Spekulationen über das Interview in TWR 91

  • littlewood, Herma: Vielleicht ist es mit den alten Genesis-Stücken für Peter, Mike, Phil und Tony tatsächlich ein bisschen so wie mit alten Tagebüchern. Seine eigenen alten Tagebücher rührt man nach Jahrzehnten ja auch nicht mehr an. Die lässt man im Regal stehen. Ist ja irgendwie peinlich mit den alten Gedanken, die man damals so hatte. Will man gar nicht mehr so gerne lesen. Man hat sich ja weiterentwickelt. Aber wegschmeißen tut man die alten Tagebücher natürlich nicht. Schließlich sind sie ja ein Teil von einem selbst, auch wenn man manches daraus gar nicht mehr so gerne wissen will. Und es auch peinlich findet, wie man damals formuliert hat. Und vielleicht würde man es beim heutigen, nochmaligen Lesen auch peinlich finden, wie man sich damals cool fand, obwohl man es auch heutiger Sicht gar nicht war. ABER: Auch wenn man seine alten Tagebücher selber nicht mehr anfasst - andere Leute sollen diese alten Tagebücher gefälligst erst Recht nicht anfassen. In den Händen Dritter haben sie nichts verloren...


    Wäre vielleicht eine Erklärung, weshalb Tony, Pete usw. - obwohl sie ihre alten Sachen doch so lange links liegen gelassen haben - sich jetzt plötzlich so ein bisschen winden.

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  • Ich hatte mir darüber nie Gedanken gemacht, tatsächlich fand ich bis vor kurzem auch: Wenn Steve in Guildford spielt, warum gent Mike dann nicht dorthin, wo er doch quasi um die Ecke wohnt? Aber wie naiv!! Tonys Aussage hat mir die Augen geöffnet.


    Dass ein Rutherford oder ein Banks nicht ein einziges Konzert ihres Ex-Bandkollegen Hackett besucht haben, zeigt vor allem, wie egal ihnen Steve ist. Hinzu kommt bei beiden ein genereller Hang zur Bequemlichkeit, eine gewisse charterhousemäßige Unlockerheit und vor allem bei Tony gekränkte Eitelkeit und ein gehöriger Minderwertigkeitskomplex.


    Da hat ihm das "hässliche Entlein Hackett" doch im Herbst seiner Karriere noch glatt den Rang abgelaufen, indem er mit seinen Live-Shows phänomenale Erfolge feiert und gleichzeitig auch noch als inoffizieller Nachlassverwalter des Genesis-Werkes auftritt. Pfui, wie kann er nur?! Und dann erdreistet der sich auch noch, Tony zu fragen, ob er mal als Gast bei ihm auftreten will? Geht natürlich gar nicht...


    Dabei ist es vor allem diese Banksche Mischung aus sozial-emotionaler Selbstisolierung, die befremdlich ist. Denn eigentlich wäre es eine schöne und auch völlig natürliche Sache, den Gig eines ehemaligen Bandkumpels zu besuchen, mal kurz "Hallo" zu sagen und sich darüber zu freuen, dass dort von ihm maßgeblich mitgestaltete Stücke aufgeführt und vom Publikum gefeiert werden. Es ist ja auch sein Applaus!
    Er müsste dafür nur mal über seinen eigenen Schatten springen, aber der scheint immer noch zu groß zu sein...

    But we never leave the past behind, we just accumulate...

    "Von jedem Tag will ich was haben

    Was ich nicht vergesse

    Ein Lachen, ein Sieg, eine Träne

    Ein Schlag in die Fresse"

  • Dass ein Rutherford oder ein Banks nicht ein einziges Konzert ihres Ex-Bandkollegen Hackett besucht haben, zeigt vor allem, wie egal ihnen Steve ist.


    Da hat ihm das "hässliche Entlein Hackett" ...


    Ja, das kommt zu den verwickelten Gründen, wie auch immer sie tatsächlich sein mögen, natürlich noch erschwerend hinzu: Dass es ausgerechnet STEVE ist, der die alten Stücke auf die Bühne bringt. Steve, den sie - auch wenn sie es offen nie zugeben würden und wenn sie es vielleicht sogar noch nicht einmal vor sich selber ehrlich eingestehen - als Genesis-Mitglied nicht hundertprozentig für voll genommen haben. Ausgerechnet DER ist nun der Fackelträger der Musik, die sie früher zusammen gemacht haben. Das ist nochmal extrabefremdlich, das gibt noch einmal einen Extrastich.


    Ich hatte das bis zur Fernseh-Doku und bis ich Synclaviers Chapter-Buch in den Händen hielt, noch gar nicht kapiert, aber jetzt reime ich mir eins zu eins zusammen und bin mir ziemlich sicher: Sie haben Steve damals nicht als ebenbürtig betrachtet. Sie haben sein Gitarrenspiel gerne genommen, das war willkommen, aber Steves sonstige Ideen und seine Persönlichkeit - ach, geh! Das fanden sie irgendwie strange und lästig.


    Komisch und vermutlich kein Zufall: Sowohl in der jüngsten TV-Doku als auch im Chapter-Buch erhält Steve zum einen wenig Raum. Zum anderen wird es in beiden Veröffentlichungen so dargestellt, als sei PHIL es gewesen, der Ant ersetzt habe! Ein Drummer ersetzt einen Gitarristen... Tatsächlich wurde es wohl so gesehen, dass mit Ant eine ganz entscheidende Persönlichkeit gegangen ist - und dass diese entscheidende Persönlichkeit zum Glück mit einer anderen entscheidenden Persönlichkeit ersetzt worden ist, und zwar mit einer ganz anderen, die der ernsten Band guttat. Der ernste und vielleicht verschrobene Steve, der Schulabbrecher aus der introvertierten Glasmenagerie seines Jugendschlafzimmers in der elterlichen Wohnung, naja. Der konnte Glück haben, dass die Band ihn gerettet hat. Er hatte ja WIRKLICH Glück wahrscheinlich. Aber er hat es damit bezahlt, dass sich die verschworenen Eliteschüler etwas eingeschworener, besser und abgehobener fühlten, und Steve konnte das nicht mit Lockerheit und spaßigem Humor wettmachen wie Phil.


    Und ja: Steve sagt selbst, er hatte keine Erfahrung im Musik-Schreiben wie die anderen. Und er hat hier tatsãchlich nicht so viel gemacht. Aber wenn er was gemacht hat, dann fiel es bei den anderen eben auch mal schnell durch wie "After the Ordeal" (warum eigentlich, ist doch ne wunderschöne Melodie?) oder "Spot the Pigeon (das hieß doch so?), das nicht aufs Album fand.


    So, und jetzt ist ausgerechnet der, den sie uneingestanden nicht als gleichwertig betrachtet haben, derjenige, der beweist: Von allen Bandmitgliedern ist ER es, der die damalige Musik am meisten ernst genommen hat, dauerhaft ernst genommen. Das verblüfft, das befremdet, das ist seltsam, das ist doof. Das ist irgndwie nicht ganz richtig, das ist beknackt. Und jetzt wird er auch noch so umjubelt. Und dabei hat er doch meist nur das bisschen Gitarre beigesteuert, damals. Da hat er die heutige Welttournee doch gar nicht verdient. Ach, aua, da bleib ich mal weg.


    Ich bin wie Mutzelkœnig ziemlich sicher: Auch das spielt mit rein.


    PS: Wieso muss Tony im Interview eigentlich betonen: "Ja, sicher, Steve war ein Teil der Band wie wir alle..."? Ich meine: Eigentlich sollte das eh klar sein. Für Tony ist es das aber heimlich nicht, darum muss er sich das nochmal laut vorsagen.


    PPS: Ich glaube inzwischen, es ist kein unglückliches Missgeschick, dass Steve in der TV-Doku nur so nebenbei erwähnt ist - das "Nebenbeie" entspricht der Sichtweise der Ex-Kollegen. Das ist damit auch das, was bei den Fernsehleuten ankam. Und für die Band-Kollegen bestand überhaupt keine Notwendigkeit, die Doku noch irgendwie zu redigieren. (Und dass das Feiern ihrer alten Tagebücher mal eben schnell verschwiegen wird, war und ist ganz in ihrem Sinne...)


    So, starker Tobak - und alles natürlich reine Spekulation. Spekulation mit viel Bauchgefühl und ein paar wenigen Indizien. Aber meine Überzeugung.

  • Zitat

    "Spot the Pigeon (das hieß doch so?), das nicht aufs Album fand.


    Die EP hieß "Spot the pigeons". Die Stücke darauf "Match of the day" (tatsächlich kein Stück, dass ich vermissen würde), "Pigeons" (ein Stück, dass ich vermissen würde) und "Inside and out" (siehe Match of the day).


    Ansonsten viel nette Theoriefindung, mehr aber auch nicht. Und im Ernst: Warum ist das wichtig?

    Niveau sieht nur von unten aus wie Arroganz.

  • Ansonsten viel nette Theoriefindung, mehr aber auch nicht. Und im Ernst: Warum ist das wichtig?


    Das ist natürlich für uns überhaupt nicht wichtig - sondern allenfalls interessant. Für mich sind die Überlegungen auf die aufgeworfenen Fragen von Interesse, weil sie sich auf etwas beziehen, das denjenigen Menschen irgendwie wichtig ist, deren Musik mir wichtig ist.


    Klar: Es hätte etwas, die Musik wieder unschuldig und ohne allzu viel Hintergrundwissen genießen zu können. Aber dazu ist es nun zu spät...

  • ...Ansonsten viel nette Theoriefindung, mehr aber auch nicht. Und im Ernst: Warum ist das wichtig?


    Aber genau das macht doch das Forum aus. Jeder kann hier seine Gedanken zu den unterschiedlichsten Themen kundtun. Andere lesen es, gehen mit oder diskutieren kontrovers.


    Nach wichtig oder nicht würde ich da nicht fragen. Wichtig sind tatsächlich andere Themen auf dieser Welt, z. B. Krieg und Frieden, Flüchtlingspolitik, Naturzerstörung etc.


    Hier kann man sich doch aber zu jedem Thema gleichermaßen Gedanken machen. Ansonsten bräuchte man das Forum nicht.

  • Na, ich glaube, hier tut ein wenig Klarstellung Not. ;)


    Es lag keineswegs in meiner Absicht das Weltgeschehen hier mit reinzuziehen, das "Ist das Wichtig" bezog sich selbstredend auf den Bandkontext. Ich finde es halt ein wenig ... sonderbar, im Seelenleben anderer Leute herumzulesen wie in Tiereingeweiden und dabei Hobbypsychologe zu spielen. ;)


    Aber vielleicht ist es auch nur das Alter und die Tatsache, das Genesis für mich als Band irgendwie nicht mehr den gleichen Reiz ausmacht, wie noch vor zehn oder fünfzehn Jahren.

    Niveau sieht nur von unten aus wie Arroganz.

  • Vielleicht ist es mit den alten Genesis-Stücken für Peter, Mike, Phil und Tony tatsächlich ein bisschen so wie mit alten Tagebüchern. Seine eigenen alten Tagebücher rührt man nach Jahrzehnten ja auch nicht mehr an. [...] Auch wenn man seine alten Tagebücher selber nicht mehr anfasst - andere Leute sollen diese alten Tagebücher gefälligst erst Recht nicht anfassen. In den Händen Dritter haben sie nichts verloren...


    Interessanter Zug. Gleichwohl hinkt der Vergleich für mich ein wenig durch den Umstand, daß Tagebücher von den Autoren in aller Regel nicht für die Veröffentlichung gedacht sind, während man die Songs ja ganz bewußt dem Publikum bzw. der Musikwelt zur weiteren Verwendung überläßt. Das schützt natürlich nicht vor späteren Befindlichkeiten.

    Dass es ausgerechnet STEVE ist, der die alten Stücke auf die Bühne bringt. Steve, den sie - auch wenn sie es offen nie zugeben würden und wenn sie es vielleicht sogar noch nicht einmal vor sich selber ehrlich eingestehen - als Genesis-Mitglied nicht hundertprozentig für voll genommen haben. [...]
    Der ernste und vielleicht verschrobene Steve, der Schulabbrecher aus der introvertierten Glasmenagerie seines Jugendschlafzimmers in der elterlichen Wohnung, naja. Der konnte Glück haben, dass die Band ihn gerettet hat. Er hatte ja WIRKLICH Glück wahrscheinlich. Aber er hat es damit bezahlt, dass sich die verschworenen Eliteschüler etwas eingeschworener, besser und abgehobener fühlten, und Steve konnte das nicht mit Lockerheit und spaßigem Humor wettmachen wie Phil. [...]
    Ich glaube inzwischen, es ist kein unglückliches Missgeschick, dass Steve in der TV-Doku nur so nebenbei erwähnt ist - das "Nebenbeie" entspricht der Sichtweise der Ex-Kollegen. Das ist damit auch das, was bei den Fernsehleuten ankam. Und für die Band-Kollegen bestand überhaupt keine Notwendigkeit, die Doku noch irgendwie zu redigieren. (Und dass das Feiern ihrer alten Tagebücher mal eben schnell verschwiegen wird, war und ist ganz in ihrem Sinne...)


    Hm…etwas widerwillig folge ich Deinen Ausführungen. Zwar passen die Puzzleteile alle irgendwie zusammen, aber insgeheim hoffe ich, daß die Herren – solltest Du mit der Grundthese richtig liegen – mit dem Abstand von vier Jahrzehnten doch etwas mehr an Reife zugelegt haben. Obwohl – hat nicht Collins kürzlich bemerkt, er habe beim Ansehen von "Spinal Tap" immer gedacht 'hey, ich war in so einer Band…'? Ach ja, vorbei die glücklichen Tage, als man in jugendlicher Unschuld das Genesis-Universum zu entdecken begann und die alle für prima Kumpels hielt.


    Ansonsten viel nette Theoriefindung, mehr aber auch nicht. Und im Ernst: Warum ist das wichtig?


    Naja, wichtig, was ist schon wichtig? Mich persönlich bereichert es mehr, ein paar reflektierende Gedanken über die sozialen Zusammenhänge innerhalb der Band zu teilen als dem Profilierungswahn einzelner Zeitgenossen beiwohnen zu müssen, aber das ist natürlich auch wie immer alles Geschmackssache.

    P.S.
    Die EP heißt "Spot The Pigeon". Die Viecher bevölkern zwar den Trafalgar Square in Legionen, im Titel wird aber nur eine gespottet, stellvertretend für die Gattung, wie ich annehme.


  • ...
    P.S.
    Die EP heißt "Spot The Pigeon". Die Viecher bevölkern zwar den Trafalgar Square in Legionen, im Titel wird aber nur eine gespottet, stellvertretend für die Gattung, wie ich annehme.


    Nicht zu verwechseln mit "Spot The Looney". Aber das gehört in einen anderen Thread. ;)