Beiträge von MartinC

    Über Hackett's mögliche Intentionen bei dem Text weiß ich nichts, aber "Tower" hat in England als erste Assoziation den "Tower of London", der als erstes und ältestes politisches Gefängnis der westlichen Hemisphäre gilt.
    Somit wird "Tower" in der englischen Lyrik und Prosa oft und gerne als Metapher für Diktaturen und restriktive politische Systeme eingesetzt, und das "Umwerfen" oder "Niederreißen" desselben als Umsturz/Befreiung (so wie in Deutschland aus naheliegenden Gründen dann oft literarisch eine Mauer umgeworfen wird).

    Das war ja wohl klar, daß sich da jetzt alle drängeln... gell?


    Dann spielen wir mal Francis-der-Klugscheißer (Miau)... 8-)


    "Willow Farm" war ursprünglich ein eigenes Stück von Gabriel, das erst zu einem späteren Zeitpunkt in "Supper's Ready" eingefügt wurde - was natürlich nicht heißt, daß es im vollständigen Stück keine Rolle zu spielen hat.
    Ein wenig so wie bei "A Day In The Life" von den Beatles, als Lennon ohne Mittelteil dastand, während McCartney zu "woke up, fell out of bed..." der Rahmen fehlte. Einmal zusammengefügt, machte es "Paff" und die Legierung ist nimmermehr zu trennen - dito "Supper's Ready".


    Gabriel zitierte meines Wissens einmal als Inspirationsquelle (von "Willow Farm") die Erinnerung an frühe Kinderprogramme der BBC. Das klingt sehr plausibel, wenn man mit diesen vertraut ist. Während in Deutschland in den 50ern und 60ern die "Kinderstunde" im TV den Charme von abgefilmten Internierungslagern hatte, in denen Kleinkinder von Bohnerwachs-Dominas aus der Vorhölle für Blockwarte zu sportlicher Ertüchtigung, Tütenkleben und anderen spaßigen Beschäftigungen angehalten wurden (die Älteren im Publikum erinnern sich bestimmt noch an "Sport, Spiel, Spannung" :teufel:), ging in England ein ganz anderer Trip ab.
    Man könnte es "viktorianische Teletubbies" nennen - sonderbare Puppenkisten-Landschaften, in denen grob animierte Hasen, Igel, Frösche und sonstiges Getier herumhüpften, während ein Klavier altmodisches Music-Hall Geklimper beisteuerte und Klassiksänger mit manierierter Fistelstimme "lustige" Texte voller Unsinnswörter und Lautmalerei zum Besten gaben. Mary Whitehouse bekommt im Grab noch feuchte Augen, wenn sie an die gute alte Zeit denkt... :schockiert:


    "butterflies, flutterbyes, gutterflies" und "the frog was a prince,... brick,... egg,... bird" klingt faktisch wie O-Ton, während "Winston Churchill dressed in drag,... British flag,... plastic bag" genau diese Art von Nonsense-Reimen parodiert. Und auch die Musik und der Rhythmus treffen exakt den guten alten Music-Hall Charakter.


    Soviel zur (wahrscheinlichen) Inspiration - was nun den "Sinn" angeht... Man ist hierzulande von der Schule bis ins Feuilleton an die Frage "Was will uns der Dichter sagen?" gewöhnt, als wäre Kunst zwangsläufig ein gradliniges Rätsel, bei dem der Dichter einen Knochen vergräbt, die Schatzkarte verschlüsselt und der Leser dann brav zurückanalysiert, um den Knochen wieder auszugraben: "Mahlzeit!", bzw. "Abendessen ist fertig".


    Peter Gabriel war nicht (immer) dieser Meinung:
    "I'm a great believer in mumble-jumble sense. I prefer things to give an air of meaning, rather than meaning itself."


    Da wenden sich die Literati Deutschlands mit Grausen...


    Was der junge Gabriel machte, ist ein höchst komplexes Verwirrspiel mit Sprache und Lauten, Bildern und Symbolen. Er schrieb Parodien, (klassische) Travestien und Satiren, und am liebsten alles zugleich.
    Die Stoßrichtung ist nicht, eine spezifische Botschaft zu predigen, sondern eher, den Hörer anzuregen, zu verunsichern, zu irritieren und zu verwirren.
    Das gelang ihm ziemlich gut...


    Die Frage, was seine Texte bedeuten (oder noch schlimmer: was er damit *wollte*), ist der Frage verwandt, was uns Lewis Carroll mit "Alice in Wonderland" sagen "wollte": Der Nächste, der es herausfindet, darf sich was wünschen!
    Seit 100 Jahren sind die Vertreter aller denkbaren Geistesrichtungen am Sezieren, und man glaubt gar nicht, was alles zum Vorschein kommt, wenn man nur tief genug gräbt. Und genau dafür ist das Buch in England das unbestrittene Fundament der modernen Literatur, während es in Deutschland als einfaches "Kinderbuch" läuft, wenn nicht als harmloser Disney-Film oder gar als grottenschlechte japanische Trickfilmserie.
    Bei Gabriel wird erst seit 30 Jahren gegraben, aber die Ausbeute ist kaum geringer... habe ich eigentlich erwähnt, daß Gabriel auch "Alice" zu seinen Inspirationen zählte?


    Die Schlacht um die Frage, was alles bedeutet, läuft also, und es werden keine Gefangenen gemacht - und keine Theorie bleibt unwidersprochen.


    In letzter Zeit häuft sich dennoch eine Idee, die einiges für sich hat - die Sonnenblume wäre demnach niemand Geringeres als Gevatter Tod persönlich, wenn auch seelenwanderungsmäßig etwas fernöstlicher angehaucht, als die anglikanische Kirche erlaubt - aber wofür hatte Britannia schließlich ihre Kolonien...
    Angefangen von seinem prächtigen selbst geschneiderten Sonnenblumen-Kostüm (Schnittblume! Man beachte die subtile Symbolik... HoHoHo), begrüßt er die Leute auf der Durchreise ("we're growing everything, we've got some in, we've got some out"), verspricht Wandlung ("everyone, we're changing everyone" - "All change!"), versichert, daß der Rest schon da war ("you name them all, we've had them here") oder noch kommt ("and the real stars are still to appear"), versichert uns, daß wir schon immer im Kreislauf waren ("you've been here all the time, like it or not, like what you got"), daß unsere sterbliche Hülle sowieso nie eine Wahl hatte ("you're under the soil - the soil - the soil") und wir uns so oder so am besten dem Schicksal fügen ("so we'll end with a whistle and end with a bang and all of us fit in our places"), egal wie wir es drehen und wenden.


    Die Theorie wird durch eine Reihe von Indizien gestützt - einmal Gabriel's Gesichtsausdruck während der Live-Performance (vor allem sein Winke-Winke am Ende - "Tschüß Leute - früher oder später sehen wir uns wieder"), aber in erster Linie aus ganz unerwarteter Richtung:
    Auf der "Genesis Songbook" DVD ist bei den Extras ein Interview mit Tony Banks über "Supper's Ready", und da ist ganz am Anfang eine sehr interessante Bemerkung. Er meint, der Charakter des ganzen Stücks hätte sich radikal gewandelt, als "Willow Farm" in die Mitte kam, das er als "ugly kind of sequence" bezeichnet.
    Das wirft die Frage auf, warum er ein lustiges buntes Kinderlied mit einer hübschen alten Music-Hall Melodie als "häßlich" bezeichnen sollte, wenn sich Genesis nicht bei der Einfügung über einen gewissen düsteren und morbiden Unterton im Klaren gewesen wären.


    Vielleicht bedeutet es aber auch etwas ganz anderes. :lol:

    Der britische Radiomoderator John Peel starb gestern im Alter von 65 Jahren bei einem Urlaub in Peru an einer Herzattacke. Es ist das Ende einer Ära.


    Es gab keinen anderen Menschen, der die Europäische Rockmusik stärker und nachhaltiger beeinflußt hat als John Peel.
    Nachdem er Mitte der '60er zum Underground-Kultmoderator der Piratensender (auf Schiffen vor der britischen Küste) wurde, faßte die konservative BBC einmal in ihrem Leben wirklich Mut und engagierte Peel nach der Schließung seines Senders für ihr Hauptradioprogramm BBC Radio1 - mit weitreichender Freiheit in seiner Gestaltung.


    Er nutzte die Gelegenheit und wurde fast 40 Jahre lang zum Motor der kreativen Entwicklung der gesamten Rockmusik. Mit unglaublicher und fast fanatischer Besessenheit war er sein Leben lang auf der Suche nach Innovation, Kreativität, Originalität und künstlerischer Kraft.


    Dabei war es ihm vollkommen Wurscht, was gerade angesagt war, ob jemand einen Namen hatte oder nicht, ob Platten bei der Industrie herauskamen oder mit dem Waffeleisen im Hinterhof gepreßt wurden - wenn ihn ein Titel faszinierte, dann spielte er ihn, und Basta.


    Zur Legende wurden die "Peel Sessions" - Sets von 3-4 Nummern, die Bands speziell für seine Show innerhalb weniger Stunden in einem BBC Studio runterklopften, meistens unveröffentlichte Songs, die gerade erst im Entstehen waren. Viele Bands machte er über seine Sessions landesweit zu Stars, bevor sie auch nur eine Platte herausgebracht hatten - und eine Peel Session spielen zu dürfen, war mehr wert als ein kompletter Plattenvertrag.


    Genesis Fans ist er von den frühen Sessions auf der Archive #1 bekannt, denn auch die frühen Prog Bands fanden durch ihn als erstes den Weg in das nationale Radio - der Progressive Rock faszinierte ihn bei der Entstehung so sehr wie alle späteren Erdbeben, vom Punk bis zum HipHop.


    Seine stetige Suche nach neuer Kreativität brachte ihm natürlich zwangsläufig auch Kritik ein - speziell die Prog Szene hat ihm nie verziehen, daß er Mitte der '70er zum Radiopionier des Punks und der folgenden Independent Revolution wurde und er die - inzwischen lange etablierten - alten Helden nicht mehr spielte.


    Dabei ist er sich einfach nur selbst treu geblieben, er interessierte sich Zeit seines Lebens für den kreativen Funken im Entstehen, während ihn die blanke Ausführung einer Formel, sobald sie mal fest stand, einfach weniger reizte.


    Seine Suche nach diesem Funken brachte ihm die wahrscheinlich weltweit größte private Plattensammlung mit hunderttausenden LPs, CDs, Singles und Tapes ein - der größte Teil obskur und, Stück für Stück, einmalig und einzigartig.
    Mehrere Generationen wuchsen mit seiner Sammlung auf, die er abendlich mit den BBC Hörern aller Welt teilte - es wird für ihn keinen Ersatz geben.


    Wo immer er jetzt sein mag, er wird die Musik sammeln, die er hört - und falls es kein Radio gibt, dann besorgt er sich irgendwo einen Sender und eine Batterie und geht ON THE AIR...


    Machs gut, John, und danke für die vielen tollen Jahre.

    Die Farce wird ja noch dadurch grotesker, daß (mindestens) zwei Plattenfirmen involviert sind: EMI (für seine Studioalben) und Warner (für die Tour-DVD, und damit eigentlich eher für die Encores "zuständig"). Weißt Du, welche der beiden kontaktiert wurde?


    Wehe dem, der mit der Warner Live DVD in eine Polizeikontrolle gerät, und der Polizist fragt bei EMI nach.


    Trotzdem habe ich den Verdacht, der vorliegende Fall hat weniger etwas mit den Musiklizenzen als mit dem Zoll zu tun.


    Der Zoll genießt in Deutschland seit je her Rechte, die weit über alle anderen Behörden hinausgehen, und die werden gerne genutzt. Es ist (meines Wissens) die einzige Behörde, bei der die Beweislast umgekehrt ist: Man muß dem Zoll seine Unschuld beweisen, und nicht der Zoll einem die Schuld.


    Das ist nicht auf CDs beschränkt, sondern kann jeden treffen, der irgend welche Waren aus dem Ausland bekommt. Wenn man eine Holzleiste aus Preßpappe geschickt bekommt, dann kann ein Zollbeamter mit dem Finger draufzeigen und sagen: "Das ist Tropenholz und verstößt gegen das Einfuhrverbot", und dann muß man als Empfänger selbst dem Zoll beweisen, daß die Preßpappe aus Preßpappe ist. Das ist leider keine Polemik, sondern der Stand der Dinge seit es den aktuellen Staat gibt. Vielleicht erinnert sich jemand an den Sketch "Zoll hat Zukunft" von Gerhard Polt, er hat kein einziges unrealistisches Detail.


    Es könnte also einfach Folgendes passiert sein: Ein Zollbeamter öffnet das Paket und wundert sich. Er ruft einen Kumpel bei (irgend einer) Plattenfirma an und sagt: "Da sind so Live-CDs aus dem Ausland in so braunen Kartons, und da steht irgend was von "Bootleg" drauf - was issn das?" - und der antwortet brav: "Die sind verboten". Ware beschlagnahmt und Punkt.


    Das ist traurig und übel, aber das kann jeden treffen, egal welche Art von Ware es ist.


    Was den Aspekt der Musiklizenzen angeht, habe ich mich an einen kleinen Text erinnert, der seit geraumer Zeit durch diverse Foren geistert. Er ist gleichermaßen lustig und gruselig:
    http://www.genesis-fanclub.de/forum/viewtopic.php?t=828

    Aus aktuellem Anlaß (Beschlagnahme von Peter Gabriel Encore CDs durch den deutschen Zoll) folgende Satire.
    Der Text dürfte einigen schon länger bekannt sein, er stammt von einem anonymen Autor und wurde offenbar zunächst im "Aussensaiter Forum" publiziert. Seitdem wurde er mehrfach in anderen Foren weiterverbreitet.
    Historische Anmerkung: Der Text wurde vor dem aktuellen Krieg verfaßt und erscheint hier unverändert in der ursprünglichen Fassung.


    Schöne neue (Klang)Welt 2002-2050


    *2002: Als beste Künstler werden Madonna, Herbert Grönemeyer, Tom Jones, Cher, und Santana ausgezeichnet. Zu den Top-Hits gehören Westlife mit "Uptown Girl", die No Angels mit "All Cried Out", Kelly Osbourne mit "Papa Don't Preach", Madonna mit "American Pie". Die Musikindustrie erfährt zum ersten Mal nach einer langen Boomzeit einen Umsatzrückgang. Als Hauptursachen macht sie das in Mode gekommene Kopieren von CDs und das Tauschen von Musikdateien im Internet verantwortlich. Um den Kids klar zu machen, daß das Kopieren von Musik letzendlich die Künstler schädigt, startet die Industrie die Kampagne "Copying Music is Killing Music".


    *2003: Die Musikindustrie zeichnet Herbert Grönemeyer, Nena, Kim Wilde, Ozzy Osbourne und Metallica als beste Künstler aus. Das Album Nr. 1 ist Nena mit Remixen ihrer größten Hits. In den Hitparaden finden sich neben Alexander, Juliette und Daniel K. auch Jeanette Biedermann mit "Rock my Life", das stark nach Roxette klingt. Weiterhin gehören Lichtenfels mit "Sounds like a Melody", Outlandish mit "Aicha", Kraftwerk mit "Tour de France 2003", KCPK mit "We will Rock You" und Murphy Brown mit "Axel F 2003" und Culture Beat mit "Mr. Vain Recall" zu den Tophits. Die meisten CDs haben Kopierschutz. Seit August ist das Kopieren kopiergeschützter CDs verboten, ebenso das herunterladen von Musik aus dem Internet. Der Umsatz der Musikindustrie geht um weitere 15% zurück, besonders betroffen Hit-Kompilationen mit 47%.


    *2004: Die Musikindustrie zeichnet Herbert Grönemeyer, Marius Müller-Westernhagen, DJ Bobo, Marianne Faithfull und Pur aus. In den Charts stehen das Hollywood Dance Project mit "Relax Reloaded", Kajagoogoo mit "Too Shy 2004", Nena mit "Haus der 2004 Sonnen" und Nico W aus "GZSZ" mit "Ich vermiß Dich wie die Hölle" lange Zeit ganz oben. Mit Hilfe einer automatisierten Sauger-Suche kann die Musikindustrie alle Nutzer von Tauschbörsen ausfindig machen. Fünf Millionen Haushalte in Deutschland erhalten daraufhin Post des Münchner Anwalts G., der ultimativ die Unterzeichnung einer Unterlassungserklärung einfordert und die Erstattung von Auslagen über 583,74 Euro. Die Tauschbörsen brechen zusammen. Die Hälfte aller T-DSL-Anschlüsse wird gekündigt. Der Umsatz der Musikindustrie geht um weitere 10% zurück.


    *2005: Es werden Herbert Grönemeyer, Tom Jones, die Supremes, Suzi Quatro und Elvis Presley als Künstler des Jahres ausgezeichnet, dazu Status Quo mit dem Innovationspreis des Musiker-Managements. Die Charts führen an Peter Maffay mit "So bist Du 2005", Roberto Blanco mit "Ein bißchen Spaß muß wieder mal sein" und Zarah Leander mit "Ich weiß, auch 2005 wird ein Wunder gescheh'n." Der Umsatz der Musikindustrie schrumpft erneut um 50%. Die Trend-Scouts entdecken, daß unter den Jugendlichen 60er- 70er- 80er und 90er- Revivals in sind. Sie treffen sich zu FlowerPower-, Disco-, New Wave- und Rave-Parties und hören die CDs ihrer Eltern. Original-CDs und LPs der vergangenen vier Jahrzehnte werden verstärkt bei Ebay gehandelt. Es wird vermutet, daß die Kids die CD erwerben, kopieren und dann weiterverkaufen. Das ist legal, da die alten CDs keinen Kopierschutz haben und nur Originale angeboten werden.


    *2006: Die Musikindustrie bringt ein neues Tonträgerformat heraus: Die "Smart CD". Sie benötigt spezielle Abspielgeräte mit Internet-Anschluß. Die Smart-CDs lassen sich nur abspielen, nachdem vorher eine Lizenz über das Internet gekauft wurde. Lizenzen gibt es nur noch temporär, es ist nicht mehr möglich, ein Musikstück "für immer" zu erwerben. Dafür werden die "Smart-CD"-Spieler im Bundle mit einem Musik-Abo für einen Euro angeboten. Als erfolgreichste Künstler werden Herbert Grönemeyer, die Scorpions, Mark Oh, Oli P. und Peter Kraus ausgezeichnet. Die Charts werden beherrscht durch Songs wie "Flugzeuge im Bauch Ultimate Edition" mit Herbert Grönemeyer, Oli P. und Xavier Naidoo, "You Keep Me Hanging On" mit den Supremes, Kim Wilde und Sinema sowie "Anyplace, anywhere, whatever" von Nena, Kim Wilde und Jan Delay. Aus Anlaß der Fußball-WM wird mit großem Marketing-Aufwand eine neue Latino-Salsa-Welle propagiert, mit Carlos Santana und Richie Valens ("La Bamba World Cup 2006 Mousse T. Remix") als Galionsfiguren. Obwohl Brasilien zum sechsten Mal Weltmeister wird, hat die Welle nur mäßigen Erfolg. Der Absatz der Musikindustrie sinkt weiter.


    *2007: Mit Hinweis auf die vielen bedrohten Arbeitsplätze setzt die Musik-Lobby ein Gesetz durch, nachdem der Rückruf einmal erteilter Lizenzen möglich ist. Prompt widerruft die Industrie alle bisher erteilten Lizenzen auf nicht kopiergeschützte Tonträger. Damit werden alle älteren CDs und alle LPs illegal, ebenso Plattenspieler und CD-Spieler, die nicht dem "Smart CD" Standard entsprechen. Im Austausch für ihre Original-CDs bietet die Industrie CD-Besitzern eine Einjahreslizenz für die auf der CD vorhandene Musik an. Nach einer erneuten Abmahnwelle der Kanzlei G. aus M. bricht der Tonträgerhandel über eBay zusammen. Auf die Veröffentlichung von Charts und die Auszeichnung von Künstlern wird verzichtet. Zunächst einmal müssen die Lagerbestände an CDs abverkauft werden.


    *2008: Musik wird in Deutschland nur noch im Radio oder bei Konzerten gehört. Das Radio verliert aber an Popularität, seit die Industrie die Sender zwingt, nur noch neueste Produktionen zu spielen und über diese drüberzusprechen, damit das Aufnehmen mit Tapedecks verhindert wird. Konzerte sind fast unbezahlbar geworden, da das gesamte Management von den Eintrittspreisen mitbezahlt werden muß. Dagegen häufen sich die sogenannten "Open Jams", spontane Zusammenschlüsse von Hobby-Musikern, die auf öffentlichen Plätzen mit Gitarre, kleinem Schagzeug, Keyboard, Saxophon etc. Musik spielen und von begeisterten Zuhörern gefeiert werden.


    *2009: Die Musiklobby setzt beim Gesetzgeber das Verbot öffentlicher und privater Performance urheberrechtlich geschützen Materials durch. Musikinstrumente werden mit einer Urheber-Abgabe belegt, da man ja eine Gitarre etwa zum Raub-Abspielen von Stones-Songs mißbrauchen kann. "Making music is killing music" lautet die begleitende Kampagne, die den Leuten Unrechtsbewußtsein beibringen soll.


    *2010: Um Arbeitsplätze bei Musikern zu schützen, wird Musikunterricht rationiert: Es dürfen nur noch so viele Nachwuchsmusiker ausgebildet werden, wie der Markt braucht. Da dieser schneller schrumpft als die Musiker wegsterben, bedeutet das faktisch ein Verbot des Musikunterrichts. Hunderte Musikschulen werden geschlossen.


    *2011: Sarah Connor versucht mit "Terminate Me" einen neuen, nicht gecoverten Song herauszubringen, wird aber dafür von den Anwälten der Musikrechteinhaber verklagt, die es nicht erlauben, daß neue Urheber am kleiner werdenden Kuchen mitverdienen wollen. "Composing music is killing music" heißt das Schlagwort der Inhaber alter Rechte. Sarah Connor gewinnt den Rechtsstreit, wird aber kurz darauf unter mysteriösen Umständen ermordet aufgefunden. Von nun an traut sich niemand mehr, neue Songs zu schreiben.


    *2012: Die Eltern des 6-jährigen Wolfgang Amadeus Moherb, des "Jugend-musiziert"-Siegers, werden zu 150.000 Euro Schadenersatz an die Musikindustrie verurteilt, weil sich herausgestellt hat, daß ihr Kind erst seit eineinhalb Jahren musiziert, also nach dem Inkrafttreten der Unterrichts-Rationierung. Seine Lehrerin, die Violinistin Anne-Sophie Mutter, entzieht sich einer Gefängnisstrafe durch Flucht in den Irak, dem einzigen Land, das nicht unter Kontrolle der westlichen Wertegemeinschaft und damit der Musikindustrie ist.


    *2020: Nahezu jede tonliche Äußerung, darunter Motorgeräusche, Trittschall, Türschließgeräusche und gesprochenes Wort, sind unter urheberrechtlichen Schutz gefallen. Eine Tür zumachen darf quasi nur noch, wer nachweisen kann, daß der dabei erzeugte Schall nicht dem von Porsche patentierten ähnelt. Die einzigen lizenzfreien Worte sind "der", "die", "das", "und" und "hallo". Die Gespräche von Menschen, die sich das "Deutsche Sprache Abo" nicht leisten können, sind daher fast unverständlich geworden. Überhaupt ist es sehr still geworden, da fast jede Schallerzeugung das Risiko einer Abmahnung durch den Münchner Justizkonzern G. und Söhne mit sich birgt. Die Anwälte der Ton und Schall Industrie-Gemeinschaft machen Jagd auf Park- und Waldbesitzer, die in ihren Anwesen das illegale Singen von Vögeln dulden.


    *2050: Europa und die USA sind in einem Handstreich vom Irak eingenommen worden. Die Iraker brauchten nur einen einzigen Muezzin, um die halbe Streitmacht der Westmächte auszuschalten, die sich, an Schall nicht mehr gewöhnt, mit zugehaltenen Ohren am Boden wälzte. Die andere Hälfte und die zivile Bevölkerung wurden dadurch gewonnen, daß man ihnen Kinderlieder vorsang. Die Menschen fingen an zu weinen und den Invasoren auf Knien zu danken, für diese neue und wunderbare Gabe, die sie so lange vermißt hatten. Seither ist der Islam die größte Weltreligion und das Reich Allahs unter der weisen Herrschaft des Kalifen von Washington schwingt sich auf zu neuer Blüte.