Das Stück ist nicht ohne Reiz, insbesondere die Verbindung des beschwingten Marschmusik-Themas mit dem finsteren Text hebt es über den Durchschnitt.
Danke, martinus, für die wie stets sachdienlichen Erläuterungen.
Ganz so untypisch scheint mir Hacketts musikalische Ausdrucksform indes nicht. Auch beispielsweise in "Carry On Up The Vicarage", "Ballad Of The Decomposing Man" oder "Sentimental Institution" hatte er bereits ironisch mit Versatzstücken Pop-fremder Genres gespielt, wenn auch vielleicht nicht so effektiv wie hier.
TotW [24.09.-30.09.12]: STEVE HACKETT - The Golden Age Of Steam
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Es ist ein spezielles Stück von Steve. Ich fühle mich an Filmmusik erinnert. Eigentlich nicht schlecht, was mich klein wenig stört, ist dieser Wechsel zwischen diesen Filmmusikpassagen und dann ist es wieder eher ein normaler Song - aber daran kann man sich gewöhnen. Instrumierung, Sound und Aufbau sind gefällig, wenn auch nicht ganz mein Ding. Für mich ein grosser Pluspunkt die Originalität vom Song - mal was anderes.
Grosses Minus: Steves Gesang - er hat mit den Jahren zwar deutliche Fortschritte gemacht und als Background würde er bei mir noch durchgehen, aber ich finde das Singen sollte er wirklich den Sängern überlassen (so wie er das auf der Genesis Revisited gemacht hat).
Von mir gibt's 9 Punkte. -
In aller Regel führt Hacketts Gesang bei mir auch unverzüglich zu Punktabzug, in diesem Fall aber fügt sich für meine Ohren seine exotische Stimme in die ebenso exotische musikalische Landschaft ein. Da das ganze ein bißchen wie im Musical klingt, paßt sein dünner, streckenweise an einen Erzähler erinnernder Vortrag hier eigentlich ganz gut.
Auf alle Fälle besser als die Vampir-Nummer. -
Eine Lebens-Geschichte. Und auch Zeit-Geschichte. Wo am Anfang ein leeres Blatt ist, schaffen die ersten beiden Zeilen einen weitgreifenden, sehr geläufigen Kontext: Amsterdam 1939 ist eine potente Angabe wie "Kurz bevor das Gewitter über uns hereinbrach". 1939 ist ein Schlüsselreiz, der Assoziationen weckt zum Zweiten Weltkrieg, zum Dritten Reich, zum Naziregime, zur Judenverfolgung. Die zusätzliche Angabe "Amsterdam" ruft den Namen eines Mädchens in Erinnerung, das als Zwölfjährige in dieser Zeit in Amsterdam gelebt und Tagebuch geführt hat: Anne Frank.
Die erste Zeile stimmt uns ein auf eher tragische Töne. Die zweite dreht diese Assoziationen nicht ins Gegenteil, aber sie wendet sie sozusagen wie einen Handschuh "auf links": Ein zwölfjähriger Blondschopf mit reinem Teint, der "immer durchkommt" - das ist die Klischeeversion des arischen Jungnazis.
Nur ist dieser hier kein Fanatiker und auch kein Widerständler. Ein Verräter? Man muss an etwas glauben, um es verraten zu können. Der hier ist eigentlich sehr modern: Ein Händler in Informationen, in Geheimnissen und damit, wie er bequemerweise ausblendet, auch in Menschenleben. Seinen Lohn empfindet er nicht als die 30 Silberlinge, denn "I'd just point out the doors" er zeigt nur auf die Türen, hinter denen Flüchtlinge sich verbergen. Ganz pragmatisch rechtfertigt er sein Verhalten damit, dass er überleben wollte und sich moralische Fragen daher nicht stellten... im goldenen Zeitalter des Dampfes.Dass eingangs der zweiten Strophe vom "fatherland" die Rede ist, macht unseren blonden Sprecher übrigens nicht zu einem Deutschen. Das Wort "fatherland" ist im Englischen aus verschiedenen Gründen immer mit dem deutschen Nationalsozialismus und Nazideutschland konnotiert. Jedenfalls betreibt Blondschopf sein Geschäft erfolgreich weiter und scheint wie ein Doppelagent für beide Seiten, die Flüchtlinge und die Besatzer, zu arbeiten - vermutlich immer für diejenigen, die besser zahlen in Geld und Lebensmitteln.
Einen besonders galligen Nachgeschmack hat der auf den ersten Blick so unschuldige Satz Trains ran on time those days oiling the machine - "Damals fuhren die Züge noch pünktlich und schmierten die Maschine". Welche Maschine? Die Kriegsmaschine. Die Nachschubabwicklung. Aber, und viel näher an dem, was Blondschopf betreibt: auch die Züge in die Lager zur quasi-maschinellen, industriellen Vernichtung von Juden und anderen. Insofern kann hier auch gemeint sein: "Damals lief mein Geschäft noch richtig gut." Der Qualm, von dem eine Zeile weiter die Rede ist, kann auch aus anderen Schornsteinen als dem von Lokomotiven kommen...im goldenen Zeitalter des Dampfes.
Jetzt ist es vorbei und auch doch nicht, erklärt der Sprecher. Für viele war er ein Held, erinnert er sich, und ausgeblendet bleibt, dass er für viele andere, auf deren Türen er gedeutet hat, den Tod brachte. Es scheint ihm auch geschwant zu haben, dass nicht alle Leute gut auf ihn zu sprechen waren, denn er seilt sich ab in die Schweiz, mit strahlendem Lächeln und die Taschen voll Schmuck als Zahlungsmittel. Und doch ist er wohl auch dort nicht sicher: Maybe one day they'll come for me they'll take me from my bed - "vielleicht kommen sie eines Tages mich holen und zerren mich aus meinem Bett" - so wie einst die Leute, die er ausgeliefert hat, damit er nun Rechenschaft ablege, wie er sich verhalten habe: Ob er sich wie ein Deutscher, ein Kollaborateur, verhalten habe, oder wie ein aufrechter Niederländer. Und auch darauf hat er eine Antwort: In jenen Zeiten im goldenen Zeitalter des Dampfes wies ihn sein Reisepass als - Glücksritter aus.
Am Rande bemerkt: Die Angaben am Anfang des Liedes sind tatsächlich nur dazu da, die Geschichte zeitlich einzuordnen. Für detektivisch Veranlagte: Amsterdam wurde erst am 15.4.1940 besetzt - und erst am 5.Mai 1945 wieder befreit (nach München, Frankfurt und Hamburg).
Als Fußnote noch Text und Übersetzung des Reportage-Einspielers am Ende (angeblich ein authentischer Bericht aus der Zeit etwa der Landung in der Normandie):
Again there is military traffic driving in convoys through the streets, driving on the right-hand side of the road, continental fashion. The inhabitants, as before, give us smiles and waves and 'bon-jours'. A priest offers us food or lodging. There's a small boy poking his head through the bars of a wrought-iron gate munching away a piece of bread spread liberally with army-ration jam. We wander off through the town. Life doesn't seem so very abnormal. A farmer invites us into his shade and just at this moment the cannons from one of our cruisers in the bay light up and shells go hurtling overhead...
Erneut fahren Militärfahrzeuge in Konvois durch die Straßen. Sie fahren auf der rechten Seite, wie auf dem Kontinent üblich. Wie schon zuvor lächeln uns die Bewohner zu, winken, wünschen 'bon jour'. Ein Pfarrer offeriert Lebensmittel oder Unterkunft. Ein kleiner Junge steckt seinen Kopf durch ein schmiedeeisernes Tor und kaut eifrig an einem Stück Brot, das reichlich mit Marmelade aus Armeebeständen bestrichen ist. Wir schlendern durch den Ort. Das Leben scheint hier gar nicht so unnormal. Ein Farmer lädt uns zu sich in den Schatten ein und just in diesem Moment feuern die Kanonen von einem unserer Kreuzer in der Bucht und die Granaten fliegen über unsere Köpfe...Die Musik: Irgendwie so gar nicht Hackett, oder? Ich finde das schon einen ziemlichen Ausreißer von seinem sonstigen Programm, soweit ich es kenne. Das Stück hat diesen fatal mitziehenden Rhythmus eines Militärmarsches (deshalb werden die Dinger ja so oft zum Marschieren hergenommen).
Aber wie soll ich das jetzt insgesamt bewerten? Hm. 10 Punkte, weil ich das Stück mag. Nicht mehr, weil ich nichts wüsste, was es darüber hinaushebt, und nicht weniger, weil ich auch nichts dran auszusetzen habe.
Ich muss diese Kritik, diese Reflexion des Stückes von martinus nochmals zitieren. Sie gibt so schön den Inhalt des Stückes wieder, dass ich gar nichts mehr hinzufügen kann. Immer wieder befällt mich beim Hören dieser Musik Trauer und Scham über die furchtbaren Gräueltaten, die unser Volk über die Welt brachte. Mir fällt eine Führung durch das ehemalige jüdische Viertel Amsterdams ein, an der ich 1984 teilnahm. Geleitet wurde sie von einer ehemaligen jüdischen Widerstandkämpferin. Ich war zu der Zeit 22 , she im Thema und wahnsinnig beeindruckt von ihr. Sie sagte damals u. a., Sie habe Angst davor, dass Deutschland wieder groß(mannssüchtig) wird. Für mich sind das bis heute mahnende Worte geblieben... Ja, und dann macht einer meiner Lieblingsmusiker Jahre später ein Lied darüber - Unglaublich!
Steve ist mit der Musik ein Kleinod gelungen, ein bisserl von seinem üblichen Pfaden entfernt, aber dadurch auch ganz mutig - toll! Stück: 14P - martinus Reflexion: 15P +++