Und wieder geht's mit unserer kleinen Zeitmaschine 30 Jahre zurück...
Kapitel 6: Über Jäger und Sammler und eine Band, die keiner kennt
ODER
The Outfield
Im Frühjahr 1986 steigt die englische Band The Outfield mit ihrer Single YOUR LOVE in die amerikanischen Top Ten ein. An Band und Song erinnert sich heute kaum noch jemand. Ich hingegen weiß noch ganz genau, wie ich damals in den Besitz dieses Stückes gekommen bin. Heute wäre das alles eine Angelegenheit von wenigen Sekunden. Band und Titel bei youtube eingeben oder schon direkt bei Google. Einmal klicken und sofort spuckt die digitale Allmacht ein Video aus, welches dann unverzüglich abgespielt werden kann. Aber wie war das noch gleich in grauer Vorzeit?
An dieser Stelle möchte ich den von mir geschätzten Joe Jackson zitieren:
„Was ist die erste Musik, an die ich mich erinnern kann? ... Das erste [Lied] hieß The Runaway Train. Ich muss damals fünf oder sechs gewesen sein, und meine Eltern hatten gerade ein Radio gekauft. Es war an einem Samstagmorgen ... und ich faulenzte im Bett. ... Aus dem nächsten Zimmer hörte ich ein Lied mit einem sehr amerikanischen, countryähnlichen Sound. Es hatte einen rollenden, rumpelnden Rhythmus, wie eine Dampflok, die über eine Prärie fuhr. ... Den folgenden Samstagmorgen bekniete ich meine Eltern, sie sollten das Radio einschalten. Ich dachte, wenn man zur gleichen Zeit denselben Sender anstellte, dann müßte jede Woche wieder The Runaway Train erklingen. Ich fühlte mich vernichtet, als ich herausfand, daß dies nicht der Fall war. Macht nichts, sagte mein Vater, sie spielen's sicher bald wieder. Das taten sie dann auch einige Wochen später, und vor Freude hüpfte ich in meinem Bett auf und ab.“
(Quelle: Ein Mittel gegen die Schwerkraft)
Spulen wir einmal in die Mitte der 80er Jahre vor. Zu dieser Zeit besitze ich schon einige Singles und Schallplatten (sogar schon drei CDs!). Dennoch reicht das Taschengeld hinten und vorne nicht, um alles zu kaufen, was man gerne hören möchte. Daher ist das Radio auch für mich noch die Musikbezugsquelle Nummer Eins. Fündig werde ich häufig im Pop Shop bei SWF 3 (mit J. J. Cales OKIE als eröffnendem Instrumental), sowie bei Schlagerrallye und Mal Sondocks Hitparade auf WDR 2. Sonntags gibt’s im WDR außerdem regelmäßig die Top 40 der Billboard Single-Charts. Dort höre ich YOUR LOVE von The Outfield das erste Mal. Der Song klettert gerade die Charts hoch und ist kurz davor, die Top Ten zu knacken.
Eingängige Melodie, toller Sänger, schöne Nummer, denke ich spontan. Würde ich gerne gleich noch einmal hören, ist mein zweiter Gedanke. Natürlich weiß ich, dass das nicht geht. Eine für heutige Verhältnisse unmögliche Aussage, die aber in meiner nicht digitalen Jugend unumstößlich ist. Wer zum Teufel soll Gugel sein? Der Papa von Gugelhupf?
Immerhin bin ich medienkompetenzmäßig schon weiter als Joe Jackson. Ich weiß, dass im Radio Songs nicht wöchentlich zur gleichen Uhrzeit gespielt werden. Ich weiß aber auch, dass ich eine gute Chance habe, diesen Song in der nächsten Woche in dieser Charts-Sendung ein weiteres Mal zu hören, sofern er dort weiter Plätze gut macht (mit Blick auf dieses Programm lag Jackson also gar nicht komplett daneben).
Ich muss also im Prinzip nichts weiter tun, als eine Woche warten und dann erneut einschalten. Gesagt, getan! Am nächsten Sonntag sitze ich vor der Hifi-Anlage meines Vaters. Der Sender ist eingestellt, und die im Tapedeck befindliche Leerkassette wartet im noch pausierenden Recording-Modus auf mein Kommando, um YOUR LOVE – sollte es wieder gespielt werden – aufzunehmen und so meiner eigenen Musiksammlung hinzuzufügen.
Und tatsächlich: YOUR LOVE springt bis auf Platz 6 der Charts, der Song erklingt, die Aufnahme beginnt und nach knapp vier Minuten ist es geschafft. Und eins dürft ihr mir glauben. Für die hier beispielhaft investierte Zeit und Mühe werde ich mit einem unglaublichen Glücksgefühl belohnt. Ich bin mir sicher, dass es derartige Glücksgefühle heute kaum noch gibt. Alleine die Vorstellung, für das Ergattern eines einzigen Songs zeitlich und räumlich derart gebunden zu sein und dann auch noch eine ganze Woche warten zu müssen, werden Teenies heute als völlig unzumutbar, krank oder irrsinnig betrachten. Die sind es gewohnt, mit einem Knopfdruck 100 Stunden Musik auf ihren Plastikkrempel zu laden. Die sie sich ohnehin nie komplett anhören. Arme Kreaturen!
The Outfield veröffentlichen bis 1989 noch weitere ähnlich gestrickte melodische Rocksongs, darunter das klanglich etwas modernere VOICES OF BABYLON (1989).
Kann man sich heute problemlos auf youtube anhören. Nur einen Klick entfernt. Ich wäre unehrlich, würde ich leugnen, dass ich im Jahr 2017 auf diese zeitgemäße Form des Musikhörens verzichte. Aber ich bin in den Achtzigern den „Wochenweg“ gegangen. Nicht nur ein Mal, sondern unzählige Male. Und etliche Male auch umsonst, wenn der gewünschte Song nicht noch einmal gespielt wurde. Ich habe gewartet, geackert und entbehrt. Und dadurch meine Leidenschaft für Musik gewonnen, vermehrt und ernährt.
Ich bin verdammt froh, dass es so und nicht anders war.
Definitives Lineup
Tony Lewis – lead vocals and bass
John Spinks – guitars and vocals
Alan Jackman – drums and percussion
Gegenwart
Nach dem Tod von Hauptsongwriter John Spinks (2014) ist die Zukunft der Band unklar. Allerdings wurde kurz vor seinem Tod noch an neuem Material gearbeitet.
Weiterhören und Ansehen
Your Love
https://www.youtube.com/watch?v=4N1iwQxiHrs
Voices of Babylon
https://www.youtube.com/watch?v=XtcCwl_sUWw
Lieblingsalbum
---
Demnächst
In Kapitel 7 von „Meine Achtziger“ geht es um Tastenphobie und Supergruppenblues