Irgendwie wird das hier und heute nichts mit einer Pause, auch wenn die Band die Bühne verlässt...Ich nehme mir vor, beim Verlassen der Halle die 35 EUR in ein schwarzes Shirt zu investieren und lasse mich weiter von der Nostalgie tragen, während um mich herum klatschende Fans auch begeistert mitgehen.
Die helfenden Hände bauen das Miniset schnell wieder ab, die Band verschwindet.
Bis auf Mike.
Mike steht mittig auf der Bühne im weißen Spotlightkegel, allein mit seiner E-Gitarre.
Den ganzen Abend über haben sich die farbigen Lichtstrahlen der Scheinwerfen auf seinem weißen Anzug gesammelt und ihn wieder und wieder in neue Farbmäntel gehüllt, ihn in verschiedene Lichtgewänder getaucht. Jetzt ist er strahlend weiß und er rockt los: Der Riff zu I Can't Dance, dem letzten Tropfen Genesis des Abends, füllt die Halle. Das Publikum ist begeistert.
Zu Mike tritt Tim Howar und singt sich die Seele aus dem Leib. Nach und nach kommt die Band zurück und setzt mit ein. Auch hier haben wir einen totgenudelten Song, den ich eigentlich garnicht so toll finde, der mir aber auch wieder Spaß gemacht hat gestern. In ein 80er/90er Jahre Hit-Set passt das Ding halt aber auch schon echt gut rein.
Und die Band hat eben auch das, was ein gutes Konzert ausmacht. Sie haben (Spiel-)Spaß. Tim Howar holt die letzten Zuschauer von ihren Stühlen und zieht sie an den Bühnenrand. Die Fans sind vielleicht älter, aber sie sind am Leben und haben Spaß dran. Die Halle steht.
Nachdem Tim Howar einmal mehr im Mittelpunkt gestanden hat kommt jetzt die große Stunde von Andrew Roachford. Die Band, aber vor allem er, performen Cuddly Toy.
Was folgt sind mehrere Minuten voller satter Rockmusik, krasser gesanglicher Leistung, bestem Showmanship, lustiger Audience-Participation, starken Gitarren und Bässen und Drums. Die Band rockt. Die Halle bebt. Das Publikum ist begeistert. Es fällt mir einmal mehr positiv auf, wie schön sich die beiden Lead-Sänger gegenseitig unterstützen.
Sie gönnen sich gegenseitigen das Rampenlicht eines "eigenen" Songs, um dann auch wieder - wie eben noch im Medley gesehen und gehört - wundervoll gleichberechtigt zusammen zu singen. Eine tolle Dynamik einer gut eingespielten Band. Und Roachford kann ich garnicht genug herausheben. Sein Cuddly Toy ist sicherlich eines der absoluten Highlights des Abends.
Nach diesem Rock-Intermezzo schließen Klassiker der Mechanics das Program ab.
Andrew Roachford gibt einem wunderbar kitschigen Living Years ein neues Intro, eine eigene Note und holt mich trotzdem (oder gerade deshalb?) emotional total ab.
Das Ding ist schon auch ein echtes Meisterwerk der 80er Jahre Popmusik von Mike. Beeindruckend, dass Andrew das so gut performt bekommt, nachdem er direkt zuvor bei Cuddly Toy minutenlang alles, aber auch wirklich alles rausgehauen hat. Profi!
All I Need Is A Miracle ist wieder ein Song für Howar. Und das Publikum. Was ein Brett. Muss ich nochmal sagen, dass es ein totgedudelter Hit der 80er ist? Wohl kaum. Aber mal ehrlich, deswegen sind wir ja auch da. Klar, man wünscht sich vielleicht den einen oder anderen Ausflug in die obskureren MATM Stücke (für mich etwa: Why Me, Call to Arms, Hanging by a Thread, Mea Culpa, Grain of Truth, Web of Lies...) oder etwas aus dem weitläufigen Katalog der Genesis-Familie, jenseits der ausgetretenen Hitpfade, aber die Hits braucht's schon auch.
Und All I Need Is A Miracle ist genau das. Ein Hit.
Das Publikum liegt Tim Howar zu Füssen - der geht auch schon mal in die Knie für uns oder klettert etwas an Nics Drumset-Podest hoch. Das Publikum singt. Das Publikum tanzt auch schon seit einer ganzen Weile links und rechts vor der Bühne. Die Youtube Aufnahmen werden der Stimmung in der Halle und der musikalischen Darbietung nicht gerecht.
Es folgt Over My Shoulder, ein weiterer Song "meines" Albums Beggar. Auch hier singt und klatscht das Publikum, angehalten und angefeuert von Tim Howar und der Band, begeistert mit. Das Ding ist ja auch ein Gassenhauer. Luke "The Whistler", ist bei diesem Song mit Bassgitarre unterwegs und bekommt auch seinen Moment Center-Stage, beim Pfeif-Solo. Er flötet gekonnt vor sich hin und wird dafür entsprechend abgefeiert. Der Song macht allen Spaß und beendet den regulären Teil des Konzerts.
Die Halle tobt. Der Familienvater von weiter oben steht bereits seit fünf oder sechs Stücken und lässt sich auch von seiner Ehefrau nicht mehr einfangen. Seine Töchter sind begeistert und filmen abwechselnd das Geschehen auf der Bühne und ihren Papa. Was ein Geschenk für diesen glücklichen Menschen!
Wir klatschen die Band zu einer Zugabe zurück. Roachford ruft augenzwinkernd "Zugabe" in sein Mikro und auch ihm liegt die Halle zu Füssen.
Die "neuen" Sänger haben es geschafft. Beide sind unterschiedlich. Beide sind total stark. Beide haben Spaß an der Arbeit und beide verstehen sich gut. Was ein Erlebnis.
Auch der Rest der Band ist klasse. Mike hat Spaß (mag sein, dass er sich verhauen hat, mir egal, ich habe es nicht gehört), auch wenn das Silent Running Solo vielleicht nicht monströs virtuos ist. Aber was soll's. Er hat den ganzen Kram geschrieben! Mir würde das langen und ich finde, er spielt gut heute Abend.
Das tut auch Anthony Drennan. Ihn "kenne" ich noch von der Calling All Stations Tour. Da fand ich ihn gut und auch hier, im Gewand eines Mechanikers, liefert er einfach solide und überzeugend ab. Nicht aufdringlich, aber gekonnt. Ich kann verstehen, warum er als Back-Up-Gitarrist bei der Last Domino Tour von Genesis dabei war. Einzig Luke bleibt etwas blass, was aber eher daran liegt, dass er alles macht (Backgroundgesang, Keyboard-Parts, Pfeifen...) aber nie wirklich lange im Vordergrund steht. Er macht auf mich den Eindruck eines idealen Teamplayers.
Während sich Nic Collins wohl den halben Abend über schwer zusammen genommen hat (er wurde bei der ersten Bandvorstellung früh am Abend bereits sehr gefeiert und musste beschämt abwinken hinter dem Drumkit), peppt er jetzt in der Schlussnummer, der einzigen Zugabe des Abends, Word of Mouth, den Drum-Part richtig auf.
Das Ganze gipfelt dann in einer Bandvorstellung, in der jeder Künstler ein Solo gibt. Tim Howar stellt die Band nochmal vor und stellt auch klar, dass Familie Collins eventuell doch nicht ganz unbegabt sei, was die Musikalität angeht.
Dann spielt der jeweilige Künstler ein Solo.
Das Solo von Andrew Roachford ist zunächst eine Homage an die kürzlich verstorbene Tina Turner. Er intoniert ihr Private Dancer. Die Halle geht empathisch mit. Dann geht er weiter zu Superstition (hier sitzen die Keyboard-Tonfarben glücklicherweise) und wird frenetisch gefeiert. Nicht ganz so wie bei seinem Cuddly Toy vorher, aber man merkt, das Publikum liebt ihn. Luke spielt einen Teil aus That's All (meine ich zumindest) und Mike spielt wohl Purple Haze - und das ohne größere Fehler. Ich hatte ja, bis es soweit war, auf ein Genesis Solo gewartet, vorzugsweise das aus 2nd Home By The Sea, aber das wusste ich vorher, dass das nichts wird. Dafür überraschte Anthony Drennan mit dem Firth of Fifth Solo.
Das abschließende Drum-Solo von Nic ist sicherlich (neben Cuddly Toy) ein weiteres Highlight des Konzerts, zeigt er hier nicht nur sein Talent, seine mittlerweile gewonnene Erfahrung, sondern auch seine Jugend und seine Eigenständigkeit vom Stile des Vaters.
Tim Howar bekommt kein eigenes Solo, er nimmt statt dessen nach Nic Collins wuchtigem Drum-Solo Word of Mouth wieder auf und beendet den Abend mit einem Singspiel zwischen ihm und uns.
Ich habe längst aufgehört mir Sorgen zu machen, ob man mein Gesinge auf der Handyaufnahme meiner Nachbarn hören kann. Ich bin unentwegt am Grinsen und meiner besten Freudin dankbar, dass sie es nicht auf einen Glücksspielgewinn hat ankommen lassen, sondern mir einen solchen fantastischen Abend beschert hat.
Was habe ich mich gefreut, Mike Rutherford und Nic Collins, nach Amsterdam II, noch einmal wieder zu sehen. Aber ich bin auch froh, Andrew Roachford (was für eine Stimme und Charisma!) und Tim Howar eine Chance gegeben zu haben. Luke, sorry, du kommst zu kurz, aber du hast perfekt mit gespielt! Gleiches gilt für Anthony Drennan.
Und nochmal - der Klang von Live-Musik, Basspedale und Drums. Es geht einfach nichts drüber.
Die Band verneigt sich und geht dann unter mächtigem Applaus ab und überlässt Mike Rutherford die Bühnen für einen kurzen Moment, in dem sich die Fans bei ihm für Jahrzehnte wunderschöne Pop- und Rockmusik mit stehenden Ovationen bedanken.
Beim Rausgehen erstehe ich das hässliche schwarze Shirt und trage es stolz zum Parkplatz, an dem die Fans gesittet ausparken und ohne Prollgehabe den Stau gen Autobahn überstehen.
Ein toller Abend geht zu Ende, ein schönes Konzert reiht sich in meine Erinnerungen toller Konzertabende der Genesis-Familie ein.
Ich bin dankbar und zufrieden. Meine gute Laune hält bis tief in die Nacht an.
Wer die Gelegenheit hat, sich die Aufgetankt (äh...Refueled) Tour (nochmal) anzuschauen, sollte das Geld nicht scheuen und sich das Erlebnis gönnen.
Ich bin der Meinung, es lohnt sich total. Es ist ein Trip in die Vergangenheit, die 80er und 90er, klar. Aber es fühlt sich einfach schön an. Und gut. Irgendwie wie nach Hause kommen.
Ich schreibe hier ständig von Spaß. Aber genau das ist es, was ich erlebt und gesehen habe. Spaß allenthalben. Bei der Band auf der Bühne und beim Publikum. Klingt nach Klischee, war aber eben genau so.
Und seien wir ehrlich. Ist Spaß nicht genau das, was wir alle gerade brauchen können...?
The Best is Yet To Come - hoffentlich