Ich bin begeistert: Dies ist eine (zugegebenermaßen alte, aber eben auch ewig junge) fantastische Auseinandersetzung über das Schönste und Wichtigste, was Genesishörer haben: Die Qualität der Musik. Was anderes sollte es geben, über das so mit Leidenschaft gestritten werden müsste, als eben dies.
Ich bin gar nicht der Meinung, dass wir einfach auf der Ebene des persönlichen Geschmacks bleiben sollten (nach dem Motto: Ich finde eben WCD geil, da lass ich auch nichts drauf kommen, wer was anderes findet, der soll bloß den Mund halten), denn das hieße, dass wir sofort am Ende jeglichen sachlichen Austausches wären und konsequenterweise nur noch Polls bräuchten und damit wäre die Sache dann entschieden.
Der Troll ist absolut zu vernachlässigen, denn substanziell ist er auf dem Niveau, welches er Genesis nach ATTWT unterstellt. Kritik z.B. mit einem Hinweis auf die eigene Kenntnis eines einfachen Akkordes zu begegnen, ist entlarvend armselig, schaumschlägerisch und zugleich arrogant: Was soll das für eine esoterische Geisteshaltung sein, die davon ausgeht, dass musikalisches Fachwissen (welches er hier keinesfalls demonstriert hat) den reinen "Liebhaber" der Musik in Qualitätsfragen dominieren sollte?
Nein, wir sollten diese Ebene verlassen. Besser wäre es, wenn wir uns fragten, was für Kriterien, die über die bloße persönliche Geschmacksebene hinausgehen, eigentlich für die Diskussion um Pop und Prog relevant sind und ob es eine benennbare Entwicklung der Band gibt, die begründet bewertet werden kann.
Ich fände es nur angemessen, wenn wir uns dabei einerseits auf die Kompositionen selbst, die Texte und den Sound (also Instrumente / Klangfarben / Abmischungen) konzentrierten. Erschöpfend kann ich das natürlich so spontan auch nicht, aber wenigstens ein paar Anstöße möchte ich geben, die dann hoffentlich für eine fruchtbare gemeinsame Auseinandersetzung taugen (Übrigens ist der SdW, meine ich, genau hierfür auch ein Forum: Dort kann wunderbar konkret über musikalische Qualität gesprochen werden.)
Eines scheint für mich außer Frage: Die von vielen kritisierte Entwicklung spätestens nach WAW hängt klar mit einer grundsätzlichen Vereinfachung von musikalischen Strukturen zusammen. Es gibt einen Grad der musikalischen Komplexität in den Jahren gerade nach 1970, der offensichtlich als Qualitätsmerkmal dienen kann. Diese Komplexität ist z.B. rhythmischer Natur: Hört euch mal TLLDOB an (die Archive-Live-Version macht das m.E. besonders deutlich mit einem göttlichen Collins), wie vielfältig die Rhythmen sind, also z.B. die Taktarten, und wie vielschichtig auch im Binnenbereich der einzelnen Formteile Rhythmen kombiniert, entwickelt, kontrastiert werden. Und das kann jeder hören, dass dies eben bei IT und WCD keinesfalls so ist. Auch harmonisch lässt sich das ohne Weiteres nachweisen: Wer ATOTT daraufhin hört, wird merken, dass auch bei den späteren "Longs" nie und nimmer dieser harmonische Reichtum auftritt. Mich hat die Diskussion um "Shorts" und "Longs" deswegen immer so genervt, weil oftmals zumindest suggeriert wurde, die Länge der Stücke sei ein Qualitätskriterium. Was für ein Quatsch: Die einzelnen Teile z.B. von "Driving The Last Spike" sind schlichtweg simpel gestrickt und haben kaum die musikalische Tragfähigkeit wie z.B. bei "One For The Vine": Sie leben von der Wiederholung einfachster Akkorde (meistens in viertaktiger Gliederung) bis eben der nächste Teil kommt. Der Text ist trotz des bewegenden Themas eindimensional und naiv umgesetzt.
Auch die Melodik der Songs (beginnend mit dem Gesang) wird in den 80ern und 90ern wesentlich simpler / kurzatmiger / minimalistischer.
Das alles liegt auch zweifelsohne an der kompositorischen Songentstehung: Da Collins / Banks / Rutherford seit "Duke" ja vor allem im Studio durch gemeinsame Improvisation anfangen zu komponieren, ist eben sehr klar, dass komplexere Strukturen gerade im Mikrobereich der Musik eher aufgegeben wurden. Es lässt sich über einen 7/8-Takt eben nicht so leicht gesanglich oder instrumental improvisieren wie im 4er-Takt und über komplexe Akkordstrukturen auch nicht. Und mir scheint, dass vor allem Banks und Rutherford dazu auch grundsätzlich nicht gut in der Lage wären (Collins macht sich ja z.B. über die Rhythmusfähigkeiten von Rutherford ziemlich lustig).
Es bleibt also dabei: Die alten Genesis zeichneten sich durch musikalische Vielschichtigkeit, Komplexität und auch Sublimität aus (die ich persönlich sehr schätze). Mal abgesehen davon, dass ich auch die Texte der alten Genesis mit ähnlichen Attributen belegen würde, aber das führt mir jetzt zu weit. (Ist aber trotzdem eine wichtige Diskussion.)
Was zeichnet die neueren Genesis aus? Wahrscheinlich das Gespür für eine minimalistischere (vor allem ab "Abacab"), eingängigere (vor allem ab "Follow You Follow Me") Musik, in der ganz gezielt mit wenigen musikalischen Mitteln eine große Wirkung erzielt werden soll ("Mama", "I Can't Dance" als Paradebeispiele). Der Sound / die Produktion ist sicherlich als "Sekundärmerkmal" von Musik hier eine ganz große Stärke. (Im Gegensatz zum verschrobenen, fürchterlichen Sound vor SEBTP.) All dies sind m.E. Merkmale von Pop bzw. hier von Pop-Rock.
Weshalb ich die ältere Phase deutlich bevorzuge? Das Minimalistische, Durchschaubare, Voraussehbare, z.T. auch recht Stereotypische und Klischeehafte taugt m.E. nicht so sehr für einen ganzheitlichen Musikgenuss, also das Hören mit Emotion und Geist. "Mama" hat bei mir damals als 13-Jährigem eingeschlagen wie eine Bombe: Ich war zutiefst getroffen von der Gewalt der Songentwicklung, von der orgiastischen Steigerung, von den sofort im Ohr haftenden Melodien und Harmonien. Höre ich den Song heute, hat sich diese Wirkung etwas relativiert, die Substanz des Songs, also das was für mich über das bloße Ansprechen des vegetativen Nervensystems hinausgeht (Beziehungsreichtum, Vielschichtigkeit, Differenziertheit, Möglichkeiten zum Entdecken von Neuem, also durchaus auch intellektuelle Freude an der Musik wie am Text), ist hier nicht so tragfähig für ein tiefer gehendes Erleben wie z.B. bei "Cinema Show" - ein Song, der bis heute nichts von seiner Faszination eingebüßt hat.
Von daher glaube ich auch wirklich, dass unter primärstilistischen Aspekten die Collins-Ära kaum mehr als Fußnote in der Rockgeschichte ausmachen wird, während die Gabrielzeit sicherlich weiterhin als stilbildend angesehen muss (und hier auch ganz klar an der Spitze des Prog - aber das ist ein anderes Feld). Gleichwohl werden die Erfolge der Band während der 80er und 90er aber natürlich zumindest als Datenbestand der Pop-Geschichte erhalten bleiben.
Trotzdem muss ich bei meiner Ausführung auch aufpassen, unzulässige Verallgemeinerungen zu vermeiden: "The Carpet Crawlers" ist harmonisch und rhythmisch eben auch sehr simpel gestrickt - also von wegen alt = stets komplex. Man kann also nur Tendenzen benennen und diese an konkreten Beispielen festmachen.
Und demgegenüber haben die alten Genesis, meine ich, noch viel differenziertere, originellere Sounds verwendet als die neuen, also von wegen alt = Scheiß-Sound. (Die Kritik betrifft eher die Studioproduktion / - abmischung.)
Und Komplexität ist eben auch mitnichten das einzige und schon gar nicht von allen akzeptierte Qualitätskriterium. Sublimität oder auch Eingängigkeit wären eben andere Kriterien, die man an die Musik anlegen könnte. Deshalb wäre ich so interessiert daran, zu erfahren, was ihr an der Musik schätzt, ohne dass es ausschließlich das subjektive Empfinden betrifft. (Gerne hier oder eben beim SdW.)