Tigran Hamasyan - Mockroot

  • Keine Ahnung, ob Neumond ist, aber hier kommt ein Leckerbissen für alle Experimentierfreudigen...


    [FONT=Arial, sans-serif]Tigran Hamasyan – Mockroot (2015)[/FONT]


    zunächst ein kurzer Trailer zum Album...


    https://www.youtube.com/watch?v=0vKfE2dPWbc


    [FONT=Arial, sans-serif]Ab und an läuft einem ein Stück Musik über den Weg, das einem so ungewöhnlich erscheint, dass man sich beim ersten Hören spontan ziemlich überfordert fühlt und schnell geneigt ist, es mitsamt seinem Interpreten in die Tonne zu treten. Häufig genug verfährt man dann auch entsprechend. Manchmal aber gibt es Musik, die trotz ihrer Weigerung, immer nur schön und leicht konsumierbar zu sein, dazu auffordert, nicht so schnell aufzugeben. So ging es mir jüngst mit Tigran Hamasyan und seinem neuen Album „Mockroot“.[/FONT]


    [FONT=Arial, sans-serif]Tigran Hamasyan? Nie gehört! Wie bin ich auf ihn gekommen? Eigentlich hatte ich nach Infos zum neuen Album der Progband HAKEN gesucht. In diesem Zusammenhang stieß ich auf ein Interview mit Gitarrist Richard Henshall. Der erzählte, wie das Hören aktueller Musik die Aufnahmen zum neuen Album beeinflussen würde, und erwähnte u.a. in diesem Zusammenhang den Herrn Hamasyan. Also schnell mal gegoogelt und auch fündig geworden. Tigran Hamasyan ... aus Armenien ... Pianist ... Jazzmusiker ... aha ... soso ... interessant.[/FONT]


    [FONT=Arial, sans-serif]Leider – nein, vielmehr Gott sei Dank – führt das Attribut „Jazzpianist“ hier sehr schnell in die Irre. Möglicherweise war aber mein „akustisches Bild“ von Jazzmusik auch nur allzu eng besetzt. Die klassische Trio-Besetzung (Klavier, Bass, Schlagzeug), in der Hamasyan oft spielt, erinnert schon stark an ein jazziges Ensemble. Allerdings ist seine Musik nur am Rande von traditionellem Jazz geprägt. Es überwiegen die Einflüsse von Weltmusik, Klassik, Filmmusik und – hier besteht tatsächlich eine Verbindung zu HAKEN – progressiver Rockmusik. Im Vordergrund vieler Stücke steht eine dunkle, geradezu schwermütig wirkende Melodik und Harmonik, die vermutlich tief in der ursprünglichen Musik Armeniens verwurzelt ist. Das klingt dann für europäische Ohren oft ungewohnt und[/FONT]
    [FONT=Arial, sans-serif]exotisch, aber auch irgendwie magisch.[/FONT]


    [FONT=Arial, sans-serif]Ein Beispiel hierfür ist KARS 1, bei dem Hamasyan ein traditionelles armenisches Volkslied bearbeitet hat. Hier wie auch auf anderen Stücken wird die menschliche Stimme als zusätzliche Klangfarbe eingesetzt. KARS 1 hat als einziges Stück mit Text darüber hinaus eine gewisse Sonderstellung. Spannend ist hier vor allem der Wechsel von Dynamik und Tonlage zwischen Strophe und Refrain. Auch erste rhythmische Raffinessen werden hier angedeutet. [/FONT]


    [FONT=Arial, sans-serif]https://www.youtube.com/watch?v=M8PlKXPunbU[/FONT]


    Hier mal "from a drummer's point of view" - was für ein einfacher und doch komplizierter Rhythmus:


    https://www.youtube.com/watch?v=dq2h_k4e4Go


    [FONT=Arial, sans-serif]LILAC, das erste Stück des Albums, das ich hörte, ist ein Solostück für Klavier. Es hat sowohl romantische, als auch expressionistische Züge und erinnert stark an moderne Klavierliteratur. Die melancholische Stimmung, die hier zu hören ist, ist so unmittelbar, dass man förmlich von ihr angesprungen wird. Derartige Musik würde sich auch hervorragend zur Untermalung von Filmen des Programmkinos eignen. [/FONT]


    [FONT=Arial, sans-serif]https://www.youtube.com/watch?v=YYp97_NHoxA[/FONT]


    [FONT=Arial, sans-serif]War das alles bis hierhin eher ruhig und überschaubar, so treibt es Hamasyan in Stücken wie DOUBLE-FACED vor allem rhythmisch auf die Spitze. Progfans werden dies lieben. Welche Rhythmen, Metren und Taktarten hier gleichzeitig und nacheinander verarbeitet werden, ist für mich oft nur schwer nachzuvollziehen. In einem Moment scheinen die Instrumente eine Einheit zu bilden, im nächsten Moment droht alles auseinander zu fallen, bleibt aber dann doch irgendwie miteinander verbunden. Spätestens wenn im Mittelteil elektronische Klänge das klassische Jazztrio ablösen, wird klar, dass Hamasyan auch nicht davor zurückschreckt, mit modernen klanglichen Mitteln zu experimentieren.[/FONT]


    [FONT=Arial, sans-serif]https://www.youtube.com/watch?v=HOZm319Bf0I[/FONT]


    [FONT=Arial, sans-serif]Da es mir die ruhigen Stücke besonders angetan haben, möchte ich als letztes Stück THE ROAD THAT BRINGS ME CLOSER TO YOU verlinken. Hierbei handelt es sich um eine getragene Ballade, bei dem die Klaviermelodie von einer weiblichen Stimme verstärkt wird. Während der erste Teil wieder sehr melancholisch dahinschwebt, bietet der zweite Teil hier mit seinem dezent marschierendem Schlagzeug eine tolle dramatische Steigerung. [/FONT]


    [FONT=Arial, sans-serif]https://www.youtube.com/watch?v=3w6kiYVhI10[/FONT]


    [FONT=Arial, sans-serif]Fazit: „Mockroot“ von Tigran Hamasyan ist ein sehr gelungenes und eigenständiges Album eines äußerst talentierten Komponisten und Pianisten. Wer Jazz abseits der bekannten Wege mag und sperriger und experimenteller Musik gegenüber nicht abgeneigt ist, sollte diesem Werk eine Chance geben – oder auch eine zweite, denn manches zündet nicht auf Anhieb, aber sobald es „Klick“ gemacht hat, ist die Faszination umso größer.[/FONT]
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    But we never leave the past behind, we just accumulate...

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    Was ich nicht vergesse

    Ein Lachen, ein Sieg, eine Träne

    Ein Schlag in die Fresse"

    3 Mal editiert, zuletzt von mutzelkönig ()

  • Danke für die engagierte Vorstellung.
    Habe mich jetzt mal ohne Reue durch das ganze Album gehört. Ganz anregend, wenn auch aus meiner Sicht eher was für den Winter. Dem ersten Eindruck nach bin ich auch eher bei den ruhigen Sachen zu Hause, die leider etwas kurz kommen. "Lilac" ist schon 'ne ziemliche Wucht, so ein bißchen Satie meets Tiersen.

    Ich bin dann beim Surfen noch auf einen sehr stimmungsvollen etwas älteren Clip gestoßen:
    Mother, Where Are You? (LIVE 2011)

    Es handelt sich offenbar um die Interpretation eines alten armenischen Volksliedes. Dem Gesichtsausdruck des Pianisten zufolge dürfte die Mutter wohl verstorben sein.
    Ich finde das ganz schön, wie Hamasyan förmlich in die Tasten kriecht. Viel näher kann man so einem Instrument wahrscheinlich nicht kommen.

    By the way:
    Eric, verlinkst Du noch? Der Youssef von Lucy ist auch noch heimatlos.
    Und Regie, wieso ist das Jazz-Inhaltsverzeichnis von der Pinwand geflogen? Ich dachte, wir stehen unter Minderheitenschutz? Fiesheit.

  • Hallo Mutzel, (und wer sonst noch mitliest, in der exotic corner kann man nie wissen).
    Hamasyans mal perlendes, mal hämmerndes Piano prägt auch das Album "Abu Nawas Rhapsody" (2010) des Oud-Spielers und Ausnahme-Sängers Dhafer Youssef. [FONT=&quot]
    Youssef wurde vor einiger Zeit von Lucy beim Jazz vorgestellt[/FONT], und seitdem habe ich mich größtenteils verzückt durch einige seiner Platten gehört und bin nun bei dieser gelandet.

    Mag nicht sein stärkstes Album sein, vielleicht etwan zu clean produziert, aber es verströmt Hingabe und große Musikalität.
    Die Stimmung der Musik reicht von meditativ bis expressiv, und so verhält es sich ja auch mit dem Spiel von Hamasyan, der einige der Stücke mitkomponiert hat.

    Anspieltip:
    "Sura" – hier in einer Live-Version

    Das komplette Album live:
    "Jazz sous les pommiers" (Coutances 2010)

    P.S.
    Mutzel, vielleicht kannst Du noch für E.M. und andere Fans durch ein paar depressive Einschübe die negativen Seiten des Albums hervorheben…?