfen zu können?


    Uns fehlen neben in sehr hohen Zahlen gebrauchten Spezial-Therapeuten und den ebenso heftig benötigten IT-Spezialisten, den extrem stark benötigten Kindes-Familienrechtlern und Sozialpädogogen ja auch noch andere. Da sagen die Experten im Fernsehen: Wir müssen die Kinder stark machen. Aber niemand stellt genügend Kitaplätze noch genügend Geldmittel zu Ausbildung, Anwerbung und Bezahlung wirklich guter Kindergärtnerinnen bereit.


    Wenn es soviel Bedarf an wirklich guten Fachkräften gibt, muss da nicht unser demokratisch beauftragtes Bildungs- und Ausbildungssystem ganz anders vorgehen? Technisch, strukturell, inhaltlich sofort jetzt massiv anders gestaltet werden?


    Alternativ sehe ich vorerst - bis obiges Fachpersonal nicht mehr zufällig, sondern organisiert bereitsteht - realistisch zu Eindämmung der immer stärker und krasser ausufernden Gewalttaten gegen Kinder nur einen höheren, schärferen Ermittlungs- und Strafdruck.


    Nachtrag: Populist bin ich deshalb noch lange nicht und trete jedem wohin, der mich weiter in diese Ecke stellt. Ich warte und suche überall nach realistischen, wirklich helfenden Konzepten.

    2 Mal editiert, zuletzt von Get-in-to-get-Out () aus folgendem Grund: martinus hat recht, es sind neben 80-90% Männern auch Frauen.

    • Offizieller Beitrag

    Gewissensfrage: Wollen wir das Kostbarste, das wir haben, wirklich auf Dauer dem Zufall überlassen? Auf das Glück spekulieren, dass gerade in unserer Nähe ein solcher Therapeut freie Plätze hat, um den fehlgepolten Männern zum Schutz unserer Kinder irksam und dauerhaft helfen zu können?

    Du meinst jenseits all den Zufällen, denen unsere Kinder (so wir denn welche haben), unweigerlich ihr Leben lang ausgesetzt sind: Kinderkrankheiten hier, Stürze dort, Infektionen aller Arten, gute oder schlechte Betreuer in Krippe und Kindergarten, gute oder schlechte Lehrer, das zusammengewürfelte Sozialumfeld in Krippe, Kindergarten, Schule, Nachbarschaft, Sportverein, Nachbarschaft ... Es ist eine Illusion zu glauben, dass man dem Zufall einen Riegel vorschieben könne.

    Wenn es soviel Bedarf an wirklich guten Fachkräften gibt, muss da nicht unser demokratisch beauftragtes Bildungs- und Ausbildungssystem ganz anders vorgehen? Technisch, strukturell, inhaltlich sofort jetzt massiv anders gestaltet werden?

    Es müsste. Doch die Verhältnisse sind, wie der Philosoph Brecht aus Augsburg lehrt, nicht so. Woran liegt's? Es gibt mehr alte Leute als junge Leute, und es gibt erheblich mehr alte Wahlberechtigte als junge Wahlberechtigte. Wer wiedergewählt werden will, weiß, was wo wem zu versprechen ist.

    Wenn man den Leuten erzählt: "Ich will, dass wir in die Jugend, in ihre Bildung, ihren Schutz, ihr gedeihliches Fortkommen investieren", wird bejubelt, bis er erklären muss: "Das heißt aber, ihr Rentner, dass wir eure Renten nicht erhöhen und womöglich kürzen müssen. Es bedeutet, ihr Arbeitnehmer, dass ihr jetzt und im Rentenalter weniger Geld in der Tasche haben werdet. Es bedeutet, ihr Familien, dass wir euch mit der einen Hand ordentlich Geld aus der Tasche ziehen und mit der anderen Hand einen Bruchteil an euch zurückgeben." Ups. Nicht wiedergewählt. Na sowas. Woher es denn wohl kommen mag?

    Gewissensfrage: Wollen wir das Kostbarste, das wir haben, wirklich auf Dauer dem Zufall überlassen? Auf das Glück spekulieren, dass gerade in unserer Nähe ein solcher Therapeut freie Plätze hat, um den fehlgepolten Männern zum Schutz unserer Kinder wirksam und dauerhaft helfen zu können?

    Aus Antidiskriminierungsgründen weise ich darauf hin, dass es durchaus auch "fehlgepolte" Frauen gibt. (der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des Kindesmissbrauchs gibt hier an, dass 10-20% der Täter Täterinnen sind.)