TotW: [22.05.-28.05.2017]: GENESIS - Me & Virgil

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    No Son Of Mine befasst sich mit der Reaktion eines Kindes auf die Zerrüttung seiner Familie: mit seiner Flucht im Gefühl, dass es überall sonst erträglicher ist.
    Eine Zerrüttung der Familie - mindestens eine gewaltige Erschütterung der Familie, die die Mutter völlig aus der Bahn wirft, ist auch der Hintergrund bei Me And Virgil. Aber die Kinder reagieren anders. Anders als die Mutter und anders als in No Son Of Mine.


    Das Lied deckt einen längeren Zeitraum von mehreren Jahrzehnten ab, die wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des 19. bis allerspätestens zum Anfang des 20. Jahrhunderts einzuordnen sind. Darauf deuten das Holzhacken und die Verwendung von Pferden als Transportmittel hin. Geographisch steht das Haus der Familie wohl in einer ländlichen Region Nordamerikas: Zäune müssen in Städten selten regelmäßig repariert werden, und wenn in der letzten Strophe hervorgehoben wird, dass die beiden in die Großstadt kommen, muss das wohl eine Veränderung sein.


    Was aber in der Familie vorgefallen ist, erfahren wir nicht: „Mutter hat nie gesagt, was passiert ist.“ Wir müssen oder dürfen es uns ausmalen. Offensichtlich ist es etwas, dass die Mutter zutiefst traurig macht, auch wenn sie es vor ihren Kindern zu verbergen versucht. Sie weint nur, wenn die Jungs Holz hacken oder im Schlaf – wenn es hoffentlich niemand mitbekommt.


    Wie gehen die Kinder damit um? Sie verrichten weiter die Arbeiten, die jeden Tag anstehen: Holz hacken, abspülen, Zäune reparieren, was Kinder im vorvergangenen Jahrhundert halt ganz normal so machen mussten. Aber sie merken und wissen, dass es ihrer Mutter schlecht geht. Das Weinen der Mutter ist eine mächtige Erinnerung: „Ich erinnere mich nur zu gut daran.“, heißt es am Ende der ersten Strophe. Die Kinder – neben dem Sprecher sein Bruder Virgil und eine namenlose Schwester – geben einander Halt, arbeiten gemeinsam, was sich auch im häufigen „we“ ausdrückt. Wer aber in der ersten Strophe höchst auffällig fehlt, ist der Vater. Er tritt nur durch seine Abwesenheit in Erscheinung: Die Kinder wissen, dass sie die ganzen Arbeiten machen müssen – was tut der Vater währenddessen? Bezeichnend auch, dass im Text „helping her“ steht, nicht „helping them“.


    Auch in der zweiten Strophe erscheint der Vater zunächst nicht: Die Familie arrangiert sich mit der immer noch nicht näher beschriebenen, aber offenkundig für alle schwierigen Situation. Und die Familie bedeutet: Die Mutter, die drei Kinder – und der Vater. Er muss noch da sein, denn das erste, was wir überhaupt direkt von ihm erfahren ist, dass er dann auf einmal verschwindet und seine Familie sitzen lässt. Typisch kindliche Sichtweise kommt zum Ausdruck im Unverständnis: „Aber Mama war doch hübsch?“ Die Mutter leidet offenkundig entsetzlich unter diesem erneuten Schlag – statt des einfachen „to cry“ findet sich hier „to weep“, das wesentlich tieferen Schmerz ausdrückt.
    Damit verändert sich auch das Verhältnis der Kinder zu ihrem Vater. Der Erzähler wendet in dem kurzen Zwischenteil, der auch musikalisch abgesetzt ist, erstmals seinen Fokus von den Kindern und der Mutter und spricht direkt den Vater an. Vorwürfe und Hass kommen hier zum Vorschein – und zwar nicht „in eigener Sache“, sondern weil er die Mutter im Stich gelassen hat. Die Kinder haben, wie es scheint, keine Beziehung zum Vater. Auch hier läuft ihre Beziehung zu ihm den Umweg über die Mutter.


    Im Laufe der Jahre werden aus den Kindern Leute – die Schwester heiratet und zieht weg, der Erzähler bleibt bei seiner Mutter - wo der Bruder bleibt, bleibt unklar. Die Lebensumstände bleiben offenbar immer noch prekär. Die Mutter leidet immer noch darunter, dass ihr Mann weggelaufen ist, was das Szenario häuslicher Gewalt unwahrscheinlicher wirken lässt (aber nicht völlig ausschließt). Am Ende stirbt sie in einem bitterkalten Winter – und mahnt ihren Sohn zu Härte und Selbstbeherrschung.
    Nach der Trauerfeier packen der Erzähler und Virgil (vermutlich der zweite Bruder), den Hausstand zusammen und verlassen die Gegend, um alles hinter sich zu lassen. Die Entscheidung führt sie in noch größere Not: Sie irren durch eine Wüstenlandschaft und leiden Hunger, leben lange Wochen allein (Am Rande bemerkt, klingt hier die Fastenzeit Jesu in der Wüste an).


    Am Ende, berichtet der Erzähler sehr summarisch, gelangen sie in die Großstadt, lassen alles hinter sich und hauen richtig auf den Putz, er lernt ein Mädchen kennen, gründet eine Familie. Und doch verlässt ihn seine Geschichte nicht. Noch immer hört er seine Mutter – aber nicht mehr so sehr ihr Weinen, als ihre lobenden letzten Worte „Du bist jetzt schon groß.“


    Einige Themen aus dem Lied tauchen auch in anderen Stücken auf. Das harte Leben auf dem Land in den USA des 19. Jahrhunderts wird auch in The Roof Is Leaking (und indirekt in Driving The Last Spike) aufgegriffen, und einen Blick auf zerrüttete Familien aus der Sicht des Kindes werfen auch No Son Of Mine und Vancouver.


    Me And Virgil hat einen leicht stolpernden Rhythmus, der nur an ein paar Passagen glatter und vorwärts treibender wird. In etwas über sechs Minuten erzählt er eine ganze Lebensgeschichte, oder wenigstens die Lebensgeschichte des Erzählers in Bezug auf seine Mutter. Das kann kein großer Pop-Kracher werden, und es ist aber eben auch thematisch nicht verschroben genug, um Prog zu sein – abgesehen davon, dass der Song aus den Abacab-Sessions stammt, die sich bewusst von Prog-Kategorien lösen wollten. Mich erinnert das Stück von der Reife der Musik her an Inside And Out. Ganz sicher ein Stück, bei dem Genesis nicht voll durchzieht. Bestimmt auch ein Stück, das sie alle irgendwie gut fanden (sonst hätten sie es nicht veröffentlicht). Und meinem Eindruck nach aber auch ein Stück, dem der letzte Schliff fehlt – bei dem der Band auch die zündende Idee fehlte, wie sie es richtig veredeln könnten.


    Weil es ab And Then There Were Three nicht mehr viele Stücke gibt, deren Text mich wirklich reizt, und Me And Virgil aber eines von diesen ist, holt sich das Stück den Großteil der Punkte über den Text und weniger über die Musik. Sagen wir: 7 Punkte.

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    martinus: Schöne Interpretation! Man kann es weiter treiben und den Namen Virgil dem römischen Dichter Vergil zuordnen. Da eröffnen sich doch gleich noch mehr Möglichkeiten....der Interpretation: https://de.wikipedia.org/wiki/Vergil
    Hätte nicht gedacht, dass sich so viel Stoff in dem mittelmäßigen Liedchen befindet. Ist ja fast gabrielesk! ;)


    Natürlich ist Virgil eine Schreibweise von Vergil, aber so richtig gute Anknüpfungspunkte an dessen Werk sehe ich in Me And Virgil noch nicht. Aber leg mal los und überrasch mich :) !

  • Natürlich ist Virgil eine Schreibweise von Vergil, aber so richtig gute Anknüpfungspunkte an dessen Werk sehe ich in Me And Virgil noch nicht. Aber leg mal los und überrasch mich :) !


    Puuuh, jetzt habe ich mich aber in die Nesseln gesetzt! Mein Lateinunterricht liegt bald 40 Jahre zurück. Nun, vielleicht ist da ein Anknüpfungspunkt: Vergil war einer der Inhalte im besagten Schulunterricht. Zu den biographischen Daten nur so viel: Er hatte wohl einen Halbbruder aus der 2. Ehe seiner Mutter. Sein Vater erblindete und starb ebenso wie die Brüder aus dieser 1. Ehe der Mutter. Nicht viel vergleichender (und dann noch unsicherer) Stoff für unsere Songlyrics hier....Parallelen sehe ich in der Schilderung des Landlebens, dessen Anhänger Vergil unzweifelhaft war. Entnehmen kann man es seinen "Bucolica" (Hirtengedichten), die ihre Krönung in der Schilderung der Erwartung eines Heilsbringers erfahren. Der Jahrhunderte andauernde Mythos von Arkadien beruht auch auf ihnen. Aber, das geht doch mehr in Richtung "Supper´s Ready"....Auch erwähnenswert sind die "Georgica" - Lehrgedichte über den Landbau. Wird in den Gedichtzyklen das Holzhacken erwähnt? Mhm...Jedenfalls haben sie Haydn zu seinem Oratorium "Die Jahreszeiten" animiert und großen Einfluss auf Philosophie und Kunst gehabt. Die berühmteste Arbeit Vergils ist sicherlich die leider unvollendet gebliebene "Aeneis". Eine lateinische - römische Nationaldichtung angelehnt an Homer, für die Vergil zu einer Vorortstudie nach Griechenland reiste und dort verstarb (er lebte von 70 - 19. v. Chr.). Nun, eine Geschichte innerhalb dieses Reiseabenteuer - Werkes ist "Aeneas und Dido" - ein Drama um Liebe und Pflicht, in dem sich der Held für letzteres entscheidet. Dido wird von ihm verlassen, womit er als moralischer Sieger gilt. Ein Verweis auf das Elend der Mutter unseres TOTW - Erzählers? An eine abenteuerliche Irrfahrt erinnert natürlich die Reise des Erzählers unseres TOTW mit seinem Bruder Virgil in die Stadt (7. -10. Strophe), wo zumindest ersterer die Vergangenheit hinter sich lassend erwachsen wird, eine Familie gründet und ein Heim baut. Wow, ein Happy End! Aber wo bleibt Virgil? Ist er auch ein "big boy" geworden?
    Zusammenfassend sehe ich Parallelen mit der Erzählform der "Anaeis" in der Struktur und teilweise textlichem Inhalt, der Landliebe Vergils (1.- 6. Strophe) und dem möglichen Leid seiner Mutter.
    Da dies alles ziemlich dünn ist, könnte es auch sein, dass sich Phil bei dem Namen Virgil nur an seinen langweiligen Lateinunterricht erinnert hat (s.o.)...:D


    P.S.: Quellen: Mein Gedächtnis mit Unterstützung von Wikipedia.

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    • Offizieller Beitrag

    Ich hatte das Gefühl, dass der Name "Virgil" von Virgil Tibbs entlehnt ist, dem schwarzen Polizist aus dem Film In Der Hitze Der Nacht. Und in diesem Zusammenhang und der Assoziation, dass Virgil (wie in dem Film) schwarz ist, habe ich auch in Betracht gezogen, dass Virgil gar nicht der Name des Bruders, sondern der eines Bediensteten (nach 1865) oder des "Familiensklaven" (vor 1861) ist.
    Damit wären dann verschiedene "Nicht-Parallelen" begradigt: Der Bruder bliebe wie die Schwester namenlos. Es erklärt auch, warum Virgil in der Stadt plötzlich weg ist. Was Vergils Leben angeht, bin ich lieber sehr zurückhaltend - vieles wird aus seinen Werken extrapoliert, und Suetons Lebensbeschreibung von Vergil ist mindestens 60 Jahre nach seinem Tod entstanden.
    Vergils Eklogen (Bucolica) zeigen natürlich in engen Grenzen auch die Härten des Landlebens, aber im Wesentlichen verklären sie das Leben der Hirten und greifen darin die aus älterer griechischer Zeit stammende Darstellung Arkadiens als des ländlichen Paradieses aus.
    Dido und Aeneas ... das wäre sehr spannend zu vergleichen mit Me And Virgil. Insbesondere weil Aeneas im Personeninventar von Me And Virgil der Vater wäre, der die Mutter / Dido sitzen lässt. (Die Parallele: Beide Frauen gehen daran zugrunde). Aber reizvoll wäre es schon...

  • "Virgil Kane is the name...", spielt das nicht ungefähr zur selben Zeit in Nordamerika?

    I'll never find a better time to be alive than now.

    Peter Hammill (on "X my Heart")

  • Immer diese Über-Interpretationen...:);), damit, also ohne Über, hat man mich im Deutschunterricht schon in der Schule genervt. Wer weiss schon, ob sie so ¨schwerwiegende¨ Gedanken hatten. Vielleicht hätte das auch ¨Me und Paul, und Jack und Tom etc¨ heissen können.
    Der Song schleppt sich etwas dahin, etwas ermüdend, und über 6 Minuten hätte er auch nicht sein brauchen. 7 Punkte.

    Das Leben ist eine Illusion, hervorgerufen durch Alkoholmangel

    Charles Bukowski

  • Immer diese Über-Interpretationen...:);), damit, also ohne Über, hat man mich im Deutschunterricht schon in der Schule genervt. Wer weiss schon, ob sie so ¨schwerwiegende¨ Gedanken hatten.


    Na ja, aber wenn die Interpretationen stimmen, ist es völlig egal, was "sie" dachten.

    • Offizieller Beitrag

    (off-topic mal weggelassen)


    Der Song schleppt sich etwas dahin, etwas ermüdend, und über 6 Minuten hätte er auch nicht sein brauchen. 7 Punkte.


    Schön, dass du im zweiten Absatz etwas zum Song der Woche sagst. Obendrein etwas, dem ich mich auch anschließen kann. :topp: Liegt das an dem Stop-and-go-Halbreggae-Rhythmus?

  • Schön, dass du im zweiten Absatz etwas zum Song der Woche sagst. Obendrein etwas, dem ich mich auch anschließen kann. :topp: Liegt das an dem Stop-and-go-Halbreggae-Rhythmus?


    Yep, das stört mich ein wenig, so wie der Rasenmäher, der nicht rund läuft.

    Das Leben ist eine Illusion, hervorgerufen durch Alkoholmangel

    Charles Bukowski