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Nick Fletcher – The Mask Of Sanity – Rezension

Nick Fletcher (John Hackett Band) legt im Oktober 2025 mit The Mask Of Sanity bereits sein fünftes Album seit 2021 vor.

Vorbemerkung

Das fleißige Genie des Progressive-Jazz-Fusion-Klassik Rock hat wieder zugeschlagen und ein neues Werk geschaffen. Es ist noch gar nicht so lange her, da beglückte er die Hörerinnen und Hörer mit dem fantastischen Album A Longing For Home. Die Frage stellt sich dem Rezensenten, ob er das hohe Niveau seiner anspruchsvollen, philosophisch-spirituellen Werke halten kann. Schauen wir doch einmal hinter die Maske des Wahnsinns.

Hintergrund / Albumtitel / Cover

Nick Fletcher - The Mask Of Sanity

Mit The Mask Of Sanity befasst sich Nick Fletcher in Form eines Konzeptalbum mit keinem Geringeren als dem Schweizer Psychoanalytiker C. G. Jung1.  Die Songs bilden eine siebenteilige Suite2, so sind thematische, bzw. musikalische Wiederholungen gewollt. Die Songtitel weisen auf Termini der Jungschen Theorien hin. Ebenso die Fotos des Albumcovers. So schwebt u.a. eine junge Frau in einem roten Kleid scheinbar in ihren Traumwelten gefangen unter Wasser dahin. Ein Gedicht von Samantha Turner zum Albumtitel ziert wieder die Linernotes des Booklets.  

Die Mitwirkenden des Albums sind neben Nick, Gitarren, Gitarrensynthesizer3, Bass (Track 4), (wie immer) Co-Produzentin und Mixerin Caroline Bonnett: Keyboards, Jonathan Ihlenfeld Cuniado: Bass, Olga „Dikajee“ Karpova: Vocals (Tracks 2-4).

Neu hinzugekommen sind Roberto Porta, ein fantastischer Drummer und Violinistin Clare Lindley (Tracks 1,3,5).

Songs

As Above, So Below 4:58

Das Album beginnt mit Soundcollagen aus sphärischen Keyboardklängen, die eine herrlich von Clare Lindley gespielte Solo-Violine umgarnen. Eine kammermusikalische Idylle entsteht, die, bevor der Hörer zu träumen beginnt, nach 1,30 Minuten von einem fast brutalen Trommelwirbel zerstört wird. Nicks Gitarre beginnt straight ein lockeres Spiel der Band zu dominieren. Eine herrliche, im Verlauf des Albums wiederkehrend Melodie wird in einem lockeren, leichten Jazzrocksound gespielt. Erklingt bei Minute 3.08 nicht ein Saxophon, das die Gitarre ablöst? Hier experimentiert Nick mit einem Gitarrensynthesizer, der uns zurück zur Melodie führt.  

Simulacrum 6:10

Wie gebannt lauschen wir dem elfenhaften Gesang von Olga Karpova, der aus tönen, summen und tremolieren besteht.  Er wird jazzrockend von Roberto Portas Schlagzeug (das Größen wie Bruford neidisch werden lässt) und Caroline Bonnetts Piano, bis ein fantastisches Solo auf dem Bass von Jonathan Ihlenfeld Cuniado, erklingt, aufgenommen. Wie eine sanfte Brise haucht der Gesang elfenartig die Basslinien davon, Nick Fletcher begeistert mit einem wundervollen Solo auf der Gitarre bis die traumhafte Sequenz des Beginns das Lied sanft ausklingen lässt. Was für ein wunderschönes Stück Fusionmusik!

Shadow Play Walker 6:06

Begegnen wir Nicks Passion für asiatische Kultur und Philosophie? Gitarre und Violine klingen jedenfalls bluesig fernöstlich. Verträumte Pianotupfer bestärken diesen Eindruck. Ein Aufschrei und der Hörer fliegt in die Welt der singenden Bluesgitarre, nur um sich in einem polyrhythmischen Stakkato von rockenden Gitarren, Schlagzeugwirbeln und Orgelklängen nahezu zu verlieren. Immer schneller wird das Schattenspiel, bestimmt durch ein wahnsinniges Schlagzeug, bis sich das Chaos im harmonischen Beginn des Songs wiederfindet.

The Shadow Magician, Parts 1-5 10:33

Welch ein musikalisches Chaos aus Jazz meets Metall zaubert der Magier hier herbei? Immer schneller wird der Zauber, den alle Instrumente entfachen. Doch dann: Stille! Nick spielt nun ein wunderschönes Solo, das an David Gilmour erinnert. Dem Hörer/Der Hörerin kommen die Fotos des Booklets in den Sinn. Da ist sie, die Landschaft der Träume, die uns im Wasser schweben lässt. Elfenhafter Gesang vertieft diesen Eindruck. Doch das Unbewusste ist nicht nur friedlich träumend. Die laute Seite des Chaos erklingt wieder, treibt uns vor sich her, steigert die Jazzmetallmusik bis ins nahezu Unerträgliche. Schließlich fällt das Chaos in sich zusammen und eine jubilierende Pink Floyd-Gitarre entlässt uns friedlich aus dem Albtraum. Das ist das zentrale Stück des Albums. In ihm wird unnachahmlich, so wie es zur Zeit nur ein Nick Fletcher kann, die Welt des Unbewussten kongenial in Klänge umgesetzt. Ein C. G. Jung hätte seine Freude an diesem Werk gehabt.

A Curios Case Of Synchronicity 5:31

Lasst uns etwas Atem holen. Nick entlockt seiner akustischen Gitarre gebrochene, melancholische Töne. Sanfte Keyboardparts unterstützen ihn dabei. Bevor es zu sanft wird, beginnt ein fröhliches, lockeres Musizieren. Schlagzeug und Bass wirbeln den Staub der letzten Gitarrenmelodie davon. Ein lustiger Tanz beginnt. Der Bass blubbert, die Keyboards flöten, die Violine singt. Ein weiteres Meisterstück des Albums, das mit seinen gut fünf Minuten Spielzeit viel zu kurz zu sein scheint. 

The Mask Of Sanity 4:44

Fanfaren ähnliche Klinge brillieren. Sie werden von Pianokaskaden und pumpendem Bass eingefangen. Die leichte, fröhliche Stimmung des vorherigen Songs wird aufgenommen. Es ist eine Freude der Band beim Spiel zuzuhören. Das ist schöner, bei aller philosophischen Tiefe sehr emotionaler Jazzrock, der mit seinem amerikanischen Feeling und des Spiels auf dem Gitarrensynthesizer an Pat Metheny und Lyle Mays erinnert.

Song Of Innosence 5:57

Dahingleitende, fließende Sounds von Piano und Bass empfangen eine schöne Performance auf der Gitarre. Gemeinsam erzeugen sie ein Gefühl von befreiender Erschöpfung, welches man nach einer anstrengenden psychotherapeutischen Sitzung, einer kaleidoskopartigen Fahrt ins eigene Unterbewusstsein, spüren mag. Kinderstimmen sind im Outro zu hören. Führen sie uns in die Kindheit zurück, die der Ausgangspunkt für unsere Reise ins Äußere, wie auch Innere ist?

Zusammenfassung

Nick Fletcher 2025

„How can I know myself if the notion of an independent self is illusory?
If the surface self is informed by the shadow self, what is „I“?
Psychotherapy is a journey of reintegration oft the various elements
of the human psyche.“ 4

Diese Fragen mit dem Lösungsansatz der Psychotherapie als Antwort stellt sich Nick Fletcher. Er versucht sie musikalisch auszudrücken und bildet kongenial instrumentale Klangwelten, die unser Unbewusstes nach außen kehren. Seine Gitarre ist dabei die Stimme, die von Flüstern bis Schreien alle Ausdrucksformen des Menschen beherrscht. Er trifft sich mit einem anderen Anhänger Jungscher Philosophie, mit Peter Gabriel. Der nutzt vor allem seine Stimme, um Unbewusstes erfassbar zu machen und bezieht sich z. B. im Song The Rythm Of The Heat auf C. G. Jung.5

Nick Fletcher ist mit The Mask Of Sanity sein möglicherweise zugänglichstes Rockalbum gelungen. Die Stücke sind leichter, kürzer geworden, ohne jedoch die Spielfreude zu verlieren. Er gewinnt der Jazzrock-Fusion-Musik wieder neue Akzente ab, setzt sie zusammen und kreiert seinen eigenen Stil, den man als wahre Fusion von Jazz, Prog, Metall bezeichnen kann.

Nick ist dabei nicht nur ein fantastischer Virtuose des Gitarrenspiels, der sich nicht hinter Größen wie Alan Holdsworth, Bill Frisell, Pat Metheny, Steve Hackett oder David Gilmour zu verstecken braucht, sondern auch ein klasse Komponist, der durch Musik mit vielen instrumentalen Finessen begeistert. Trotz aller Ausschweifungen trifft er immer wieder den Punkt, schließt immer wieder den Kreis. Er agiert dabei im Sinne der Suite. Musik als verbindendes Element, die das Individuum mit seiner inneren und äußeren Umwelt versöhnt.

Ist die Musik damit sogar eine Form der Psychotherapie? Können wir sie nutzen, um zu uns selbst zu finden und damit nicht nur Frieden mit uns, sondern der ganzen Welt zu erlangen?

Das macht Nick Fletcher so sympathisch. Er ist ein intelligenter, humorvoller, von tiefer Humanität geprägter, niemals bevormundender Philosoph, der auf der Suche nach dem Sinn der menschlichen Existenz ist. Er begreift dabei die Musik als ausdrucksstärkstes Medium, die seine Suche beleuchtet und mögliche Lösungen benennt.

Somit ist The Mask Of Sanity wie jedes seiner Alben ein Gesamtkunstwerk aus Bildern, Poesie und Musik. Er hat ein gutes Gespür, hervorragende internationale Musiker mit an Bord zu holen, für seine Musik zu begeistern und aus ihnen eine Band zu formen, die wie aus einem Guss zusammenspielt.

Es wäre ihm zu wünschen, weit über Insiderkreise hinaus bekannt zu werden. Wie wäre es mit einer Tour durch Europa?

Autor: Thomas Jesse

Anmerkungen

1: zu und von C. G. Jung sind unzählige Werke erschienen. Hier gibt es Empfehlungen.
2: siehe u. a.: https://de.wikipedia.org/wiki/Suite_(Musik)
3: siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Gitarrensynthesizer
4: siehe Linernotes des Booklets
5: Arbeitstitel des Songs war Jung In Africa:

The Mask Of Sanity ist seit 06.10.2025 erhältlich auf der Website des Künstlers (dort auch in digitaler Version) und ab 10.10.2025 bei JustForKicks.