Phil Collins Interview 2009 (Mark Lawson) - Transkription

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    Phil Collins begann seine Karriere im Showgeschäft schon als Teenager in einer West End-Produktion des Musical Oliver!. Viele Kinderstars hoffen danach vergebens auf mehr, Collins dagegen bekam eine doppelte Portion musikalischen Ruhms, zunächst als Schlagzeuger und dann Sänger bei Genesis, bevor er auch als Solokünstler auftrat und eine Laufbahn begann, die einen der am häufigsten gespielten Songs unserer Zeit beinhaltet: In The Air Tonight.
    Collins hat aber auch mit zwei sehr verschiedenen Darstellungsweisen seiner Person in den Medien leben müssen. Galt er ursprünglich als der sprichwörtliche nette Kerl im Popgeschäft, so wurde ihm in letzter Zeit anderes vorgeworfen: Oberflächlichkeit, Steuerflucht und dass er eine Ehe per Fax beendet habe. Vor kurzem führte seine dritte Scheidung zu weiterem Spott in den Zeitungen.


    ML: Viele Menschen haben ihre Musik im Kopf, und das seit Jahrzehnten. Haben Sie sie auch noch im Kopf, spuken die Stücke dort herum?
    PC: Ab und an kommen sie mal wieder hervor, aber ich habe ja meinen beiden Kleinen. Sie entdecken gerade, was der Papa tut. Jeden Morgen, jedesmal wenn ich sie zur Schule bringe, sagen sie „Papas Musik“. Also schalte ich den Ipod ein, meistens ein Genesiskonzert oder meine letzte Solotour. Sie hören sich das an und mein 7jähriger fragt mich: „Worum geht’s da?“ Und ich muß dann erklären. Ihm fallen manche Textzeilen auf: „Was bedeutet das? Wenn es in diesem Stück darum geht, was bedeutet das dann?“ Matthew ist ja erst drei, der hört ein neues Stück und sagt: „Daddy, ich mag alle Stücke von dir.“ Darum überlege ich, ob ich ihn Kritiker werden lassen soll [lacht].


    ML: Die Leute ziehen ja aus den verschiedensten Gründen aus England weg. In den 60ern und 70ern waren es die Steuern, andere ziehen weg wegen des Wetters oder aus Liebe. Bei Ihnen war es die Liebe, nicht wahr?
    Pc: Ohne jeden Zweifel, ja. Natürlich wird immer das Nächstliegende vermutet...


    ML: Hat man Sie jemals als Steuerflüchtling gesehen?
    PC: Ich bin dahin gegangen, weil ich Orianne kennengelernt habe und bin eigentlich innerhalb von ein paar Monaten schon umgezogen. Meine vorige Ehe stand schon kurz vor ihrem Ende, und abgesehen davon, dass ich aus diesem privaten Grund da war, finde ich es dort auch wirklich schön. Genf, die Gegend, in der ich gewohnt habe... das Leben dort wird vom See, vom Wasser bestimmt. Ich bin auf der Themse groß geworden, meine Eltern, meine Geschwister, all meine Freunde hatten Boote. Wir lebten wirklich auf dem Wasser. In die Schweiz zu ziehen war... Für mich war es, als zöge ich in das England, wie es in den Ealing-Komödien dargestellt wird [zu den in den Ealing Studios gedrehten Komödien zählt unter anderem auch Ladykillers; d.Übers.]. Die Menschen gehen auf der Straße aneinander vorbei und [hebt die Hand zum Gruß] sagen „bonjour, messieurs, mesdames“, obwohl man einander noch nie zuvor begegnet ist. Man kommt in ein Restaurant und alle sagen „bonsoir“. Es war wunderbar. Man mußte sein Auto nicht abschließen und es gab nirgends Graffitischmierereien. Für mich war das perfekt.


    ML: Es gibt da diese Annahme, dass Sie ein Tori sind, weil... Ich erzählte einem Musikjournalisten, dass ich Sie heute interviewen würde, und er fragte: „Ist er hier, um Lady Thatcher zu sprechen?“ [Phil lacht übers ganze Gesicht] Die Vorstellung, dass Sie ein Teil davon sind... woher kommt das? Doch wohl, weil Sie sehr reich sind.
    PC: [voller Überzeugung] Ja! Seltsam, nicht wahr? Ich glaube, es hat damit angefangen, dass... Mein Vater war ein Konservativer, aber dass hieß damals, als er noch lebte, etwas anderes. Politik war bei uns in der Familie nie ein großes Thema. Wir lebten in einer Doppelhaushälfte in Hounslow. Mein Vater arbeitete in der City, nahm jeden Morgen denselben Zug dorthin und kehrte abends immer mit demselben Zug zurück. Die Politik in diesem Lande war damals noch eine ganz andere, aber ich habe einmal gesagt, ohne irgendwelche politischen Gründe dafür zu haben: „Wenn dir jemand 100 Pfund gibt und dann 60 wieder wegnimmt und dir weniger als die Hälfte übrig läßt – ich finde so etwas nicht richtig.“ Und darauf sagte dann jemand: „Was würdest du tun, wenn das passiert? Würdest du ins Ausland ziehen?“ und ich sagte: „Vielleicht würde ich das. Vielleicht würde ich das tun, wenn so etwas passiert.“ Und das wurde dann natürlich gedruckt und bildete dann das Fundament für das Gerücht, dass ich ein Konservativer bin. Ich hatte das nur mit dem gesunden Menschenverstand betrachtet. Wenn dir jemand so viel gibt und so viel wieder wegnimmt – 50:50 sollte es schon sein, damit man einen Anreiz hat zum Arbeiten und Sparen.


    ML: Aber der Spitzensteuersatz liegt ja bei 40 Prozent.... Hat es Sie nie verlockt wieder hierher zurück zu ziehen?
    PC: Ich bin ja nicht deswegen gegangen, das ist es ja gerade. Ich bin umgezogen, weil ich mich verliebt hatte, geheiratet habe und zwei Kinder habe, die dort leben. Warum sollte ich zurückkommen? Meine Mutter lebt hier, meine Geschwister mit ihren Familien. Ich komme ja zurück, aber um hier zu leben? Meine Kinder sind dort drüben. Ich versuche sowieso schon, das hinzubekommen, darum würde ich nicht zurück nach England ziehen. Wenn ich genug Geld habe, dass ich dafür Steuern zahlen muss, dann habe ich danach auch noch genug übrig. Mein Leben hat sich nie um Geld gedreht. Ich liebe, was ich gemacht habe, und glücklicherweise, wie sich gezeigt hat, haben mir die Leute das Geld in die hintern Taschen gesteckt. Aber ich habe niemals irgendwas aus einem rein finanziellen Motiv heraus gemacht.


    ML: Eine andere Sache, die manche Leute gegen die Schweiz vorbringen, war, dass Sie von England empört waren. Dass Sie fanden, dass man Sie nicht hoch genug schätzte. In der Mitte der 90er gab es ja in der Tat einen Wandel darin, wie Sie in den Medien dargestellt wurden.
    PC: Ja, das hatte alles zu tun mit ...


    ML: Faxgate.
    PC: Ja, mit diesen Unwahrheiten. Was damals passierte, war das: Ich trennte mich von meiner zweiten Frau. Wir hatten das besprochen und sie bat mich, das alles aufzuschreiben, weil das eine ganze Menge war, was sie da auf einmal verarbeiten musste. Sie bat mich aufzuschreiben, was los war und was ich fühlte, und wie wir damit weiter umgehen sollten. Also schickte ich ihr das. Ich schickte ihr einen Brief, denn ich war auf Tournee. Aber wir hatten darüber schon am Telefon gesprochen und auch persönlich, aber dann mußte ich weg, denn man muss mit den Sachen, mit denen man klarkommen muss, klarkommen, während man sein Leben lebt. Ich erinnere mich noch genau, dass ich in Frankfurt – da spielten wir gerade – vielleicht noch eine halbe Stunde vor meinem Auftritt am Telefon hing und versuchte zu klären, wann ich Lily, unsere Tochter, übers Wochenende oder was immer an Zeit da war, haben könnte. Und die Verbindung brach ständig zusammen. Also schrieb ich ein Fax und schickte es aus meiner Umkleide. Und dieses Fax landete dann auf der Titelseite der Sun. Da war es dann zu spät. Ich erinnere mich, dass ich im Hotel in der Schweiz aufgewacht bin, und da war es dann, und ich dachte nur: „Verdammter Mist, wie ist denn das passiert?“ Ich weiß nicht genau, wie es im Detail passiert ist, aber ... Warum? Es stimmte nicht, aber genau da fing man an, auf meinen Grabstein zu meißeln: „Er hat sich per Fax von seiner Frau getrennt.“ Und das wird mir jetzt ewig nachhängen, egal wie oft ich versuche, die wahre Geschichte zu erzählen, denn die andere Geschichte ist einfach besser.


    ML: In letzter Zeit waren Sie wieder in der Zeitung, weil Sie beim dritten Mal die Trennung so still wie möglich vollziehen wollten. Und dann, scheint's, ist jemand durch die Jahresberichte Ihrer Firma gegangen und hat [Phil lacht] die Abfindungszahlung gefunden, aber ...
    PC: Es ist nicht die Abfindungszahlung. Sie haben nur eine Differenz gefunden. Es gibt ja diese Listen mit den 200 reichsten Leuten. Alle Jahresberichte von Firmen werden ja veröffentlicht, also werden diese Listen wohl zusammengestellt, sobald die Berichte eingereicht werden. Irgendwer hat dann irgendwo herumgerechnet und herausgefunden: „Phil Collins ist von Position 156 auf 189 gefallen“ oder welche Position das nun auch immer war, und jemand anders sagte: „Na, die Genesis-Tour letztes Jahr kann's ja wohl nicht gewesen sein.“ Nicht dass wir damit viel Geld verdient hätten, aber die Idee, die Einstellung ist „Das kann's nicht sein. Woher also die Differenz?“ Die hatten also diese Zahl, diese Differenz, und kamen plötzlich auf die aberwitzige Idee, dass das jetzt die Abfindung sein könnte, und dachten überhaupt nicht daran, dass ich eventuell ein Haus gekauft haben könnte – vielleicht dieses berühmte Haus in Norfolk das ich nicht haben, das aber immer wieder auftaucht...


    ML: Also ich lese immer wieder, dass Sie dieses Haus in Norfolk haben...
    PC: Habe ich nicht. Ich habe kein Haus in Norfolk [lacht], ich mag Norfolk noch nicht mal besonders. Also, Norfolk ist bestimmt nicht schlecht, aber warum sollte ich dorthin ziehen wollen?


    ML: Das ist aber schon ein eigentümliches Gerücht. Woher kommt es?
    PC: Ich habe keine Ahnung. - Mein Neffe heißt auch Philip. Er hat eine Zeitlang in Norfolk gewohnt, aber damals konnte er sich kein Haus leisten. Ich weiß also nicht, woher das kommt. Ich glaube, es gibt da noch einen Phil Collins, der sich über das öffentliche Interesse freut. Vermute ich. Ich bin's nicht.


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    ML: Auf jeden Fall haben Sie Ihre Ehen eine Menge Abfindungen gekostet. Waren sie es wert? Bedauern Sie das?
    PC: Oh nein, das bedauere ich nicht, nein. Ich kann sagen, dass Geld nie ein Motiv für mich war. Ich ... Das klingt so furchtbar. Wenn jemand mit einer Menge Geld darüber spricht vor Leuten, die vielleicht nicht so viel Geld haben, klingt das immer so nach „Wenn diese Leute schon genug haben, dann sagen sie, dass es ihnen egal ist.“ Ich habe darüber nie nachgedacht. Im Grunde genommen ist es mir schon immer peinlich, dass ich so viel Geld verdiene,weil ich nur gemacht habe, was ich tun wollte. Ich habe immer nur gemacht, was mir Freude macht, schon mein ganzes Leben lang.


    ML: Das Musikgeschäft hat sich besonders in den letzten Jahren sehr verändert. Was in Ihrer Generation noch selbstverständlich war – dass Leute Musik kaufen, ein Album veröffentlichen und sich Gedanken machen, was die Single werden soll – all das verschwindet jetzt mit der Möglichkeit zum Herunterladen. Finden Sie das schade?
    PC: Ich finde es schade, dass die große Fläche für die künstlerische Ausgestaltung verschwunden ist. Ab diesem Zeitpunkt ging es meinem Empfinden nach abwärts. Früher bin ich hingegangen und habe Schallplatten gekauft, habe Sgt. Pepper vorbestellt, dieses und jenes bestellt; dann geht man zum Plattenladen und hält dann den Heiligen Gral in der Hand, geht zurück, hört es sich an und liest dabei, was auf der Hülle steht. Dann kam natürlich die CD und auf einmal ist alles auf einer Seite. Das war eine große Veränderung, eine große Neuerung abgesehen von der klanglichen Seite, über die alle sprachen. Jetzt war alles auf einer Seite. Auf eine Schallplattenseite passen vielleicht fünf Stücke, also brauchte man ein gutes erstes Stück und brauchte auch ein gutes letztes Stück auf der Plattenseite, damit die Leute die Platte umdrehen, und dann brauchte man wieder ein gutes erstes Stück. Das war schon eine Art ...


    ML: Ein bißchen wie eine Bühnenshow, nicht wahr? Wie holt man sie nach der Pause wieder ein.
    PC: Genau. Bei der CD fängt man aber vorne an, und dann kommen elf Stücke, eines nach dem anderen hintereinander weg. Das ist eine ganz schöne Menge. Ich glaube, was dabei herausgekommen ist, ist, dass man CDs von bekannten Künstlern bekommt, bei denen die besten drei oder vier Stücke ganz am Anfang stehen. Weil die Leute nie wirklich bis zum Ende des Packens schauen, läßt die Qualität dann nach und am Ende laden sich die Leute die Stücke, die sie haben wollen, herunter. Das könnte man auch schön grafisch darstellen. So ist das, wenn man so eine Menge Platten herausbringt, und so wird es bleiben: Wir werden uns die Stücke einzeln kaufen, die uns gefallen. Es ist eben anders. Das Internet taugt ja für eine Menge guter und ganz fantastischer Sachen, aber es untergräbt eben auch... Es gibt keine kleinen Plattenläden mehr. Naja, schon ein paar, aber nicht mehr so viele wie früher, eher für den Feinschmecker.


    ML: Die andere große Veränderung liegt darin, wie die Leute ins Musikgeschäft kommen. Zu Ihrer Zeit antwortete man auf eine Anzeige im Melody Maker, gurkte im Lieferwagen herum, hatte Glück, wenn man im Radio gespielt wurde oder im Old Grey Whistle Test oder sonstwo. Heute geht man in eine dieser Talentshows Marke Simon Cowell [der britische Dieter Bohlen der Superstar-Shows; d.Übers.], und wird sehr schnell groß herausgebracht. Ist das ein guter Weg, Musiker zu entdecken?
    PC: Das glaube ich nicht. Es gibt auch noch eine Kehrseite von all dem, was den Leuten da passiert... Das ist ja auch bekannt. Leute wie Simon Cowell und – gerade heute habe ich etwas darüber gelesen – Sharon Osbourne, ich mag Sharon, aber dennoch, es geht um diese B-Promis. Es geht immer darum: „Wieviel Widerliches kann ich über diese Person sagen?“ Die Leute machen da mit, weil sie auf eine gewisse Art und Weise genauso bekannt werden, wenn jemand ihnen etwas besonders Gemeines sagt als wenn er ihnen ein großes Lob ausspricht. Und nun ist Prominenz diese furchtbare Mischung, und umfaßt auch so viele Leute, die bei Big Brother in der dritten Woche herausgeflogen sind oder so, und jetzt stehen sie als Prominente in der OK [größtes englischsprachiges Klatschmagazin; d.Übers.]. Das alles hat sich so weit von der Wirklichkeit entfernt. Es ist sicherlich in mancher Hinsicht eine Möglichkeit, Talente zu entdecken, aber schon eine sehr seltsame Methode. Jedenfalls keine Sache, die ich für besonders toll halte.


    ML: Kommen wir dazu, wie Sie ins Musikgeschäft gelangt sind, zu Ihrer Kindheit. Ihnen ist eines dieser merkwürdigen Dinge passiert, die Schlüsselerlebnisse im Leben eines Menschen werden. Sie haben im Alter von fünf Jahren zu Weihnachten ein Schlagzeug bekommen. Viele Kinder bekommen eines und hören irgendwann auf zu spielen. Sie wußten aber sofort, dass Sie genau das machen wollten, dass Sie das toll fanden.
    PC: Dieses Schlagzeug habe ich geliebt. Ich habe – so unglaublich es klingt – im Wohnzimmer gesessen und gespielt, während die anderen fern sahen. Das waren aber wohl nur ein paar Wochen, bevor ich oben weiterspielen mußte.


    ML:Da hieß es bei Ihnen zuhause dann wohl oft „Hey, sei mal leiser!“?
    PC: Muß wohl. Ich erinnere mich, dass ich bei der Sendung Sunday Night At The Palladium immer mitgespielt habe, und alle saßen da [schaut über seine Schulter, beugt sich vor und dreht an einem imaginären Lautstärkeknopf] und drehten lauter. [lacht] Schließlich mußte ich dann nach oben. Und dann habe ich ein besseres Schlagzeug bekommen. Das war nie eine Frage. Ich wollte nie Polizist werden, nie Astronaut, nie Rennfahrer. Ich wollte einfach nur das Schlagzeug. Deshalb hatte ich auch dieses komplette Gefühl von „Zieh mich nicht auf“, als ich dann nach vorne mußte und singen. Denn das hier [deutet ein Schlagzeug an], das bin ich, da fühle ich mich wohl, das habe ich mein ganzes Leben lang gemacht.


    ML: Obwohl Ihr Vater wollte, dass sie in dritter Generation Versicherungsmakler werden, nicht wahr?
    PC: Stimmt.


    ML: Niemals in Versuchung?
    PC: [lacht] Mein Bruder war an der Kunstakademie, und er ist immer noch ein sehr erfolgreicher Karikaturist. Meine Schwester war Eisläuferin und führt jetzt eine Künstleragentur. Beide haben es eine Weile probiert. Mein Vater, habe ich herausgefunden – und das finde ich so toll: Man kommt immer wieder auf dies und das zurück und erfährt etwas Neues über seine eigene Familie. Ich habe lange damit gelebt, dass mein Vater, der vierzig Jahre jeden Tag denselben Zug zur Arbeit genommen hat, daran wirklich Freude hatte. Und irgendwann saß ich mal mit meinem Bruder zusammen, und er sagte: „Wußtest du, dass Dad das gar nicht wollte?“ Ich sagte: „Was redest du da? Er hat doch dich dazu gebracht und auch Carol, das zu machen.“ Und er: „Nein, er ist tatsächlich ausgerissen, um zur See zu fahren, und sein Vater hat ihn zurückgeholt und ihm gesagt: 'Diesen Job habe ich gemacht und den wirst du jetzt auch machen.'“ In diesem Moment wurde er praktisch der Chance beraubt, seinen Traum auszuleben. Er hat vierzig Jahre lang mit diesem Job dagesessen. Ob er jetzt einfach so ein sturer Bock war oder sonstwie, aber es war so ein bißchen „Und das wirst du jetzt machen. Wenn ich keinen Spaß an der Arbeit habe, werdet ihr auch keinen haben.“ Also hat mein Bruder es versucht, meine Schwester auch, und ich bin glücklicherweise entkommen.


    ML: Mit vierzehn sind Sie dann zum Theater gekommen, zu Oliver! Wie kam das?
    PC: Meine Mutter hatte von einer Frau erfahren, die eine Tanzschule betrieb und eine Künstleragentur aufmachen wollte; so etwas war gerade sehr in Mode. Überall in London schossen Theaterakademien aus dem Boden. Manche davon gibt es heute noch, andere nicht mehr. Diese Dame suchte jemand, der ans Telefon geht für die Agentur. Und meine Mutter sagte: „Wenn du das nicht machst, mache ich das auch nicht“, also fing sie an und arbeitete von zuhause aus. Bald darauf – Oliver hatte 1960 Premiere, und das war jetzt Anfang '64 – bekam sie einen Anruf. Sie sollte ein paar Jungen vorbeischicken, die für die Rolle des Artful Dodger, des Oliver und der Jungengruppe vorsprechen sollten. Es gab da einen ziemlich regelmäßigen Wechsel der Besetzung wegen der Schulvorschriften. Also ging ich hin; ich war damals am Gymnasium, der Chiswick County Grammar School. Ich ging hin und sie riefen mich wieder an. Man lernt Demut, wenn man mit 300 anderen Kindern auf der Bühne ist, alle sitzen da im Schneidersitz und dann muß einer nach dem anderen aufstehen, vortreten und sein Lied singen, während hinten spöttisch gekichert wird. Das war eine sehr gleichmachende Erfahrung, sehr seltsam. Wahrscheinlich wie Reality-TV heute. Jedenfalls habe ich die Rolle bekommen.


    ML: Ihre Mutter hat Sie in den Film A Hard Day's Night gebracht. Stimmt das?
    PC: Stimmt. So Mitte / Ende '63 kam ein Anruf: Könnt ihr 50 Jugendliche zum Scala-Theater in der Charlotte Street schicken? Dort wird ein Film gedreht. Mehr wurde nicht gesagt, nur noch: Seid einfach da. Also sind wir hin, andere Theaterschulen in London schickten auch 50 Jugendliche, und am Ende waren zwei- bis dreihundert Leute im Theater. Und als wir ankamen, stand da ein Schlagzeug mit dem berühmten Schriftzug „The Beatles“ auf der Bühne und ich dachte: Was geht denn hier ab? Das war wie ein wahrgewordener Traum. Und plötzlich rannten die vier auf die Bühne: „She loves you...“ Das konnte ich in dem Moment überhaupt nicht erfassen. Ich war da, ich sah das alles. Hören konnte man nichts. Alle waren am Kreischen – das war ja Sinn und Zweck der ganzen Szene – und ich beugte mich vor, um zu hören, was da passierte. Die Aufnahmen dauerten den ganzen Tag über und das war's dann. Als der Film in die Kinos kam, bin ich natürlich hin, um ihn mir anzusehen, denn die Beatles waren meine Helden – sind es immer noch. Ich entdeckte Bekannte, meine Freundin, einen Freund, meinen besten Freund, aber offenbar dachten sie nicht: „Den Typen müssen wir auch drin haben“. Ich machte halt nicht, was ich hätte machen sollen.



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    ML: Diese Schulbands – The Real Thing war die erste, nicht wahr?
    PC: Genau. Als wir zusammen spielten und überlegten, eine Band zu gründen, das war so Mitte der 60er. Damals gab es Motown, Stax Atlantic, Sam & Dave und Otis Redding, all diese großartigen Künstler. Ich bin damals ziemlich oft in den Marquee Club gegangen, drei oder vier Mal in der Woche, und da gab es eine Reihe von Gruppen, eine davon, mit denen ich mich sehr angefreundet habe, hieß The Action – diese Gruppen habe ich verehrt. Sie spielten tolle Versionen von den Stücken, und zusammen mit Peter, unserem Sänger – wir gingen beide dahin – brachten wir diese Stücke mit, um sie in der Schulband einzuüben. Eines der Stücke hieß The Real Thing. Wir fanden, das sei ein lässiger Name für eine Band; so kam das dann zustande. Ich spielte Schlagzeug, zwei Brüder spielten Gitarre und Bass, Peter sang und wir hatten zwei Hintergrundsängerinnen, die in meinem Leben eine große Rolle spielen sollten.


    ML: Weil Sie die eine geheiratet haben und mit der anderen eine Affäre hatten.
    PC: Das ist so brutal, Mark! [lacht] Andy war meine erste Frau, ja. Ich kannte sie, seit ich 13 war; die andere ... war in meinem Leben seit meiner frühen Schulzeit recht prominent, und das führte dann gewissermaßen dazu, dass meine zweite Ehe zerbrochen ist.


    ML: Das erste Lied, das Sie geschrieben haben, hieß, glaube ich, Lying Crying Dying. Reime waren Ihnen wohl damals sehr wichtig?
    PC: [lacht] Hätte man jetzt gar nicht gemerkt...


    ML: Was war das für ein Stück?
    PC: Ich habe Klavierspielen genauso gelernt, wie ich es heute meinen Kinder beizubringen versuche: Mal trifft man die Note, mal nicht. Meistens in D-Moll, der traurigsten aller Tonarten, wie Sie wissen. Das Ganze als Stück zu bezeichnen, war.... Wir waren eben zufällig in einer Band, mein Freund Ronnie Caryl und ich – einer meiner ältesten Freunde, er spielt immer noch mit mir - , wir hatten da etwas, das beinahe die richtige Länge für ein Lied hatte. Wir haben es einstudiert und gespielt. Wir haben auch ein Demo davon gemacht, das wahrscheinlich irgendwo herumgeistert. Es war grottenschlecht, richtig mies.


    ML: Wir kennen ja alle Genesis. Sie haben ja damals einen ganz schönen Verschleiß an Schlagzeugern gehabt. Haben sie Ihnen das erzählt?
    PC: Nein. Ich wußte nur, dass die Band richtig hart arbeitete. Ihr Name tauchte immer wieder auf den hinteren Seiten des Melody Maker auf: Sie spielen hier, sie spielen dort. Ich dachte: Das will ich auch, ich will spielen. Also hatte ich mitbekommen, dass ihr Schlagzeuger ausgestiegen war. Eigentlich hatte man ihm wohl einen kleinen Schubs gegeben. Der Gitarrist war auch weg, Anthony Phillips, der ein ganz wichtiger Schreiber für die Band war. Und sie dachten: Gut, wenn wir einen neuen Gitarristen brauchen, dann räumen wir ordentlich auf und besorgen uns noch einen neuen Schlagzeuger. Sie hatten schon einige gehabt und hatten wohl den Eindruck, dass man Drummer eigentlich immer bekommt.


    [Filmausschnitt: I Know What I Like, Shepperton 1973]


    ML: Die Geschichte von Ihrem Vorspiel bei Genesis und wie Sie sich vorbereitet haben wurde schon oft erzählt. Wie sind Sie alle am Anfang miteinander ausgekommen?
    PC: Mein erster Eindruck war die Fahrt nach Chobham hinaus ins Grüne, ins ländliche Surrey. Ich wohnte ja in Hounslow, da hieß es: „Hey schau mal, da steht ja ein Baum!“ Ich fuhr also mit Ronnie dorthin, denn er bewarb sich als Gitarrist. Als wir ankamen – am Haus von Peters Eltern, die recht wohlhabend waren – luden sie mich ein, eine Runde zu schwimmen, während ich wartete. Das war alles so völlig anders. Ich war ja schon in einigen Bands gewesen, unter anderem in der Cliff Charles Blues Band – da spielten wir in sehr rustikalen Lokalen. Und nun war ich in einer Lebenswelt gelandet, von der ich nichts wußte. Sie waren am Anfang seltsam, und dann bekam ich den Job. Ab und zu stürmte dann plötzlich mal einer hinaus. Irgendjemand hatte irgendwas zu irgendwem gesagt, und da waren alle sehr empfindlich. Und ich versuchte das zu entschärfen, ohne so richtig zu verstehen, was eigentlich los war. Es war schon eine seltsame Band.


    ML: Nursery Cryme. Das war ja die Zeit, als Konzeptalben groß in Mode waren.
    PC: Durch Nursery Cryme lief aber kein roter Faden. Die Plattenhülle bildete Elemente aus den Stücken, aus den Texten ab; das brachte die Aura des Geschichtenerzählens mit sich, aber jedes Stück war ganz eigen. The Lamb Lies Down, ja, das war ...! Nach Nursery Cryme kam Foxtrot, das erste Mal, dass wir ein einzelnes langes Stück auf einer Plattenseite hatten – 23 oder 25 Minuten. Und das haben wir dann mit The Lamb auf die nächste Ebene gehoben. Das war ja ein Doppelalbum, ein Konzeptalbum, für das Peter die Geschichte geschrieben hat. Sie können Peter mal zur Seite nehmen, damit er Ihnen verrät, worum es wirklich geht. Das weiß niemand so ganz genau, es sind nur ein Haufen Bilder.


    ML: Haben Sie ihn damals gefragt: Was soll das alles? Worum geht es dir denn da?
    PC: Nein [lacht]. Ich habe nur die Musik gemacht.


    ML: Heute heißt diese Musik ja Progrock, Progressive Rock. War das ein Ausdruck, der damals schon im Schwange war? Haben Sie sich als Teil davon gesehen?
    PC: Progressive Rock, ja, das wurde Progrock, aber Progressive Rock war es damals schon.


    ML: Was bedeutete Progressive Rock für Sie?
    PC: Es bedeutete: Musik jenseits dieser Kategorie von Stücken mit vier Akkorden, also der Sorte Musik, die ich mache. Es war Musik jenseits des Normalen, es gab knifflige Stellen, verschiedene Taktarten und Texte, die man sonst nicht so häufig findet. Zu unserer Zeit gab es da noch Yes, Emerson Lake & Palmer, Jethro Tull und Pink Floyd; wir wurden alle in die Progrock-Schublade gesteckt. Das waren die Hauptgruppen, es gab auch noch andere. Und jede dieser Bands machte etwas völlig anderes, aber wir wurde alle zusammen als Progrock bezeichnet, weil man nicht wußte, wie man es sonst nennen sollte. Ich persönlich war nie ein großer Fan von diesen anderen Bands. Gut, am Anfang war ich ein großer Yesfan, aber als sie dann in der lyrischen Unterwelt verschwanden, konnte ich nichts mehr mit ihnen anfangen.


    ML: Peter war vielleicht nicht ganz Freddy Mercury, aber doch ein Theatermensch, nicht wahr, mit den Kostümen und so weiter.
    PC: Ja.


    ML: Ich sprach kürzlich mit Roger Tayler, dem Schlagzeuger von Queen. Er erzählte, dass sie Freddy oft angefrotzelt und ziemlich viel über ihn gelächelt haben. Ist sowas auch mit Peter Gabriel passiert?
    PC: Freddy war ja immer so. Er hat das einfach auch auf der Bühne ausgelebt. Peter war da völlig anders, er war sehr schüchtern. Ich glaube, bei der Musik von Genesis gab es für ihn einfach sehr viele Stellen, wo es keinen Text gab. Wir haben die Musik ja alle gemeinsam geschrieben, und er war von den instrumentalen Passagen immer sehr angetan. Er spielte dann eben Flöte oder Basstrommel oder sonstwas, oder er suchte sich etwas zu tun und erfand Charaktere und Rollen, die ihm etwas zu tun gaben, während ihn die Leute ansahen, während er gerade nicht sang. Und die Geschichten zwischen den Stücken entwickelten sich; das wurde ein weiterer Aspekt von Genesis-Shows, etwas, was sonst niemand machte. Er hat uns oft überrascht mit den Sachen, die er sich überlegt hat. Später habe ich dann herausgefunden, dass er einfach keine große Lust hatte, das auszudiskutieren. Ein Komitee ist gut, aber dadurch kann sich alles sehr verlangsamen, und dazu hatte er nicht die Geduld.
    Als er bei Supper's Ready – das war im Drury Lane Theatre 1973 oder so – wieder auf die Bühne kam und diesen schwarzen Mantel und so eine rot-rosane Dreiecksmaske trug, da war es für das Publikum das erste Mal, dass sie das sahen – und für uns wahrscheinlich auch.


    ML: Was haben Sie damals gedacht?
    PC: Es paßte zur Musik und erhöhte die Dramatik. Damals paßte es gut zur Musik. Später kamen Augenblicke, wo es mich einigermaßen gestört hat...


    ML: Es gab da wohl eine Maske, in der er kaum singen konnte, oder?
    PC: Es gab einige Momente, in denen er das Mikrophon kaum zum Mund bringen konnte. Das war offensichtlich nicht gut durchdacht. Er hatte da auf eigene Faust mit einem Kostümschneider zusammengearbeitet und den Slipperman entwickelt – das war der Hauptschuldige. Der Typ, der ihn sich ausgedacht hatte, hatte nicht daran gedacht, dass Peter in dem Kostüm auch singen können mußte; also mußte Peter immer zusehen, wie er diese großen Fleischbrocken aus dem Weg bekam. Und in dem Moment schrieb sie Presse darüber und nicht mehr über die Musik, und das hat dann schon ein wenig für Verdruß gesorgt. Das wurde aber niemals eine persönliche Angelegenheit. Ich hatte beinahe den Eindruck, dass Peter auch dieser Ansicht war. Vielleicht auch nicht, weil er vielleicht den Eindruck hatte, dass ihm jemand zu nahe trat, wenn man ihm vorgebracht hätte, dass er damit uns anderen die Schau stehlen würde. Aus der Sache, an der wir alle gemeinsam arbeiteten wurde – die Leute kamen aus dem Konzert und sagten: Das war toll, die Kostüme, die er anhatte. Die Konzertberichte spiegelten das wider.


    ML: Schlagzeuger sind gewöhnlich Leute im Hintergrund, über die man Witze reißt und so. Sie sind ein seltenes Beispiel für einen Schlagzeuger, der nach vorne kommt und Frontmann und Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wird.



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    ML: War das immer schon die Strategie?
    PC: Für mich? Aber nein! Ich war schon immer ein wenig der führende Kopf in den Bands, in denen ich während meiner Schulzeit war. Ich war derjenige, der die Proben ansetzte, die Songs anschleppte und versuchte, allen beizubringen, was wir machen – nur frühe Motown- und Soulstücke. Das Schlagzeug war mein Sicherheitsplan, das war mein Bereich, und so war es auch, als ich zu Genesis gekommen bin. Ich hatte da keine weiteren Ambitionen. Der Sänger – mir war das wurscht, wenn man den Sänger nicht hörte. Es ging darum, was da in der Musik passierte. Das kam dann nur, weil Peter wegging und wir absolut niemand anderen finden konnten. Als er ging, sagte ich: „Kann ich es mal versuchen? Ich glaube, dieses Stück würde ich wohl hinbekommen“. Das klappte, und so machten wir eines nach dem anderen, bis die Platte fertig war, und wir hatten immer noch keinen Sänger. Und dann, behaupten die Gerüchte, erzählt die Legende in Genesiskreisen, hat meine erste Frau vorgeschlagen, ich sollte es machen. Ich erinnere mich so nicht daran. Ich sagte, okay, wir könnten darüber mal nachdenken, aber nur wenn wir uns einen richtig guten Schlagzeuger holen, weil ich nicht vorne stehen und denken wollte „Oje!“ Man hört die Musik auf eine andere Weise, wenn man nicht wie als Schlagzeuger in ihr ist. Jedenfalls holten wir Bill Bruford und gingen hin und spielten. Aber das war wirklich nicht das, was ich wollte.


    ML: Wie war der Rock'n'Roll damals? Sie wollen ja jetzt nicht Präsident werden. Was war mit Drogen, Joints und so?
    PC: Was Frauen anging, reiste jeder mit seiner Freundin oder Frau zusammen. Deshalb war es hinter der Bühne immer außerordentlich still. Und Drogen, nun, das waren ja noch die Anfänge, ein bißchen Gras rauchen oder so, aber das war nichts. Das war einfach nicht die Umgebung dafür. Manche Leute gehen in eine Band, um es mal überall in der Welt so richtig krachen zu lassen. Das war nichts für uns. Bei uns hieß es: „Musik, Mann! Die Band!“ Sehr wie Spinal Tap.


    ML: In der Rückschau ging es ja alles ganz schön schnell: Innerhalb von fünf Jahren sind Sie ja vom Schlagzeuger zum Leadsänger bei Genesis und zum Solokünstler geworden? War das geplant? Wann hatten Sie den Gedanken: „Ich mache eine Solosache“?
    PC: Nichts war geplant.


    ML: Es ist ja [bemerkenswert?] in Ihrem Leben, wieviel davon kam, dass andere Leute etwas vorschlugen oder pures Glück – mehr als alles andere...?
    PC: Oh ja, definitiv Glück. Was die Solosache anging, stand ich damals vor der Situation, dass die Band weitermachte wie bisher, also auf Tournee ging ind Platten einspielte. Meine Ehe ging in die Brüche, also sagte ich: Ich muß jetzt aussteigen – meine Frau war nach Vancouver gezogen, wo ihre Familie lebte oder hingezogen war, und hatte die Kinder, Simon und Joely, mitgenommen. Und ich sagte: Ich muß da jetzt hin und das auf die Reihe bringen, damit es wieder läuft. Also steige ich aus. Und die beiden sagten: Nein, nein, geh du erstmal hin und bring dein Leben in Ordnung. Wir machen ein paar Solosachen. Daran hatten wir sowieso schon mal gedacht. Also ging ich nach Vancouver mit dem Vorsatz, alles in Ordnung zu bringen, und natürlich änderte sich nichts – um's kurz zu machen: Ich kam zurück, und sie waren noch mittendrin in ihren Soloprojekten. Ich fing an, mich zwischen den Kneipenbesuchen zu beschäftigen und meine Geräte zum Laufen zu bringen. Mal klappt's, mal nicht. In den Stücken ging es ganz deutlich um das, was mich beschäftigte, als ich anfing, diese Sachen zu schreiben. Eins der Stücke war In The Air Tonight, und ein paar ähnliche Sachen erschienen auf dem ersten Album. Das waren nur Demos, ich spielte so vor mich hin, um die Zeit zu überbrücken, bis sich die Band wieder zusammenfand. Ein paar Leute, denen ich sehr vertraue, hörten die Demos und sagten: Das sind tolle Stücke – du solltest sie als Album veröffentlichen. Also habe ich dann wirklich meine Demos als Hauptspur benutzt und noch ein paar Sachen hinzugefügt. Das war dann sehr erfolgreich, und plötzlich hatte ich eine Solokarriere, ohne das überhaupt angestrebt zu haben. Ich hatte nur ein paar Stücke geschrieben, um mich zu beschäftigen.


    ML: Warum hat ein Stück auf einmal solchen Erfolg wie In The Air Tonight? Man fragt sich immer, wieviel der Komponist wußte – es gibt ja diese Geschichte, dass Freddie Mercury gesagt haben soll: Ich glaube, ich habe hier etwas, nämlich Bohemian Rhapsody, und dergleichen mehr. Haben Sie damals gleich gedacht: Das ist etwas Besonderes?
    PC: Nein, überhaupt nicht. Das Stück hat jetzt so ein gewaltiges Eigenleben und entsteht auf manche Weise immer wieder neu. Als ich damals meine kleinen Demos aufgenommen habe, da wollte ich etwas machen, was bei Genesis ziemlich schwierig schien – dort probten wir ja immer, nahmen das auf und legten dann den Gesang obendrüber, und dann war es für die Gesangslinie immer recht schwierig, sich bemerkbar zu machen. Für so etwas war ich jetzt, wo ich auch der Sänger war, sensibler geworden. Bei den Demos war es mir sehr wichtig, die Gesangsmelodie möglichst früh festzulegen, und dann passende Musik drumherum zu legen. Wo immer möglich, war das dann ziemlich nackt. Der Text zu In The Air Tonight – ich hatte da einen Sound gefunden, der mir gefiel, einen Rhythmus im Drumcomputer, der mir auch gefiel, die Nadeln am Aufnahmegerät schlugen aus, ich nahm ein bißchen davon auf und sang – die Nadeln schlugen aus, das war gut – und dieser Text kam einfach spontan heraus. Er war komplett improvisiert. Ich habe keine Ahnung, worum es in diesem Stück geht. Damals war es einfach noch ein Lied, auf das ich sehr stolz war. Aber ich hatte keine Ahnung, was ich mit den ganzen Dingern anfangen sollte. Als wir dann entschieden hatten, eine Platte daraus zu machen und ich ein paar Freunde hergeholt hatte, damit sie in meinem Haus in der Stadt mit mir auf den Demos spielten, kamen Leute vorbei, ich spielte ihnen ein paar Sachen vor und sie sagten: Was hast du noch? Und ich spielte ihnen das dann vor und alle meinten: „Mensch, was ist das denn!“ Ich fand das Stück gut, wie ich auch die anderen Stücke gut fand. Und dann beschloss jemand, das Stück zur ersten Single zu machen. Und dann hob es ab. Football-Spieler in ganz Amerika wärmen sich wohl zu diesem Stück auf. Das sind diese völlig skurrilen Dinge, von denen man nie etwas erfährt, bis es einem jemand erzählt...


    ML: Aber es entstand ja schon aus dieser Situation des Unglücklichseins?
    PC: Oh ja. Es ist ein wütendes, bitteres Lied: „Wenn du mir erzählen würdest, dass du ertrinkst, dann würde ich keine Hand rühren“ - das ist wohl ziemlich deutlich [lacht]. Es ist bemerkenswert: Die meisten Songtexte, ich würde sagen, bei gut 80% der Phil Collins Stücke (im Gegensatz zu Genesis-Stücken oder Disney-Stücken) ist der Text improvisiert. Ich singe meistens einfach. Ganz selten einmal sage ich: Okay, worüber soll ich mal schreiben? Ich singe einfach und dann schreibe ich auf, was ich gesungen habe. Die Stimmung der Musik hat natürlich einen Einfluß darauf, was man schreibt. Dieses Stück war sehr geheimnisvoll und hatte diese Beinahe-Monotonie. Die Bilder darin – der Text kam einfach so zustanden. Auf diesem ganzen Album entwickelte es sich vom Zusammenbruch einer Familie zum Licht – dazu, dass das Licht am Ende des Tunnels sichtbar wird.


    [Videoausschnitt: Phil spielt In The Air Tonight bei Top Of The Pops. Im Vordergrund ist recht auffällig ein Farbeimer zu sehen]


    ML: Der Auftritt mit dem Farbtopf – Die Legende behauptet, Ihre Frau sei mit einem Maler/Tapezierer fremdgegangen. Und Sie sind bei Top Of The Pops aufgetreten mit diesem Stück, und neben Ihnen stehen ein Farbtopf und ein Pinsel, was ja ganz deutlich ein spöttischer Seitenhieb gegen die beiden war.
    PC: Ich zerstreue ja nur ungern diesen Mythos... Während ich auf Tournee war, wurde unser Haus renoviert, und sie ging dann mit diesem Maler aus, der eigentlich kein Maler war, sondern nur jemand, den der eigentliche Malermeister angestellt hatte. Er war eigentlich ein Klempner, der keine Arbeit hatte, und die beiden haben sich zusammengetan. Der Kern des Ganzen ist dieser: Als ich bei Top Of The Pops auftreten sollte, sollte ich Keyboard spielen. Ich fragte mich und Steve, der den Aufbau für mich macht: Wir müssen das Keyboard auf irgendetwas stellen, nicht wahr? Wir haben keinen Ständer dafür. Es klingt aus heutiger Sicht sehr unglaubwürdig, aber er sagte: Eine Werkbank, wir können es auf eine kleine Werkbank stellen, das merkt man gar nicht so sehr, dass es eine ist. Wir haben bei Top Of The Pops drei- oder viermal geprobt und den Drumcomputer dann auf eine Teekiste gestellt. Werkbank und Teekiste, das passte einigermaßen zusammen. Und irgendwann habe ich dann diesen Farbtopf geholt, der da herumstand.


    ML: Aber Sie haben das gemacht. Warum, ohne jetzt wie ein Staatsanwalt klingen zu wollen [Phil lacht herzlich] – Warum, Herr Collins, haben Sie in diesem Moment einen Farbeimer geholt?
    PC: Weil ich fand, dass es zur Werkbank und zur Teekiste ... der nächste logische Schritt, abgesehen davon sich einen Overall anzuziehen, war ein Farbeimer, der Farbeimer, der dort schon stand – ich habe keinen gesucht, der stand da einfach so am Bühnenrand, und ich habe ihn einfach dorthin gestellt. Und ganz ehrlich, ich schwöre bei Gott, dass ich mir dabei nichts gedacht habe, bis sie ...


    ML: Was ist mit Ihrem Unterbewußtsein, Herr Collins? Ist es möglich, dass Ihr Unterbewußtsein an Farbe dachte?
    PC: Das ist durchaus möglich. Das Unterbewußtsein war sicherlich bei der Arbeit. Aber ich keine keine bewußte Entscheidung getroffen. Ich finde es erstaunlich, dass ich das getan habe, weil so ganz offensichtlich war, was das war.




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    PC [fährt fort]: Ich habe zuhause noch das Blatt mit dem Text [zu In The Air Tonight] liegen. Nachdem ich sie gesungen hatte, habe ich sie aufgeschrieben, damit ich sie nicht vergesse. Das Blatt, das ich dafür benutzt habe – das war die Rückseite eines Schreibens vom Maler. Und ich habe dieses Blatt immer noch in meiner Sammlung von verschiedenen Sachen, Songtexten und so weiter. Das ist meine Altersversorgung, dieses Blatt Papier, denn es wird mal für ein Vermögen verkauft werden, weil so viele Leute In The Air Tonight lieben. Da gibt es einiges. Ich kenne natürlich diese Geschichte. Es war nicht meine Absicht, aber mein Unterbewusstsein war da ganz sicher sehr fleißig bei der Arbeit.


    [Ausschnitt aus In The Air Tonight]


    ML: Haben Frau Collins oder der Maler das jemals kommentiert?
    PC: Ja, Frau Collins schon. Vom Maler weiß ich das nicht. Ich glaube, sie fand das gar nicht so wild – was sie wirklich geärgert hat, war, dass ich in einem Lied öffentlich ausgebreitet hatte, was da passiert war, und sie das eben nicht konnte. Aber das ist eben mein Beruf, ich schreibe Lieder. Immer mal wieder haben mich die Leute gefragt: Ist dir das nicht peinlich, über dein Leben zu schreiben? Aber was sollte ich denn anderes tun? Man kann wahrscheinlich so ein Dichter sein, der nach Auftrag schreibt, im Verborgenen, einer nach dem man suchen muß, oder man schreibt über die Wirklichkeit und was einem so widerfährt. Das ist dann eher meine Richtung.


    [Ausschnitt aus Against All Odds]


    ML: Für Against All Odds hat Sie der Regisseur Taylor Hackford angesprochen.
    PC: Er kontaktierte mich und sagte: Ich möchte, dass Sie ein Stück schreiben für den Film, an dem ich gerade arbeite; er heißt Against All Odds. Hackford erzählte mir die Handlung, als wir uns in Chicago trafen. Ich sagte ihm;: Ich habe noch nie auf Tournee Stücke geschrieben, ich brauche die Sicherheit meiner Geräusche und meines kleinen Studios. Ich bin nun einmal kein berufsmäßiger Stückeschreiber. Er fand das sehr schade, und ich sagte ihm: Ich habe da ein Stück, das ich nie benutzt habe, weil ich es für das erste Album nicht gut genug fand. Das können Sie sich gerne mal anhören, und wenn es Ihnen gefällt, kann ich auf Wunsch auch noch ein paar Textzeilen ändern. Und ich schickte ihm Against The Odds – so hieß das Stück ursprünglich, und habe auch ein paar Textzeilen geändert. Er war total begeistert, und das Stück wurde dann sogar mein erster Nummer-1-Hit in den USA. Das hat mir natürlich eine Menge Türen geöffnet.


    [Ausschnitt der Ankündigung von Phil Collins bei Live Aid]


    ML: Ich habe mir nochmal das Filmmaterial von Live Aid 1985 angesehen. Das war ganz merkwürdig, denn es ist eine der ganz wenigen Sachen, die man heute so nicht mehr machen kann, weil es die Technologie, nämlich die Concorde, nicht mehr gibt. Und im Nachhinein war der Versuch, sowohl in London als auch in Philadelphia aufzutreten, doch eine ziemlich verrückte Sache.
    PC: Das war eine Idee, die man mir so vorgestellt hat. Und ich glaube, Harvey Goldsmith sagte: Es ist wirklich möglich. Wenn du das willst, dann steigst du in die Concorde und kommst noch rechtzeitig an, um zu spielen. Ich weiß noch, dass ich ihn gefragt habe: Ich bin aber nicht der einzige, der das macht, oder? Wenn die Aktion hilft, das Ganze zusammenzuhalten, okay – aber ich mach das nicht alleine. Damals hatten Power Station und Duran Duran zum Teil dieselben Musiker in der Band, und die eine spielte am einen, die andere am anderen Ort. Dann hat Power Station, glaube ich, aber abgesagt, und ich war der einzige. Ich hatte Sorge, dass die Leute mich für einen Angeber halten würden, das war mir unangenehm. Ich kam also am Flughafen an und war der einzige. Cher war auch im Flieger. Das ist eine lange Geschichte, aber sie wußte nicht, was da gerade los war, und sie sah auch nicht aus wie Cher. Dann kamen all diese Nachrichtenleute an Bord, sie sauste auf die Toilette und als sie wieder herauskam, sah sie aus wie Cher. Ich machte während des Fluges ihre Bekanntschaft, und sie fragte mich, was los sei. Ich sagte: Da findet heute ein Konzert statt. Sie fragte: Kannst du mich da reinbringen? Kannst du mich da reinbringen? Und ich dachte nur: Warum glauben alle, dass ich sie da reinbringen kann? Ruft doch selber an oder kommt einfach vorbei. Als ich nach Philadelphia kam, machte ich meinen Auftritt, und man bat mich, eine Zeile von We Are The World am Ende zu singen. Ich sagte ihnen: Ich glaube nicht, dass ich das noch schaffe, ich bin todmüde. Aber als ich dann wieder in New York war, machte ich den Fernseher an, um das Ende der Show zu sehen. Und da war Cher auf der Bühne mit einem Mikrofon in der Hand und sang. Sie hatte offenbar jemanden überzeugt, sie hineinzulassen. Dieser ganze Tag war sehr skurril. Eigentlich ein rein logistischer Tag: Schaffe ich es pünktlich? Von New York nach Philadelphia habe ich fast genauso lange gebraucht wie von London nach New York.


    ML: Dieser ganze zeitgenössische „Pop mit sozialem Gewissen“ führt zu Ihrem eigenen Album ...But Seriously. Für einige Leute ist es ein kontroverses Album, manchen erscheint es lächerlich: Die Vorstellung, dass diese Rock-Multimillionäre die Leute auffordern: „Ihr müßt etwas für die Armen und Obdachlosen tun!“
    PC: Gut, aber wenn man sich den Text anhört, dann ist es doch eher ein: „Sollten wir nicht alle...?“ „Denk nochmal drüber nach, es ist für dich und mich nur ein weiterer Tag“. Der Gedanke dahinter ist dieser: Wir alle sind... Ich fordere niemanden dazu auf, irgendetwas zu tun. Was das Stück ausdrücken soll, ist: „Sind wir nicht glücklich dran?“ Gut, ich habe sicherlich mehr Glück gehabt als mancher andere, aber wir alle sind im Vergleich zu diesen Menschen so sehr viel besser dran. Ich habe damals nichts Falsches daran gesehen, und ich sehe immer noch nichts Falsches daran. Und ich habe ganz sicher nicht andere Leute aufgefordert, die Hände in die Taschen zu stecken [um Geld herauszuholen]. Ich für meinen Teil habe das allerdings gemacht. Bei jedem Konzert – viele Träger von Obdachlosenunterkünften, die Coalition For The Homeless in den USA beispielsweise, haben mich angesprochen und gefragt, ob sie das Stück für ihre Konferenzen benutzen dürften und ob sie vielleicht zu meinen Konzerten kommen dürften, um Spenden zu sammeln. Wir haben natürlich ja gesagt. Auf den Konzerten habe ich gesagt: „Kauft keine T-Shirts nach dem Konzert. Ich brauche das Geld nicht. Werft das Geld in den Spendeneimer und ich werde verdoppeln, was auch immer ihr gebt.“ Und in den Orten, wo nicht viel zusammenkam, habe ich dafür gesorgt, dass es trotzdem eine schöne Summe war. Ich wusste also, dass ich meinen Teil leiste. Aber der Text bezog sich nur auf „dich und mich“. Ich habe ihn nie so verstanden, jedenfalls niemals beabsichtigt, dass er sagen sollte „Hört mal, ihr solltet was tun“. Mir scheint, viele Leute haben den Songtext nicht sorgfältig genug durchdacht.


    ML: Ein anderes Beispiel dafür, dass manche Dinge in Ihrem Leben durch Zufall passieren oder weil man Ihnen einen Vorschlag gemacht hat, war Ihre Rückkehr zur Schauspielerei. Das kam ja durch Miami Vice. Ihre Musik wurde dort benutzt, man bat Sie, eine Rolle zu übernehmen. Das führte dann wiederum zu Buster. Wiederum war es nichts, was Sie aktiv gesteuert haben, Sie sind nur zur Schauspielerei zurückgekommen, weil...
    PC: ... Und auch Frauds! Das war ein australischer Film, den ich viel besser fand als Buster. Viele Menschen haben eine Schwäche für Buster, und ich habe Spaß an dem Film gehabt, aber in dem anderen war ich besser. Beide kamen durch Miami Vice zustande. Ich wollte eigentlich nur sehr ungern in Miami Vice mitspielen, denn ich hatte ja als Kind schon geschauspielert und ein Großteil davon hatte mir damals keinen besonderen Spaß gemacht. Die Sache mit Oliver fand ich toll. Aber einige von den anderen Sachen waren nicht so schön. Dass ich in den Filmen mitspielte, lag also daran [an Miami Vice] und ich hatte wirklich viel – das war wie ein Schwall frischer Luft. Ich hatte immer nur mit Musik gearbeitet, mit Musik, Musik, Musik. Plötzlich gab es da etwas anderes, von dem ich nicht geglaubt hatte, dass es mir Freude machen würde, aber das mich plötzlich sehr interessierte. Ich habe mir Buster vor Kurzem nochmal angeschaut. Es ist sehr süß, ein bißchen wie eine Sitcom. Ich habe damals einfach die Worte gesagt, die im Skript standen. So etwas wie „Meinst du wirklich, ich sollte so etwas sagen?“ oder „Findest du nicht, es sollte ein wenig dunkler sein?“ habe ich nie gesagt. Das war ja mein erster Versuch, und vieles davon war dann ziemlich ungelenk bei mir.




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    [Ausschnitt aus dem Video zu Groovy Kind Of Love]


    ML: Und Sie haben nie gelernt, Noten zu lesen oder zu schreiben?
    PC: Nein.


    ML: Was machen Sie dann, wenn Sie ein Lied schreiben?
    PC: Wenn es ein Stück für mich ist, dann lerne ich es beispielsweise auswendig. Als ich mit der Arbeit für Disney angefangen habe, als ich Tarzan, den Film, gemacht habt, habe ich alles auf Band aufgenommen. Ich hatte keinen Computer. Es gab natürlich Computer und Komponierprogramme, aber ich hatte sowas nicht. Ich hatte eigentlich lange Jahre keinen Computer. Jedesmal wenn sie etwas ändern wollten, mußte ich das Stück neu aufnehmen. Dann bot man mir an, für Brother Bear Stücke zu schreiben und auch ein bißchen Hintergrundmusik zu produzieren, aber dann hieß es: Mensch, kauf dir endlich einen Computer, denn wenn die ankommen und sagen: „Wir nehmen hier fünf Bilder aus der Szene“ heraus, dann wirst du wahnsinnig, wenn du das nicht auf dem Computer bearbeiten kannst. Also bekam ich einen Crashkurs darin und fing an, Noten auf dem Bildschirm zu verschieben – mit dem Klang eines Orchesters. Das war das erste Mal, dass ich so etwas gemacht hatte. Als ich dann das Musical Tarzan machte, musste ich für ein Orchester schreiben, das war großartig. Das war eine tolle Lernerfahrung – die Herausforderung, sich selbst zu verbessern und mehr über die Sachen zu erfahren, über die du sowieso schon Bescheid wissen solltest, nämlich das Komponieren für verschiedene Zwecke. Als ich mit der Bigband auf Tour ging, war es wirklich schwierig, weil diese zwanzig Musiker Noten lesen können. Ich eben nicht aber [...] Offenbar ließ er die Band das Stück spielen, hörte es sich an, dann spielten sie es von vorn und er spielte einfach mit.


    [Ausschnitt aus Sussudio in der Big Band-Fassung]


    Und letzten Endes war das ein Weg, den ich einfach gehen musste. Ich ließ einen anderen Schlagzeuger das Ganze auf Band aufnehmen, dann hörte ich es mir an und zum Schluss musste ich mir meine eigenen Hieroglyphen einfallen lasen. Wenn eine Linie so verläuft [zeigt mit den Händen], dann ist es ein Push, wenn sie so läuft, dann nach dem Schlag, wenn es „G-dah“ war, dann hieß das „Baaaah“. Die Leute kamen herüber und lachten: Wie machst du das? Aber für mich ergab das einen Sinn. Es war ein gewisses Handicap, keine Noten lesen zu können, aber andererseits wird das durch andere Sinnesorgane kompensiert.


    ML: Sie sind auf einem Ohr taub, nicht wahr?
    PC: Ziemlich taub auf einem Ohr [zeigt auf sein linkes Ohr]. Auf der Bühne macht das nichts, aber Telefonate kann ich so nicht führen.


    ML: Und das ist eine Schädigung durch Rockmusik?
    PC: Nein, das ist einfach Pech, eine Virusinfektion. Ich dachte, das Gehör würde zurückkommen. Passiert ist das übrigens in Los Angeles. Beim Essen spielten Lilly und ich ein kleines Spielchen und plötzlich: Ffffffft! [deutet an, wie sich das Ohr verschließt]. Die Hörfähigkeit kam an dem Abend noch einmal wieder und verschwand dann auf Nimmerwiedersehen. Ich dachte, das würde sich legen. Schließlich ging ich doch zu einem Arzt, und der sagte: „Was Sie haben ist etwas, von dem wir nichts wissen.“ Das Phänomen heißt „plötzliche Taubheit“. Unter dem Oberbegriff Hörprobleme gibt es viele verschiedene Erscheinungen, und das war nun eine, über die nicht so viel bekannt ist. Es ist eine Virusinfektion, die die Zellen im Hörnerv abtötet, und wenn die sich nicht zurückbilden, dann kommt das Gehör nicht zurück. Die betroffene Frequenz wechselt auch ständig; ein Hörgerät bringt da nichts, weil man dann nur denselben Lärm hört, nur lauter. Kein echter Hörverlust, es sind nur einige Frequenzbereiche weg. Und natürlich vermutet man gleich: Klar, ein Schlagzeuger, der 25 oder 30 Jahre lang laute Musik gemacht hat. Liegt es daran? Nein. Es könnte jedem passieren. Als es mir passiert ist, habe ich es relativ gleichmütig getragen. Ich dachte: Okay, das liegt an mir, tritt ein bißchen kürzer, Kumpel [ohrfeigt sich selbst]. Okay, Kumpel, mache ich. Ich mache etwas anderes, nur was? Die eine Tür ist für mich versperrt, wohin nun? Ich sah es recht gelassen, wie ich mein Leben änderte. Das Gehirn passt sich langsam an, man kann zwar immer noch nicht hören, aber die Wahrnehmung ist so, dass man zurechtkommt. Und da habe ich beschlossen: Statt die letzte Tour gemacht zu haben, ohne das zu wissen, wäre es doch viel schöner, loszuziehen und ordentlich Lebewohl zu sagen. Das war dann die Final Farewell-Tour 2004. Die sollte den Leuten mitteilen: Das war's.


    ML: Außer dass es teilweise als Witz angesehen wurde, weil ja so viele Leute ihre „allerletzte Tour“ machen und dann....
    PC: Ja, das war auch als Witz gedacht. Ich bringe gerne solche Spielereien ein; das ist menschlich, aber es war tatsächlich die Final Farewell-Tour. Wir haben in Europa gespielt, dann in Amerika, dann war Orianne mit Matthew schwanger, und erst nach seiner Geburt habe ich noch ein paar Konzerte anderswo gegeben. Auch die Tour mit Genesis war genauso dazu da, Lebewohl zu sagen statt sich einfach aufzulösen und nicht noch ein letztes Mal 'ranzugehen.


    ML: Haben Sie noch Ziele im Leben?
    PC: Ich möchte immer noch das beste Stück schreiben, ein Stück, das besser ist als alle, die ich vorher geschrieben habe. Ich habe da ein paar Dinger in der Schublade, von denen ich glaube, dass sie zum Besten gehören, was ich geschrieben habe. Aber ich habe einen solchen Widerwillen dagegen, wieder anzufangen und ein neues Album zu machen, weil ich weiß, was passieren wird. Ich bin jetzt 57, ich habe zwei kleine Kinder, und ich will das jetzt nicht vertiefen, aber ich habe alles gemacht, was ich wollte – alles, von dem ich weiß, dass ich es machen will. Ja, es gibt Sachen, das Musical zum Beispiel, ich möchte noch ein Musical schreiben, ja, ich hätte nichts dagegen, noch mal in einem Film mitzuspielen, wenn ich es angeboten bekäme. Aber im Moment bin ich eigentlich ganz klein, wissen Sie? Vor kurzem ist mir aufgefallen, dass die Leute es verstehen werden, wenn ich mich abschalte. Es ist nicht so, dass ich es nicht mag. Ich bin sehr stolz auf alles, was ich gemacht habe, aber ich glaube einfach, dass, was ich bin, über alle Maße aufgeblasen worden ist und mir so viele kleine Schilder angehängt werden, die meinen Namen vorwegnehmen. Ihnen hängt das Schild an „Mark Lawson wird dieses und jenes tun“. Bei mir heißt es: „Dreimal verheiratet“, „Popsänger“, „hat sich von seiner Frau per Fax getrennt“. Es gibt so viele davon und – das bin nicht ich. Fangen wir von vorne an.


    ML: Die erste Scheidung hat Ihre Karriere als Sänger und Songschreiber, als Solokünstler, erst auf den Weg gebracht, wegen der Stücke, die daraus entstanden sind. Hat die dritte Scheidung Lieder hervorgebracht?
    PC: Sie hat ein paar hervorgebracht, aber ich weiß: Allein zu erwähnen, dass Phil noch ein Album herausbringt – „oh nein [krümmt sich], ich kann's nicht mehr hören.“ Das versuche ich zu vermeiden. Ich habe immer versucht zu vermeiden, gerade die Stücke zu schreiben, die den Leuten an mir so gefallen: die Balladen. Es gibt Dinge, die interessieren mich, und andere, die mich weniger interessieren. Ich schreibe einfach ein Stück und schaue mal, was dabei herauskommt. Wenn es aber so aussieht, als fiele es in diese Kategorie [Ballade], dann lege ich es zur Seite. Ich glaube, ich habe da ein paar Stücke, die auf ihre Art sehr nackt sind, und sehr treffend, aber ich habe nicht den Eindruck, dass die Welt noch ein Scheidungsalbum von Phil Collins braucht.


    ML: Phil Collins, vielen Dank.
    PC: Ich danke.




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    Das Interview ist hiermit vollständig transkribiert und übersetzt.



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