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Anthony Phillips – Radio Clyde 1978 – Rezension

2025 veröffentlichte Esoteric Records mit Radio Clyde 1978 eine Neuauflage des Radiokonzerts von Anthony Phillips.

Seit die Entwicklung der Aufnahmetechnik es ermöglicht, Konzerte mitzuschneiden, üben Live-Alben auf Musikliebhaber eine ungebrochene Faszination aus. Groß ist der Reiz, an der Unmittelbarkeit und der besonderen Energie und Atmosphäre des Konzerts teilzuhaben, oder aber andere Versionen von Stücken, die man bereits vom Künstler kennt, hören zu können.

Wie steht es diesbezüglich nun mit einem Musiker, der wie Anthony Phillips in einer sehr frühen Phase seines Schaffens aufgehört hat, vor Publikum zu spielen, und der fortan die Arbeit im Studio als die für sich adäquate Form des musikalischen Wirkens gewählt hat?

Dass sich die kleine, aber enthusiastische Fangemeinde von Ant Phillips wahrscheinlich kaum etwas mehr wünscht, als ihren Helden einmal im Konzert zu erleben, ist klar. Um diesem Bedürfnis nach dem Live-Erlebnis zu begegnen, haben Anthony und sein Sound-Archivar Jonathan Dann über die Jahre auf drei unterschiedlichen CDs „Konzerte“ zugänglich gemacht, die Anthony live fürs Radio eingespielt hat: The Living Room Concert in 1995, und im Jahr 2003 folgte die Erstausgabe von Radio Clyde bei Blueprint, deren Aufnahmen jedoch sehr viel älter sind. Dazwischen lag noch die Veröffentlichung der Live Radio Sessions mit dem argentinischen Musiker Guillermo Cazenave, die musikalisch in eine mehr „elektrische“ Richtung geht, und die damals für eine spanische Radiostation aufgenommen wurde.

Die Entstehung des Projekts

Im Jahr 1978 startete Anthony Phillips eine Reihe von PR-Aktivitäten. Es ging vor allem um die Bewerbung seines zweiten Solo-Albums Wise After the Event sowie den kurz vor der Veröffentlichung stehenden Private Parts & Pieces mit kammermusikalischen Kleinoden aus der Heimproduktion von Phillips.

Zu den Werbeaktivitäten gehörten Reisen nach Italien und in die Niederlande, und schließlich eine Reihe von Interviews bei verschiedenen Radiostationen im Vereinigten Königreich. Dazu gehörte auch die Ausstrahlung eines einstündigen „Konzertes“ auf dem schottischen Sender Radio Clyde. Entstanden im Juli 1978, sind die Aufnahmen alle ungeschnitten und ohne Overdubs „live“ eingespielt, aber dadurch dass sie nicht gleich live, sondern etwa einen Monat später gesendet wurden, hätte Anthony die Möglichkeit gehabt, bei einem Fehlversuch ein Stück nochmals einzuspielen.

Die Originalbänder sind verschollen, aber im Jahr 2003 taucht im Archiv von Anthony eine Kassetten-Aufnahme des Senders auf, die im Lauf der Jahre etwas gelitten hat. Man verwandte damals einige Mühe darauf, das Material klangtechnisch aufzubereiten, doch die Stücke gegen Ende der Kassette, die anscheinend stärker in Mitleidenschaft gezogen waren, fallen von der Klangqualität etwas ab.

Radio Clyde war einige Jahre vergriffen und ist nun dankenswerterweise von Cherry Red auf dem Label Esoteric Recordings wiederveröffentlicht worden. Es handelt sich um die letzte der über mehrere Jahre laufenden Reihe von Neuauflagen der Alben von Anthony Phillips.

Es wurde ein Remastering durchgeführt, allerdings keine weitergehende Restaurierung des Ausgangsmaterials. Insgesamt ist die Lautstärke subjektiv und objektiv angehoben, die Musik erscheint etwas druckvoller als bei der ersten Ausgabe.

Cover und Verpackung

Anthony Phillips Radio Clyde 1978

Nach längerer Pause war bei Radio Clyde wieder einmal Peter Cross für die Gestaltung des Titelbildes verantwortlich. Es ist nicht ganz so detailverliebt und filigran wie viele seiner vorhergehenden Cover, aber doch originell und mit ein paar hübschen und humorvollen Details gewürzt.

Auf dem Cover vorne ist ein kleines, rotes Transistorradio zu sehen, das mit Radio Clyde 1978 beschriftet ist. Die eingeklappte Antenne ist ein mit den Initialen A.P. versehener Cricket-Schläger, und rechts auf dem Lautsprecher sind in konzentrischen Kreisen die Titel der Stücke aufgelistet. In der Mitte des Lautsprechers ist eine Karikatur von Ant im Profil mit Kopfhörern zu sehen.

Während die Originalausgabe der CD bei Blueprint in einer Jewelbox verpackt war, präsentiert sich die Neuauflage in einer wertig aussehenden, aufklappbaren Digipak-Hülle.

Das Booklet (ursprünglich 4-seitig) umfasst nun 16 Seiten und enthält ein umfangreiches neues Essay von Jonathan Dann zur Geschichte des Albums sowie einigen amüsanten Anekdoten.

Die Musik

Auf dem Album befinden sich in der Ursprungsversion zehn Titel, die Hälfte davon instrumental, auf den anderen fünf Titeln singt Anthony zur Gitarre. Bemerkenswert ist, dass hier anscheinend fast ausschließlich 12saitige Gitarren eingesetzt wurden. Nur Field Of Eternity wurde auf der Konzertgitarre eingespielt, und bei Now What… scheint es eine sechssaitige Steelstring zu sein, auf der die Begleitung erklingt.

Im Vergleich zum Living Room Concert gibt es vom Repertoire her einige Überschneidungen: von den Songs ist das Which Way the Wind Blows, außerdem sind alle Instrumentaltitel bis auf das kurze Postlude auf beiden Platten vertreten. Es gibt aber auch Unterschiede, der Wichtigste vielleicht, dass beim Living Room Concert neben Gitarren und Gesang auch das Klavier eingesetzt wurde.

Zu den Songs: Vorweg sei gesagt, dass mir Anthonys Stimme auf all diesen Stücken ausgesprochen gut gefällt. Anthony hatte gerade die aufwendige Produktion des Albums Wise After the Event hinter sich. Im Booklet der CD-Ausgabe ist zu lesen, dass Anthony in Zusammenarbeit mit dem Produzenten Rupert Hine sehr intensiv an seiner Stimme gearbeitet hat. Dies kommt offensichtlich auch Radio Clyde zugute, zumal hier die Songs nicht in opulente Band-Arrangements eingebettet sind, sondern ganz pur erscheinen, heruntergebrochen auf Stimme und Gitarre. Von Wise… spielt Anthony die Titel Moon Shooter und Now What (Are They Doing To My Little Friends).Silver Song (geschrieben von Mike Rutherford und Anthony als Farewell-Song für den zweiten Genesis-Drummer John Silver), hat mit seinem eingängigem Refrain Hit-Potential, und so fordert Anthony die Hörer in seiner augenzwinkernden Ansage zum Mitsingen auf.

Zwei Stücke erklingen von Anthonys legendärem Solo-Debut The Geese and the Ghost: Which Way the Wind Blows überzeugt vom Spielgefühl und dem homogenen Zusammenklang von Stimme und 12saitiger Gitarre, was umso bemerkenswerter ist, weil die Messlatte des Originals so hoch liegt. Und Master of Time, das damals noch unveröffentlicht war und dessen Demo erst zwölf Jahre später als Bonustrack auf der CD –Version des Geese-Albums erscheinen sollte, erstrahlt hier in vollem Glanz, gesungen mit kraftvoller Stimme, und begleitet mit einer nuancenreichen Begleitung sowie farbigen instrumentalen Vor- und Zwischenspielen.

Kommen wir nun zu den Instrumentals auf Radio Clyde: Hier zeigt Anthony Phillips sich vor allem als Meister in seiner Parade-Disziplin, seinem einzigartigen Spiel auf der 12saitigen Gitarre. Conversation Piece ist eine Solo-Variante einer ursprünglich als Ensemble-Stück gedachten Komposition. Zum Zeitpunkt des Erscheinens der beiden Live-Alben war noch keine Studio-Version des Stückes erhältlich, dies wurde erst bei der letzten Wiederveröffentlichung von Private Parts & Pieces nachgeholt.

Zwei absolute Höhepunkte des Albums stellen für mich die beiden Lang-Stücke Reaper sowie Flamingo dar, in meinen Augen Meisterwerke, die beim Erscheinen von PP&P damals neue Maßstäbe für das Komponieren und Spielen auf der 12saitigen Gitarre setzten. Reaper, gespielt in einer offenen D-Dur-Stimmung, entwickelt sich aus einem markanten rhythmischen Akkord-Riff mit viel Dynamik und harmonischer Finesse über komposítorische Ruhepunkte hin zu einem fulminanten Finale. Und Flamingo (mit 10 Minuten das längste  Stück auf Radio Clyde)  ist in Standard-Stimmung gespielt und in E-Dur geschrieben, begeistert mit großer Virtuosität, Kraft und harmonischem Einfallsreichtum.

Field of Eternity gehört schließlich zu einem der schönsten Stücke von Anthony Phillips für klassische Gitarre: fantasievolle Harmonisierungen, eine synkopierte Melodie auf den Basssaiten, während sich im Diskant eine dritte Stimme entspinnt, das ist Kompositionskunst vom Feinsten. Toll gespielt, aber leider lässt hier durch den Zustand der Kassette die Klangqualität etwas zu wünschen übrig. Das Gleiche gilt für die anschließende  und (in der Ursprungsversion) abschließende kurze Nummer, die 1978 noch den Titel The Last One to Leave hatte und die später in Postlude: End of the Season umbenannt wurde. Mit einer kurzen Ansage bedankt sich Anthony für die „smashing session“ beim Team von Radio Clyde.

Auf der neuen Fassung von Radio Clyde folgen an dieser Stelle die beiden Bonus-Tracks.

Radio Pennine – die Bonus-Tracks

Es gehört zu den lobenswerten Taten von Ants Klang-Archivar Jonathan Dann, dass er bei (fast) allen Wiederveröffentlichungen im umfangreichen Klangarchiv des Meisters noch ungehobene Schätze entdeckt und so jeweils für die Käufer einen Mehrwert schafft gegenüber den vorherigen Ausgaben der Alben.

Im Falle der vorliegenden sind das zwei andere Live-Aufnahmen von Reaper und Which Way the Wind Blows, die im Rahmen der gleichen Promo-Tour für eine andere Radiostation, dem in Bradford, Nordengland beheimateten Sender Radio Pennine, gemacht wurden. Neben den durchaus unterschiedlichen Nuancen in der Interpretation ist hier vor allem interessant, dass die leichten Beeinträchtigungen durch die Gleichlaufschwankungen fehlen. Im Fall dieser beiden Stücke wurde die Einspielung im Rahmen des Interviews übrigens direkt live im Radio übertragen, und das unter erschwerten Bedingungen: Im Aufnahmestudio des Senders gab es nämlich keinen Barhocker oder einen Stuhl ohne Armlehnen, und so spielte Ant die beiden Stücke sitzend auf einem riesigen Stapel leerer Bandkartons!

Fazit

Auch wenn für Menschen, die die Musik von Anthony Phillips bisher noch nicht kennen, vielleicht andere Alben die erste Empfehlung wären, so möchte ich doch allen, die Anthonys Musik mögen, trotz einiger klanglicher Einschränkungen das Hören von Radio Clyde wärmstens ans Herz legen.

Wir erleben hier einen Künstler an einem wichtigen Punkt seiner Karriere: die Aufnahmen erfolgten nach dem Erscheinen seiner beiden ersten, großformatigen Ensemble-Alben, an der Schwelle zu den intimen kammermusikalischen Private Parts & Pieces, die später zu einer bis heute fortlaufenden Reihe wurden.

Vor allem aber vermittelt das Album eine Unmittelbarkeit, wie sie Live-Dokumenten eigen sind, nur eben ohne Publikum.

Die launigen Ansagen von Phillips regen zum Schmunzeln an und sind gleichzeitig so prägnant und kurz, dass man sie auch beim mehrmaligen Hören nicht überspringen möchte.

Die Qualität von Anthonys Gesangs habe ich erwähnt, und das große instrumentale Können ist beeindruckend. Dies alles ist entstanden ohne hochtechnisierte Studio-Technik, hinter der man sich verstecken kann. Nur ein Mann, seine Stimme, und natürlich seine Gitarren, live und direkt!

Autor: Gereon Schoplick, August 2025

Benutzte Quellen:

www.anthonyphillips.co.uk
Booklets von Radio Clyde in den Ausgaben von 2025 (Esoteric Recordings) und 2003 (Blueprint)
Booklet von Wise After the Event, Deluxe-Version Esoteric Recordings, 2016

Tracklist:

Reaper
Moonshooter
Flamingo
Conversation Piece
Silver Song
Master of Time
Which Way The Wind Blows
Now What (Are They Doing To My Little Friends)?
Field of Eternity
Postlude: End of the Season

Bonus tracks (session for Pennine Radio 1978)
Reaper
Which Way The Wind Blows

Bezugsquellen

Radio Clyde 1978 ist erhältlich bei: CherryRed (UK) | Amazon* | JPC*

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