Die Politik ist tot, es lebe die Politik! - kleiner politischer Frühschoppen, Live-Ticker, Austicker und was man sonst noch so zur Meinungsbildung braucht - oder auch nicht...

  • Frau Chebli sagt: "Eine der größten Aufgabe für Muslime wird es sein, ein zeitgemäßes Islamverständnis zu vermitteln."


    Schön. Da bin ich ganz bei ihr. Aber dann muss man ehrlich sein und schlussfolgern: Ein "zeitgemäßer Islam" bedeutet in erster Linie eben "weniger Islam".
    Gilt übrigens für alle Religionen gleichermaßen. Ein zu großer Einfluss von Religion auf unsere Gesellschaft ist halt nicht zeitgemäß, weil religiöse Gebote fast immer nicht nur irrational sind (Tue dies..., Tue dies nicht...), sondern auch häufig das Trennende betonen und nicht das Gemeinsame.


    Weniger Religion mag im Interesse der Gläubigen sein, ist aber - wie die Erfahrung zeigt - fast nie im Interesse der Verbände, die diese Religionen vertreten. Denn ein Weniger an Religion bedeutet für diese einen Verlust an Macht.


    Wie äußerte sich noch der Zentralrat der Muslime zur jüngsten Kopftuch-Rechtsprechung des EUGH:


    "Wenn Frauen sich zwischen ihrer religiösen Überzeugung und ihrer beruflichen Tätigkeit entscheiden müssen, sind die Diskriminierungsverbote, die Gleichbehandlungsgebote und die individuellen Freiheitsrechte, die das Fundament europäischer Verfassungen und Gesetzgebungen verkörpern, nicht das Papier wert auf dem sie stehen und dies entspricht eben nicht der vielbeschworenen Neutralität."


    Bedeutet salopp übersetzt: Entweder alles läuft hier schön religionskonform, oder man wittert sofort eklatante Verstöße gegen Demokratie und Menschenrechte.


    Und da weiß ich ganz ehrlich nicht, wie man solche Positionen zusammen bringen will.

    But we never leave the past behind, we just accumulate...

    "Von jedem Tag will ich was haben

    Was ich nicht vergesse

    Ein Lachen, ein Sieg, eine Träne

    Ein Schlag in die Fresse"

    • Offizieller Beitrag

    Brauchen wir "weniger Religion"?


    Vielleicht brauchen wir:
    - Weniger Druck von Religionsverbänden auf ihre Mitglieder, der die Religionsangehörigen dadurch in der freien Ausübung ihres Glaubens einschränken.
    - Mehr Offenheit von Religionsverbänden und von den einzelnen Menschen gegenüber anderen Menschen jedweder Glaubensrichtung, die sich ungefähr so ausdrücken ließe: "Ich glaube und/oder praktiziere und/oder lebe das auf diese Art. Wenn du das nicht teilst, dann kommst du nach meinen Maßstäben zwar nicht in das tolle Jenseits, aber das musst du halt selbst wissen."


    Brauchen wir weniger Religion des Einzelnen? Nein. Unterschiedliche religiöse Überzeugungen und der kultivierte, neugierige Austausch ohne Überlegenheitsdünkel darüber bereichern das Leben, öffnen den Blick für neue Perspektiven, stellen den eigenen Standpunkt infrage - sie sind ein Gewinn. Das gilt übrigens, um es klar zu sagen, auch für Agnostiker und Atheisten.


    Brauchen wir weniger religiöse Symbole im Alltag? Was unterscheidet ein unvermeidlich sichtbar getragenes Kopftuch einer Nonne von dem einer muslimischen Frau, wenn beide es aus freien Stücken tragen? Was unterscheidet die Kippa von einem Kreuz am Revers, von dem roten Punkt auf der Stirn der Hindus (von dem ich gerade nicht weiß, wie er genannt wird, und von dem ich hoffe, dass ich ihn wenigstens dem Hinduismus richtig zugeordnet habe)? Was unterscheidet einen Schrein für Ganescha in einem Restaurant vom Herrgottswinkel in einer Wirtschaft?
    Es soll nicht jeder peinlichst genau darauf achten müssen, seine und ihre Glaubenszugehörigkeit zu verbergen, "weil wir hier weltanschaulich neutral auftreten wollen." Weltanschauliche Neutralität haben wir erst dann, wenn Hinweise auf die Glaubens(nicht)zugehörigkeit keinen mehr interessieren.


    Religiöse Symbole dürfen im Alltag kein Problem sein - genau dahin müssen wir meiner Meinung nach kommen. Der Weg ist noch weit, und vielleicht kann er erst so richtig angegangen werden, wenn wir alle die Grundlektion der Gleichberechtigung verinnerlicht haben: Dass Frau Doktor im Schnitt genauso gut oder schlecht ist wie Herr Doktor, und dass Dipl.-Ing. Tina Schraubner genauso gute Autos konstruiert wie Dipl.Ing. Jochen Schweisser.


    Und nochmal zur kompletten Klarstellung: Es geht um das freiwillige Zeigen und Tragen von Hinweiszeichen auf Religionszugehörigkeiten.



    Am Rande bemerkt: Mag mal jemand erklären, was eine "zeitgemäße Religion" sein soll?

  • Weniger Religion ergibt sich aus deinen Aussagen zwangsläufig, denn der individuelle Glaube ist nicht "religiös". Ein Glaube wird zu Religion, indem er sich verbreitet und organisiert, in eben jenen Verbänden, die bis heute religionsübergreifend einen viel zu großen Einfluss in der Gesellschaft haben. Dennoch würde ich hier nochmal klar zwischen christlichen und islamischen Verbänden unterscheiden, mir ist keine Religionsgemeinschaft bekannt, in der radikal-politische Verbindungen dermaßen häufig und intensiv sind wie in den islamischen Verbänden. Der Terminus "islamistisch" ließe sich auf einen Großteil der islamischen Organisationen anwenden, die hier im Land tätig sind.


    "Was unterscheidet das Kopftuch der Nonne vom Kopftuch" Auch wenn ich das Kopftuch an sich im Gegensatz zur Ganzkörperverschleierung, egal ob inklusive Gesicht oder nicht, nicht als Problem in dem Sinne sehe, der Unterschied leitet sich vom Hintergrund ab. Genauso, wie den Katholiken die Bibel nicht das Tragen ihrer doch sehr aufwändigen und protzigen "Dienstkleidung" vorschreibt, so ist es auch für die Nonnen keine Unterwerfung unter eine "göttliche Anweisung", sondern so etwas wie weltliche Dienstkleidung. Das Kopftuch bzw. die deutlich problematischeren Folgestufen hingegen leiten sich nicht nur direkt aus der religiösen Schrift ab, sondern sind oft auch das Ergebnis von massivem sozialen Druck. Umgekehrt ist es momentan für viele Juden aufgrund der leider wieder grassierenden Judenfeindlichkeit ein großes Problem, wenn sie eine Kippa tragen.


    Du gehst meiner Meinung nach die Frage von der falschen Seite an, denn es geht weniger darum, was passiert, wenn sie es tragen, sondern darum, was passiert, wenn sie es nicht tun. Die Nonne kann ihren Orden verlassen (damit ist nicht die Religion gemeint), zieht ihre Freizeitkleidung an, und bewegt sich ganz normal auf offener Straße. Kein Problem. Vergleichbares Szenario bei einer Muslima, sie geht unverschleiert auf die Straße. Die erste Frage, die hier gestellt werden muss, kommt sie überhaupt so weit? Oder bauen sich stattdessen gerade die Männer der Familie vor ihr auf und beschimpfen sie als "ehrenlose Schlampe"?


    Wenn du das ganze mal auf die Spitze treiben möchtest, lass beide davon ein Foto machen und auf Instagram oder Facebook stellen. Warte eine Stunde und schau in die Kommentarspalten. Spätestens dann wirst du sehen, ein "wir haben uns alle lieb und Kopftuch tragen doch auch die Nonnen und die Omas!!!" ist mit der aktuellen Realität unvereinbar.


    Zu deiner letzten Frage, ich halte den Naturalismus für eine "zeitgemäße" Religion, auch wenn ich ihr selber nicht angehöre. In diesem Glaubenssystem gibt es keine Unterscheidung zwischen Himmel und Hölle, "Gott" ist die Natur selbst, und jeder trägt Verantwortung dafür, wie er mit dieser Natur und der Umwelt als Teil des großen Ganzen umgeht. Ich bin dafür nicht religiös genug veranlagt, finde aber das Konzept dahinter dennoch hochinteressant und zu meiner persönlichen Lebenseinstellung kompatibel.


  • Am Rande bemerkt: Mag mal jemand erklären, was eine "zeitgemäße Religion" sein soll?


    Ich versuch's mal: Wenn von einer Religion gefordert wird, dass sie "zeitgemäß" oder "modern" sein soll, dann ist damit m.E. vor allem gemeint, dass ihre Lehre nicht in einem Widerspruch zu elementaren Freiheits- und Grundrechten stehen soll.


    Ich persönlich würde darüber hinaus sagen: Zeitgemäß ist eine Lehre auch nur dann, wenn sie nicht gegen wissenschaftliche Erkenntnisse bzw. die menschliche Vernunft gerichtet ist.


    Last but not least zeichnet sich eine zeitgemäße Religion durch einen gewissen Pragmatismus aus. Das heißt, sie stellt ihre Normen nicht als absolut hin, sondern passt sie gesellschaftlichen Veränderungen und Notwendigkeiten an.

    But we never leave the past behind, we just accumulate...

    "Von jedem Tag will ich was haben

    Was ich nicht vergesse

    Ein Lachen, ein Sieg, eine Träne

    Ein Schlag in die Fresse"

    • Offizieller Beitrag

    Ich versuch's mal: Wenn von einer Religion gefordert wird, dass sie "zeitgemäß" oder "modern" sein soll, dann ist damit m.E. vor allem gemeint, dass ihre Lehre nicht in einem Widerspruch zu elementaren Freiheits- und Grundrechten stehen soll.


    Ich persönlich würde darüber hinaus sagen: Zeitgemäß ist eine Lehre auch nur dann, wenn sie nicht gegen wissenschaftliche Erkenntnisse bzw. die menschliche Vernunft gerichtet ist.
    Last but not least zeichnet sich eine zeitgemäße Religion durch einen gewissen Pragmatismus aus. Das heißt, sie stellt ihre Normen nicht als absolut hin, sondern passt sie gesellschaftlichen Veränderungen und Notwendigkeiten an.


    Eine Religion orientiert sich doch qua Definition nicht an der Vernunft und an wissenschaftlichen Erkenntnissen. Durch die Ge- und Verbote, die jede Religion hat, werden die Grundrechte ihrer Anhänger eingeschränkt. Das ist aber nicht relevant, weil sie sich dieser Einschränkung ja aus freien Stücken unterwerfen. Eine Religion mit flexiblen Normen scheint mir paradox.
    Da bin ich wieder bei der religiösen Praxis des Einzelnen. Religion definiert sich nicht durch Verbandsorganisationen, es gibt keine "kritische Masse", ab wann eine Religion vorliegt (im juristischen Sinne natürlich möglicherweise schon).


    Aber an dieser Stelle steige ich aus dem Religionsthema aus, das haben wir bis zum Überdruss an anderer Stelle...


    Zum Kern:
    Kopftücher von Nonnen und Musliminnen sind nach außen sichtbare Zeichen des individuellen Bekenntnisses. Wenn man den einen das Recht nimmt, dieses Zeichen zu zeigen, muss man es den anderen auch nehmen, das nennt sich Gleich-Berechtigung.
    Was den sozialen Druck zum Tragen des Kopftuchs angeht, erlaubst du mir diesen Hinweis: Ich habe ausdrücklich (zweimal!) geschrieben: Es geht um das freiwillige Zeigen und Tragen von Hinweiszeichen auf Religionszugehörigkeiten. Ich stelle prinzipiell in Frage, dass alle muslimischen Frauen, die ein Kopftuch tragen, dies ausschließlich aufgrund von äußerem (familiärem Druck) tun. Es gibt, davon bin ich bis zum Beweis des Gegenteils überzeugt, beide Situationen.
    Wir stellen uns jetzt mal eine muslimische Frau vor, die von ihrer Familie gezwungen wird, das Kopftuch zu tragen. Die Situation ist also so: Ihre Familie übt Druck/Zwang auf sie aus, dass sie das Kopftuch in der Öffentlichkeit trägt. Jetzt kommt ein gesetzliches Kopftuchverbot dazu.
    Was ändert sich? Die Situation der Frau wird schlechter: Sie ist dem Druck der Familie und dem Druck des Staates ausgesetzt.
    Was ändert sich nicht? Das Denken der Familie, die sie zum Tragen des Kopftuches nötigt.
    Das bedeutet: Ein Kopftuchverbot setzt an der falschen Stelle an. Es bekämpft ein Symptom, aber nicht die Ursache.


    Und ja, Robert, wir sind noch nicht da, wo wir sein sollten. Ich habe auch nicht behauptet, dass wir dort schon sind, insofern fällt deine ironische Überspitzung ins Leere. Aber wir sollten nicht bei der Gleichberechtigung der Geschlechter stehenbleiben (wenn die denn mal erreicht wird), sondern genauso die Gleichberechtigung der Glaubenszugehörigkeiten angehen.

  • Ich kreuze mal kurz quer.


    Die CDU im Saarland mit 5 Punkten Gewinn, 10 Punkte Vorsprung vor der (auch hinzugewonnenen) SPD. Für die CDU allein reichts nicht.


    Wie wäre es denn - z.B. im Sinne einer Demokratie-Hygiene - wenn die SPD sich mal nicht als kleiner Koalitionspartner anböte, sondern diese Option verweigert?

    • Offizieller Beitrag

    Zunächst hat die SPD etwa einen Prozent verloren


    Verweigert sich eine demokratische Partei einer Koalition, die ja offenbar auch mehrheitlich gewollt war, kann sie sich auch gleich einsargen. Das gäbe im Zweifel Neuwahlen und dann redet keiner mehr von Schultz und ausgebliebenem Effekt.


    Mit Hygiene hat dein Vorschlag herzlich wenig zu tun. Das wäre eher Kamikaze.

    • Offizieller Beitrag

    Eine Minderheitsregierung ist nicht prinzipiell undemokratisch. Sie muss zwar immer wieder aufs neue Mehrheiten beschaffen und wäre daher fast ständig in einer prekären Situation, natürlich.
    Aber die (Minderheits-)Regierung wäre damit gezwungen, richtig aktiv loszulaufen und die anderen davon zu überzeugen, dass und warum ihr jeweiliges Vorhaben gut und richtig ist. Das wird natürlich nicht passieren im Saarland, weil dazu der politische Mut fehlt - aber es wäre jedenfalls spannend zu beobachten, ob auf diese Art mehr bewegt wird als mit einer großen Koalition des kleinsten gemeinsamen Nenners.

  • Martin: Und was ich versucht habe dir klar zu machen - wir reden hier bei weitem nicht nur über die Familie, die ist nur der erste Schritt. Zum Thema Freiwilligkeit der Verschleierung (nochmals, wie am Anfang gesagt, das Kopftuch sehe ich da als das allergeringste Problem von allen) empfehle ich dir die Studien des Psychologen Ahmad Mansour, der sich als Psychologe mit muslimischem Hintergrund intensiv mit der sogenannten "Generation Allah" befasst. Hier muss man sogar sagen, dass für viele dieser "Generation Allah" bereits das Tragen des Kopftuchs auf sonst regulärer Freizeitkleidung die Frau zur "Schlampe" deklassiert und schwere Verbrechen wie Vergewaltigung aufgrund des Kleidungsstils völlig ungeniert legitimiert werden.


    Nochmal - das Kopftuch sollte kein Problem sein, genauso wie das Tragen einer Kippa, eines Kreuzes, des roten Punkts, egal was einem da einfällt. Aber, und das unterscheidet manches Symbol des Islams von den anderen Beispielen, "egal" sein sollte einem das nie, und wenn noch so sehr betont wird, es sei freiwillig. Denn hinter dieser "Freiwilligkeit" steckt eine sozial sehr schwierige Situation, die für uns in unserer Komforthaltung der Religionsfreiheit oft nur schwer bis gar nicht nachvollziehbar ist.


    Deine Anmerkung zu "alle oder keine" deckt sich ja aber bereits mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum Thema religiöse Symbolik am Arbeitsplatz, und finde ich auch vollkommen richtig so.