Literaturklassiker in der Schule

    • Offizieller Beitrag

    Hochinteressanter Ansatz, martinus.

    Was meinst du mit Blick auf "Literaturklassiker": Welche Art von Verbindlichkeit sollte für den Deutschunterricht geschaffen werden, damit Schule dem Bildungsauftrag gerecht wird? Vielleicht für Sek II?

    Habe nun, doch, mehrere Sprachen, durchaus studiert, mit heißem Bemühn, doch was du damit tust erfrachen,

    will meinem Verstehen sich glatt entziehn.


    In neuerem Deutsch: Hä? Alda, was du wollen?

  • Dann kotze ich. Denn Schule hat einen Bildungs-, keinen Ausbildungsauftrag. Bei alles Praxisorientierung, die auch ihre Berechtigung hat, finde ich es elementar wichtig, dass Schüler und Schülerinnen mehr lernen und mehr wissen als nur das, was "im Berufsleben nützt". Damit Schulen Menschen hervorbringen, keine Arbeiterdrohnen und Mikrosklaven.

    Elementar, was Martinus antwortet. Reduktion auf das Nützliche ...<X;(X(:thumbdown:

    Was nützt dieses Forum?

    "Ich glaube, dass sich mein Standpunkt, nachdem ich die Band verlassen habe, nicht dramatisch geändert hat.(...).

    Aber ich bin immer stolz darauf, was ich tat und was sie taten"

    Peter Gabriel

  • Habe nun, doch, mehrere Sprachen, durchaus studiert, mit heißem Bemühn, doch was du damit tust erfrachen,

    will meinem Verstehen sich glatt entziehn.


    In neuerem Deutsch: Hä? Alda, was du wollen?

    1. Erachtest du "Literaturklassiker" als notwendig, damit Schule den von dir angeführten Bildungsauftrag erfüllt? Falls ja: 2. Welche Verbindlichkeit hinsichtlich dieser "Klassiker" sollen die Curricula deiner Ansicht nach schaffen?

    • Offizieller Beitrag

    Ich halte es für wichtig, dass die Schüler mit einer Anzahl von Büchern von Bedeutung bekannt werden. Dass die Auswahl der Schulform und dem Alter der Schüler angepasst sein muss, versteht sich dabei von selbst.


    Allerdings bin ich vehement dafür, die Art und Weise, wie "Lektüreunterricht" betrieben wird - aus biographischen Gründen kann ich hier nur den L. am Gymnasium betrachten - zu ändern. Nach meinem Erleben (siehe frühere Beiträge in diesem Faden) ist "Lektüre" oft nur ein Material, anhand dessen Schüler Charakteristiken und Inhaltsangaben, Interpretationen und Erörterungen zu produzieren lernen sollen. Ich halte das für einen fatalen Fehler. All diese Übungen in Textproduktion könnten genauso gut an einem beliebigen Groschenroman aufgehängt werden.

    Sie vermitteln tiefere Einblicke und Durchdringung des Textes? Ja, nee, is klar, ne? Ich kann vermutlich in 90 Minuten eine tiefgründige Analyse der Beweggründe von Major Dingsbums aus Effi Briest schreiben ... wenn ich mir vorher ausführlich und gründlich Gedanken darüber gemacht und die entsprechenden Textpassagen herausgesucht und aufbereitet habe. Aber in der Klausursituation und aus dem Stand kann eine solche Übung nur an der Oberfläche bleiben.

    Was nimmt der Schüler daraus mit? Dass Charakteristiken blöd zu schreiben sind und ein Buch, dass im Unterricht nur dazu dient, das Textmaterial für eine blöde Charakteristik (oder sonstwas) bereitzustellen, ja wohl nicht so toll sein kann.


    Ziel des Lektüre-Unterrichts sollte es sein, die Schüler für das Lesen zu begeistern. Er soll ihnen zeigen, dass es Spaß macht, dass es ihnen Welten eröffnet (die Myst-Spielereihe hat dieses Bild auf wunderbare Weise aufgegriffen und sozusagen in ihrer Fiktion real werden lassen), dass es Unerwartetes zu entdecken gibt. Er soll sie anregen, auch mal mehr, anderes als den täglichen Lesestoff auszuprobieren. Natürlich ist dann nicht nur GöteShexpiaSchilla dabei, sondern auch Harry Potter und Bianca-Romane (oder Bianca-Romane und Twilight).


    Neben dem "Lesen zum Genuss" (was man niemals abfällig meinen sollte!) sehe ich allerdings auch ein, dass die Schüler das close reading als Technik kennenlernen und einüben sollten, und zwar damit sie ein Werkzeug an die Hand bekommen, mit dem sie nach Wunsch einen Text auch sehr genau betrachten können*). Das ist nun wieder ein typisches Thema für den Unterricht in der Klasse. Aber es spricht ja nichts dagegen, die Techniken von Interpretation, Erörterung etc.p.p. an relativ kurzen Texten durchzuexerzieren. Wenn ein Schüler das Prinzip durchdrungen hat, ist es egal, ob er eine Inhaltsangabe des neuesten Hägar-Cartoons oder des Zauberberg verfasst.

    Der eigentliche Lektüreunterricht könnte dann ablaufen wie ein Lesekreis: Man einigt sich auf ein Buch, alle lesen es, man spricht darüber (in kleinen Gruppen? im Plenum?) mit diversen lenkenden Impulsen seitens der Lehrkraft.

    ... und welche Bücher sollten das sein? Die alte Frage nach dem "Kanon der unverzichtbaren Literatur", die heute noch so schwierig zu beantworten ist wie eh und je.

    Wichtig scheint mir: Es sollte keine Liste mit Büchern geben, die "man in der 10. Klasse in Deutsch lesen muss", sondern eine große Aufstellung wie einen Brunnen, aus dem die Schüler schöpfen sollen, schöpfen dürfen. Weniger die "Du musst X, Y und Z lesen", sondern: "Such dir drei Bücher aus und lies sie bis zum Halbjahr". Ja, ich bin kein Lehrer, ich bin kein Kultusminister, erzähl mir ruhig, dass das so nicht funktionieren kann, und ich antworte höflich schon vorab, dass ich einen Deutschlehrer hatte, der seinen Lektüreunterricht (jenseits der verpflichtenden Effi Briest) ganz genau so gestaltet hat.

    Auf dieser Liste sollte viel stehen. "Literaturklassiker" natürlich (und wir könnten bis zu Trumps Wiederwahl darüber streiten, was denn das nun genau sei, und ob auch X dazugehört und warum nicht Y?). Und leichter Zugängliches (Harry Potter? Ja, gerne. Und meinethalben auch die Twilight-Reihe, die sich vielleicht als Einstieg zu Bram Stokers Dracula entpuppt - oh, ein Klassiker). Ich finde, dass auch die Schüler selbst Vorschläge machen sollten), denn es geht beim Lesen ja auch darum, dass die Schüler sich auf die Welt des Buches einlassen können (nicht so bei uns: 10. Klasse, Effi Briest. Was hab ich mit den Problemen einer fremdgehenden Frau zu kriegen, deren Mann und Liebhaber einander totschießen wollen?)


    Gegen jedes Buch, das ich für die Liste vorschlagen würde, gibt es eine Menge Argumente. Dafür übrigens auch. Ich würde beispielsweise 2001 draufsetzen, und Girlfriend In A Coma (oder Generation X). Wuthering Heights. Circle. Die Stille Meiner Worte. Aber auch Hamlet, den Schimmelreiter und noch einiges andere. Aber ich muss dabei immer und stets berücksichtigen: Ich bin ein paar Jahrzehnte älter als die heutigen Schüler. Ich bin noch in einer anderen Welt aufgewachsen ("Warum holt Emil nicht einfach sein Handy raus, knipst den Gauner und ruft dann die Polizei?" ... tja, weil's damals keine Handys gab, lieber Malte). Ich kann aus meiner Lese-Erfahrung einiges auf die Liste schreiben, was ich für gewinnbringendes Lektüre halte, aber sicher sein, dass ein 16jähriger das auch gerne liest - nein, das kann ich nicht.





    *) Wir haben seinerzeit mal sehr viele Englischstunden mit der Analyse einer der Nachrichtenmeldungen aus Nineteen-Eighty-Four verbracht. War ein bleibender positiver Eindruck.

  • Ich würde sagen, townman und martinus haben beide recht.


    Grundsätzlich sind für mich bei allem schulischen Lernen drei Fragen wichtig:

    1. Wo kommt der Schüler her?

    2. Wo steht er gerade?

    3. Wohin geht sein Weg?


    Mit Blick auf meine Schülerschaft und Schulform hat Ausbildung bzw. Ausbildungsfähigkeit sicher Vorrang vor Bildung. Bevor Literatur, geschweige denn Literaturklassiker auch nur in Betracht gezogen werden können, stehen die rein technische Lesefertigkeit und die Motivation zum Lesen deutlich im Vordergrund. Und das bis hin zur Klasse 10.


    Das bedeutet nicht, dass man sich nicht auch mit den "großen Fragen des Lebens" anhand von Texten beschäftigt, aber Autoren wie Goethe, Schiller, Brecht oder Mann sind da seltenst bis gar nicht präsent. Passt einfach nicht.

    But we never leave the past behind, we just accumulate...

    "Von jedem Tag will ich was haben

    Was ich nicht vergesse

    Ein Lachen, ein Sieg, eine Träne

    Ein Schlag in die Fresse"

  • Hört sich gut an, martinus.


    Da meine beiden Fragen sich auf das "Was" und nicht das "Wie" von Deutschunterricht bezogen, versuche ich deine Antwort darauf mal herunterzubrechen und hoffe, dass dieser Versuch ihr gerecht wird: Wenn ich es richtig verstehe, ist es nicht notwendig, dass ein Schüler mit "Literaturklassikern" in Berührung kommt. Es reicht, wenn es ein paar "bedeutende" Bücher sind, die im Laufe der Schulzeit gelesen werden. In den Fachanforderungen müsste man dann von einer Verbindlichkeit für "Klassiker" absehen (kein Schüler MUSS), jedoch müsste sichergestellt werden, dass es ein paar von ihnen in eine "Angebotsliste" schaffen (jeder Schüler KANN).


    Ich schaue auf die allererste Frage von Charles in diesem Thread: "Braucht man sowas?" Deine Antwort scheint mir zu sein: "Nein, braucht man nicht."

  • Wo bleiben in der Schule also Schriftsteller wie Upton Sinclair, Ginsberg, Bukowski, Celine, Thomson, Salinger, John Fante etc?

    In meinen jugendlichen Jahren habe ich angefangen Sinclair, Ginsberg, Salinger u. ä. zu lesen. Ich lag damit aber querer zu meiner Peergroup als mit meinem progressiven Musikgeschmack. Ob man also den Schülern einen Gefallen damit täte, Texte dieser Literaten im Unterricht zu besprechen, finde ich schwer zu beantworten.

    Aber die Frage wäre dieselbe wie die in Charles' Eingangspost: Braucht man das?

    I'll never find a better time to be alive than now.

    Peter Hammill (on "X my Heart")

    • Offizieller Beitrag

    Wenn ich es richtig verstehe, ist es nicht notwendig, dass ein Schüler mit "Literaturklassikern" in Berührung kommt.

    Du verstehst es falsch. Ich halte es für sehr wichtig, dass Schüler mit Klassikern der Literatur (wie immer man das fassen will!) in Berührung kommen.


    Die Art und Weise, wie Schüler heute mit ihnen in Berührung kommen, halte ich für falsch. Wie soll denn ein Schüler ein Gespür für den immanenten Wert und die Bedeutung eines Textes entwickeln, wenn der Unterricht den Wert offenkundig nur in seiner Aufhängerrolle für irgendwelche Textprodukion erblickt? Ich habe oben skizziert, wie dieser Kontakt (in meinen Augen: besser) entstehen kann.


    Es reicht, wenn es ein paar "bedeutende" Bücher sind, die im Laufe der Schulzeit gelesen werden.

    Nenn sie nicht "ein paar bedeutende Bücher". Nenn sie ruhig auch hier "Literaturklassiker".



    In den Fachanforderungen müsste man dann von einer Verbindlichkeit für "Klassiker" absehen (kein Schüler MUSS), jedoch müsste sichergestellt werden, dass es ein paar von ihnen in eine "Angebotsliste" schaffen (jeder Schüler KANN).

    Eine attraktive Heranführung an Literatur bietet die reelle Chance, dass die Schüler von einer Lektüreliste mehr lesen als nach heutiger Methode im Unterricht beackert wird. Mehr noch als das: Sie bietet die Chance, dass die Schüler (zu einem deutlich höheren Grad) selbstbestimmt diese Bücher angehen, dass sie sie motivierter und aufnahmebereiter lesen. Das bringt so unendlich viel mehr als der beste aktuelle Lektüreunterricht - das ist, um einen gewissen klassischen Text aufzugreifen, der fruchtbare Boden, in den das Samenkorn fällt.

    Was spräche denn auch dagegen, die Lektüreliste mit knappen Skizzen des Inhalts anzureichern, die den Schülern einen Hinweis geben, auf was sie sich einlassen (z.B.: "Dass seine Mutter nach dem Tod des Vaters wieder geheiratet hat, macht dem Helden arg zu schaffen. Seltsame Einflüsterungen führen zu einer eskalierenden Gewaltspirale." (Tipps, welcher Klassiker damit gemeint ist, gerne per PN an mich)).


    Deine Antwort scheint mir zu sein: "Nein, braucht man nicht."

    Wie oben gesagt: Du hast mich falsch verstanden.

  • Eine attraktive Heranführung an Literatur bietet die reelle Chance, dass die Schüler von einer Lektüreliste mehr lesen als nach heutiger Methode im Unterricht beackert wird.

    Einverstanden, aber wie soll eine ¨ attraktive Heranführung an Literatur¨ aussehen?

    Das Leben ist eine Illusion, hervorgerufen durch Alkoholmangel

    Charles Bukowski