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Peter Gabriel – Taking The Pulse – Rezension
Der etwas unter dem Radar gebliebene Konzertfilm Taking The Pulse von der 2010er New Blood Tour wurde nun doch noch auf Blu-ray veröffentlicht. Wir schauen hin.
Als im Oktober 2011 der Konzertfilm New Blood: Live In London veröffentlicht wurde, war schon bekannt, dass ein halbes Jahr vor dessen Aufzeichnung die Show in Verona mitgefilmt worden war. Der Auftritt war entsprechend der beiden Hälften vor und nach der Pause in zwei musikalisch und konzeptionell unterschiedliche Filme geteilt worden.
Die wurden jedoch nie auf DVD/Blu-ray veröffentlicht. Stattdessen wurde bekannt gegeben, dass es in London eben zu weiteren Aufnahmen der Tour kommen würde. Gut, die sollten in 3D sein (um das Jahr 2010 herum gerade die Sau, die durch alle Kinos gejagt wurde) und hatten den Vorteil, an zwei Abenden gemacht werden zu können. Aber irgendwie blieb es seltsam, dass der Aufwand eines bereits vorhandenen Mitschnitts nicht kommerziell verwertet wurde. Niemand redete mehr von Verona.
Beide Filme wurden dann lediglich – und auch weitgehend ohne dass Real World da besonders drauf hingewiesen hätte – im Fernsehen auf jeweils unterschiedlichen Kultursendern ausgestrahlt. Im Falle von Taking The Pulse war das AXS.tv in den USA. Und das auch erst 2014 (obwohl beide Filme wohl schon 2012 fertig vorlagen). 2020 dann wurden sie auf dem Real World Vimeo Videokanal verfügbar gemacht. Eine DVD/Blu-ray Veröffentlichung schien jedoch weiterhin nicht vorgesehen zu sein. Erklärungen zu all dem gab es nie – und es verwirrte sehr.
Nun, 15 Jahre später wird eine Veröffentlichung nachgeholt. Der Impuls ging offenbar vom Label Mercury Studios aus, das nun zumindest den zweiten der beiden Filme herausbringt. Er beinhaltet nur Gabriels eigene Kompositionen und kein Stück aus dem Album Scratch My Back, das ja der Auslöser für das ganze Orchester-Unterfangen war.
Äußeres
Für die Titelgrafik hat man sich für ein verschwommenes und verschliertes Foto des Arenageschehens entschieden. Unten ist Publikum zu erkennen, darüber das Orchester ahnbar, der ganze obere Teil zeigt Lichtpunkte der Bühnenbeleuchung zu Linien verzogen. Rechts ein roter Fleck, der bei genauem Hinsehen Gabriels Gesicht ist, groß auf einem der Screens seitlich der Bühne. Das Foto zieht sich weiter über die Hüllenrückseite und ergibt eine Gesamtansicht der Bühne. Das funktioniert gut – auch, weil die Grafik durch den Wisch- und Zoomeffekt große Dynamik hat. Vielleicht wirkt sie aber auch etwas technisch und kühl.
Booklet
Die Blu-ray kommt in einer Standard-Blu-ray Hülle (dünne Variante) und innen ist ein achseitiges Booklet eingelegt. Es enthält umfangreiche Informationen zu den Beteiligten der Shows, sowie das obligatirische Dankeschön. Dazu gibt es ein paar Fotos der Show. Das Booklet hat zudem ein anderes Cover als die Blu-ray-Front, eine atmosphärische Bühnenasicht in dunklem Rot.
Menü
Die Blu-ray startet zunächst mit einer recht penentranten FBI-Warning, ehe das Menü erscheint. Wie zu erwarten war, gibt es die Auswahl für den Ton und man kann die einzelnen Tracks separat aufrufen. Sonst ist da nichts. Das Menü selbst ist nicht mit einem Standbild versehen, sondern über den gesamten Bildschirm läuft eine Animation der Elemente verschiedener Tracks. Musikalisch wird das untermalt von The Nest That Sailed The Sky.
Ton
Anders als bei den meisten Konzertfilmen dieser Tage verzichtet man auf das ganz große Besteck: Es gibt keinen Dolby ATMOS Mix. Statt dessen wird neben Stereo ein dts-HD Master angeboten, was einem klassischen 5.1 Mix entspricht.
Der Livemix ist ansonsten sauber und klar. Viele Details und Einzelinstrumente sind hörbar – was gelegentlich jedoch auch mal etwas unausgewogen wird. Gabriels Stimme ist sehr trocken im Mix, wodurch Details sehr hörbar werden. Angesichts seiner leichten Angeschlagenheit fällt das hin und wieder aber auch ein bisschen ungnädig aus. Zu sehr hört man dann eine leichte Brüchigkeit – vor allem bei hohen, langen Tönen.
Im Surround wird vor allem das Publikum in den Raumklang gesetzt – außerdem ein leichter Nachhall. Die Musik kommt von vorn und auf allzu große Spielereien wird verzichtet.
Bild
Das Bild ist solide – wenngleich man gleich zu Beginn dein Eindruck hat, dass es kein HD ist. Allerdings laufen sehr oft allerhand Effekte mit, sodass es eine Weile dauert, bis man das Bild auch als hochwertig wahrnimmt. Zuweilen ist bei den Schnitten Unschärfe zu sehen – dass quasi „live“ nachgeregelt wird. Ansonsten liefert die Blu-ray ein für den Standard solides Bild.
Extras
Es gibt keine. Angeboten wird nur der Konzertfilm.
Konzert und Setlist
Das Konzert fand in der ehrwürdigen Arena di Verona statt, war also open air (bei dieser Tour eher selten). Für die Filmaufzeichnung wurde es wohl wegen eben dieser schönen Location gewählt und weil Gabriel ja quasi schon sowas wie eine Tradition hatte mit Konzertmitschnitten aus Italien. Über die Veranstaltung an sich haben wir einen eigenen Bericht hier.
Ansonsten gehörte der Abend noch zur ersten Runde der Tour zum Scratch My Back Album. Das bedeutet, dass im Teil vor der Pause eben dieses Album komplett gespielt wurde (hier nicht enthalten). Der Teil nach der Pause dann beinhaltete Gabriels eigene Songs. Im späteren Verlauf der Tour wurde dieses strenge, aber auch starke Konzept aufgegeben und die Setlist durchmischt. Der bereits bekannte Konzertfilm von 2011 aus London gibt das wieder.
Auch noch bemerkenswert ist, dass die im Film enthaltene Setlist geringfügig abweicht vom tatsächlichen Vor-Ort-Geschehen. In diesem Tourabschnitt begann der Teil nach der Pause immer mit San Jacinto. Im Film jedoch (der ja nur diesen zweiten Teil dokumentiert) steht an erster Stelle The Rhythm Of The Heat. Der Grund dürfte die gesprochene Einführung aus dem Off sein (siehe unten), aufgrund derer man wohl die Überzeugung gewann, mit Rhythm zu beginnen, sei konzeptionell schöner. Erst danach folgt dann San Jacinto. Dessen Dramaturgie mit dem Videoscreen als Vorhang zum Neustart des Abends wirkt jetzt allerdings reichlich seines Sinns beraubt.
Auch noch erwähnen kann man, dass auf dem Konzert vor der Pause ungewöhnlicherweise Wallflower gespielt wurde – ein Stück das eher in die zweite Hälfte gehört hätte. Um so erstaunlicher ist, das dieses speziell eingeschobene Stück weder in diesem, noch im anderen Film enthalten ist. Lediglich die Instrumentalversion aus dem Studio ist dem Abspann unterlegt.
Im Übrigen wurde in der zweiten Hälfte des Konzerts (der für diesen Film also) alles gespielt, was auf diesem Tourabschnitt bislang an Stücken gegeben worden war. Für die Filmaufnahmen hatte man also den Komplettbestand angesetzt und der Abend war entsprechend lang. Erst im Verlauf der Tour sollten später noch weitere Stücke in die Setlist aufgenommen werden.
Das Konzert an sich verläuft ansonsten gekonnt. Gabriels Stimme ist ein klein wenig angeschlagen, wirkt gelegentlich etwas dünn, aber keinesfalls kaputt. Auffällig ist dagegen, dass sein Gesicht, vor allem die Augenpartie, stark geschminkt ist, was den Gesamtausdruck deutlich verstärkt. Viel passiert ansonsten nicht auf der Bühne. Gabriel und seine Mitsängerinnen stehen im Wesentlichen am Mikrophon, das Orchester sitzt und spielt. Im Livegeschehen waren deshalb die Clips auf den Screens bedeutend.
Der Film
Die Regie übernahm Gabriels Tochter Anna, Filmemacherin und Fotografin, die hier zum ersten Mal mit einer Aufgabe dieser Größenordnung betraut wurde. Bis dato hatte sie Musikvideos gemacht (auch für ihren Vater), mit ihm eine Tourdokumentation veröffentlicht und an weiteren Projekten gearbeitet. Ihr Ansatz ist dabei durchaus künstlerisch und wie ihr Vater denkt sie eher auch mal nonkonform.
Dass auch diese Arbeit hier nun kein simpler Konzertfilm ist, merkt man gleich zu Beginn, denn zu sehen sind schwingende Glühbirnen, dann bewegt sich in subjektiver Sicht die Kamera durch die unterirdischen Gänge des Amphitheaters. Die Stimme von Gabriel ist zu hören. Er philosophiert, dass jedes Leben mit einem Rhythmus beginnt, dem Herzschlag. Und dass es der Puls ist, der das Blut durch den Körper bewegt. Leben also Rhythmus ist. Ein Rhythmus vom Herzen. Eine Zusammenfassung, weshalb sowohl die Tour als auch der Film selbst heißen, wie sie heißen. (Und wohl die Motivation, das eigentliche Konzert eben mit The Rhythm Of The Heat zu beginnen.)
In den Film jedenfalls werden immer wieder Bilder abseits vom Bühnengeschehen eingeschnitten. In fast jeden Song als symbolische Erweiterung. Mal ist es auf Steine tropfendes Wasser (San Jacinto), mal Schemen von Büschen und Bäumen in der Nacht (Darkness), mal Hände, die durch Gras streifen (Washing Of The Water). Zu Mercy Street werden größere Teile des Musikvideos von Matt Mahurin gezeigt, die aber auch im Bühnengeschehen auf den Screens zu sehen waren.
Es wird in jedem Fall deutlich, dass hier nicht nur das reine Konzertereignis präsentiert werden soll. Eine Haltung, die man von Peter Gabriel bereits kennt. Etwa vom ursprünglichen PoV-Film zur So-Tour oder vom recht eigenwilligen Still Growing Up – Live And Unwrapped. An letzterem war Anna Gabriel ebenfalls beteiligt.
Aber was ist es denn, was sie zeigen will? Im Verlauf bekommt man den Eindruck, dass es ihr im Wesentlichen darum geht, einen ästhetisch und konzeptionell interessanten Film zu schaffen. Weniger darum, ein Liveerlebnis festzuhalten.
Das zeigt sich recht klar in der Bildsprache, die sie wählt. Weniger zeigt sie Eindrücke, die so oder ähnlich der Konzertbesucher gehabt haben muss. Frontalansichten vom Bühnengeschehen sind eher selten. Stattdessen gibt es das Orchester aus Hinterbühnenperspektive, viele Detailaufnahmen der Notenblätter oder der Arbeit an den Instrumenten, Gabriel erscheint häufig nah im Porträt, auch andere der Musiker und Sängerinnen, das Geschehen auf den Videoscreens ist fast nie zu sehen, dafür gibt es immer wieder mal Schwenks über das Publikum, die dann mit wackeliger Handkamera gemacht sind und einfach so über die Ränge streifen. Oft sind sie merklich von ganz anderen Momenten des Konzerts rüberkopiert.
Dazu arbeitet Anna Gabriel immer wieder mit einem Splitscreen, bei dem zwei unterschiedliche Einstellungen nebeneinander stehen. Ein Mittel, das vom Woodstock-Film bis zu Gabriels Growing Up Live immer wieder mal verwendet wird, aber eigentlich noch nie für Konzentration gesorgt hat.


Die Regie will im Ganzen also gerne mit ungewöhnlicher Sicht auf das Geschehen blicken. Interessiert sich für andersartige Perspektiven und der Gestaltung von Eindrücken daraus. Annas Bilder sind aber eher statisch. Sie bleiben im Eindruck akademisch, sind oft unoriginell, gelegentlich sogar regelrecht hilflos, wollen neues erzählen, erzählen aber gar nichts, und sind – das ist am unglücklichsten – ziemlich unemotional. Sie übertragen nicht das Erleben eines Events und reißen nicht mit.
Nicht zuletzt, weil bei musikalischen Höhepunkten oft etwas anderes als der entscheidende Moment illustriert wird (etwa beim langanhaltenden Schrei von Blood Of Eden). Nicht eindeutig wird dabei, ob das dann jeweils Unfall oder Konzept ist.
Technisch muss man außerdem sagen, dass man offenbar mit einer Vielzahl an Kameratypen arbeitete, was deutlich merkbar ist. Vom schweren Profigerät oder einer simplen Überwachungskamera bis zur Digitalknipse scheint alles vertreten zu sein. Die Bildqualität schwankt dementsprechend.
So sind die seltenen und stets starren Bühnentotalen immer leicht überstrahlt, was besonders den Farbeindruck der Clips auf den Bühnenscreens völlig verfälscht. Das Licht stimmt auch sonst oft nicht und ist dann eher zu dunkel. Ganz anders dagegen alles, was direkt auf der Bühne eingefangen wird. Diese Bilder sind technisch hochwertig und klar. Dafür sind die wiederholten Kamerafahrten links am Orchester entlang auf Dauer ein bisschen gleichförmig.
Leider hat man ja auch noch die direkte Vergleichsmöglichkeit, wie ein erfahrener Konzertregisseur das exakt gleiche Bühnengeschehen einfängt. New Blood: Live In London von Blue Leach zeigt es, überschneiden sich doch die Setlisten beider Filme stark. Und es erweist sich, dass Leach deutlich sicherer und sorgfältiger ist in der Perspektivenwahl. Bemerkenswerterweise auch überraschender. Ebenfalls souveräner beherrscht er Dynamik – etwa in den schnellen Schnitten beim Schlussteil von Rhythm Of The Heat. Seine ganze Bildgestaltung ist konzentrierter – und vor allem: Sie ist fokussiert, das Konzerterlebnis festzuhalten.


Fazit
Leider kann man es nicht wirklich eine überzeugende Arbeit nennen, die Anna Gabriel da hingelegt hat. Zu gedanklich, zu sehr interessiert am eigenen Schaffen, als dass man sich wirklich daran erfreuen kann. Und dann bleibt auch technisch einiges auf der Strecke.
Gut, man muss fair sein: Dieser Mitschnitt entstand unter nur-ein-Versuch-Bedingungen. Anders, als es üblicherweise gemacht wird, gab es hier keinen zweiten Abend, den man für alternative Kameraperspektiven nutzen konnte, um dann aus allen Bildern das Überzeugendste zusammenzuschneiden. Was Anna Gabriel am Abend nicht hatte einfangen können, stand nicht zur Verfügung, was irgendwie misslungen war, musste trotzdem genommen werden. Dass sind keine einfachen Voraussetzungen.
Es hilft aber nichts – am Ende interessiert den Zuschauer das Ergebnis, und das bleibt mau. Gut denkbar, hierin zumindest auch einen Grund zu haben, dass diese Aufzeichnung so merkwürdig fallengelassen wurde.
Die Veröffentlichung jetzt scheint auch eher achselzuckend zugelassen, als bewusst gewollt zu sein. Die eher schlichte Aufmachung bishin zu der Abwesenheit von jedwedem Extra sprechen dafür. Die Kapazität einer Blu-ray für gerade mal 97 Minuten Film in zwei Tonformaten zu nutzen, wirkt so schon ein wenig wie Verschwendung.
Möglich (und schön) wäre natürlich gewesen, auch den ersten Film, der bei dieser Aufzeichnung entstanden ist, dabei zu haben. Scratch My Back – Live at Verona Arena ist vom konzeptionellen Charakter her anders (leider auch nicht besser) und trotzdem die geborene Ergänzung. Allem Anschein nach ist es aber mit der Rechtelage der ganzen Coverversionen komplizierter und eine Veröffentlichung deshalb gerade nicht in Sicht.
Nun denn – es ist jetzt eh, wie es ist.
Autor: Thomas Schrage (mit technischen Ergänzungen von Christian Gerhardts)
Fotos: Screenshots des Films / York Tillyer
Taking The Pulse
Erscheinungsdatum 10. Oktober 2025
Tracklist
Intro
The Rhythm of the Heat
San Jacinto
Digging in the Dirt
The Drop
Signal to Noise
Downside Up
Darkness
Mercy Street
Blood of Eden
Washing of the Water
Intruder
Red Rain
Solsbury Hill
In Your Eyes
Don’t Give Up
The Nest That Sailed The Sky
im Abspann: Wallflower Instrumental
Director: Anna Gabriel
Additional Director: Andrew Gaston
Director of Photography: David Miller, Andrew Gaston, Anna Gabriel
Producer: Dawn Christy – Nylon Films
Sound mixing: Ben Findlay
Taking The Pulse ist als Blu-ray bei JPC* und Amazon* erhältlich.
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