No Son Of Mine befasst sich mit der Reaktion eines Kindes auf die Zerrüttung seiner Familie: mit seiner Flucht im Gefühl, dass es überall sonst erträglicher ist.
Eine Zerrüttung der Familie - mindestens eine gewaltige Erschütterung der Familie, die die Mutter völlig aus der Bahn wirft, ist auch der Hintergrund bei Me And Virgil. Aber die Kinder reagieren anders. Anders als die Mutter und anders als in No Son Of Mine.
Das Lied deckt einen längeren Zeitraum von mehreren Jahrzehnten ab, die wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des 19. bis allerspätestens zum Anfang des 20. Jahrhunderts einzuordnen sind. Darauf deuten das Holzhacken und die Verwendung von Pferden als Transportmittel hin. Geographisch steht das Haus der Familie wohl in einer ländlichen Region Nordamerikas: Zäune müssen in Städten selten regelmäßig repariert werden, und wenn in der letzten Strophe hervorgehoben wird, dass die beiden in die Großstadt kommen, muss das wohl eine Veränderung sein.
Was aber in der Familie vorgefallen ist, erfahren wir nicht: „Mutter hat nie gesagt, was passiert ist.“ Wir müssen oder dürfen es uns ausmalen. Offensichtlich ist es etwas, dass die Mutter zutiefst traurig macht, auch wenn sie es vor ihren Kindern zu verbergen versucht. Sie weint nur, wenn die Jungs Holz hacken oder im Schlaf – wenn es hoffentlich niemand mitbekommt.
Wie gehen die Kinder damit um? Sie verrichten weiter die Arbeiten, die jeden Tag anstehen: Holz hacken, abspülen, Zäune reparieren, was Kinder im vorvergangenen Jahrhundert halt ganz normal so machen mussten. Aber sie merken und wissen, dass es ihrer Mutter schlecht geht. Das Weinen der Mutter ist eine mächtige Erinnerung: „Ich erinnere mich nur zu gut daran.“, heißt es am Ende der ersten Strophe. Die Kinder – neben dem Sprecher sein Bruder Virgil und eine namenlose Schwester – geben einander Halt, arbeiten gemeinsam, was sich auch im häufigen „we“ ausdrückt. Wer aber in der ersten Strophe höchst auffällig fehlt, ist der Vater. Er tritt nur durch seine Abwesenheit in Erscheinung: Die Kinder wissen, dass sie die ganzen Arbeiten machen müssen – was tut der Vater währenddessen? Bezeichnend auch, dass im Text „helping her“ steht, nicht „helping them“.
Auch in der zweiten Strophe erscheint der Vater zunächst nicht: Die Familie arrangiert sich mit der immer noch nicht näher beschriebenen, aber offenkundig für alle schwierigen Situation. Und die Familie bedeutet: Die Mutter, die drei Kinder – und der Vater. Er muss noch da sein, denn das erste, was wir überhaupt direkt von ihm erfahren ist, dass er dann auf einmal verschwindet und seine Familie sitzen lässt. Typisch kindliche Sichtweise kommt zum Ausdruck im Unverständnis: „Aber Mama war doch hübsch?“ Die Mutter leidet offenkundig entsetzlich unter diesem erneuten Schlag – statt des einfachen „to cry“ findet sich hier „to weep“, das wesentlich tieferen Schmerz ausdrückt.
Damit verändert sich auch das Verhältnis der Kinder zu ihrem Vater. Der Erzähler wendet in dem kurzen Zwischenteil, der auch musikalisch abgesetzt ist, erstmals seinen Fokus von den Kindern und der Mutter und spricht direkt den Vater an. Vorwürfe und Hass kommen hier zum Vorschein – und zwar nicht „in eigener Sache“, sondern weil er die Mutter im Stich gelassen hat. Die Kinder haben, wie es scheint, keine Beziehung zum Vater. Auch hier läuft ihre Beziehung zu ihm den Umweg über die Mutter.
Im Laufe der Jahre werden aus den Kindern Leute – die Schwester heiratet und zieht weg, der Erzähler bleibt bei seiner Mutter - wo der Bruder bleibt, bleibt unklar. Die Lebensumstände bleiben offenbar immer noch prekär. Die Mutter leidet immer noch darunter, dass ihr Mann weggelaufen ist, was das Szenario häuslicher Gewalt unwahrscheinlicher wirken lässt (aber nicht völlig ausschließt). Am Ende stirbt sie in einem bitterkalten Winter – und mahnt ihren Sohn zu Härte und Selbstbeherrschung.
Nach der Trauerfeier packen der Erzähler und Virgil (vermutlich der zweite Bruder), den Hausstand zusammen und verlassen die Gegend, um alles hinter sich zu lassen. Die Entscheidung führt sie in noch größere Not: Sie irren durch eine Wüstenlandschaft und leiden Hunger, leben lange Wochen allein (Am Rande bemerkt, klingt hier die Fastenzeit Jesu in der Wüste an).
Am Ende, berichtet der Erzähler sehr summarisch, gelangen sie in die Großstadt, lassen alles hinter sich und hauen richtig auf den Putz, er lernt ein Mädchen kennen, gründet eine Familie. Und doch verlässt ihn seine Geschichte nicht. Noch immer hört er seine Mutter – aber nicht mehr so sehr ihr Weinen, als ihre lobenden letzten Worte „Du bist jetzt schon groß.“
Einige Themen aus dem Lied tauchen auch in anderen Stücken auf. Das harte Leben auf dem Land in den USA des 19. Jahrhunderts wird auch in The Roof Is Leaking (und indirekt in Driving The Last Spike) aufgegriffen, und einen Blick auf zerrüttete Familien aus der Sicht des Kindes werfen auch No Son Of Mine und Vancouver.
Me And Virgil hat einen leicht stolpernden Rhythmus, der nur an ein paar Passagen glatter und vorwärts treibender wird. In etwas über sechs Minuten erzählt er eine ganze Lebensgeschichte, oder wenigstens die Lebensgeschichte des Erzählers in Bezug auf seine Mutter. Das kann kein großer Pop-Kracher werden, und es ist aber eben auch thematisch nicht verschroben genug, um Prog zu sein – abgesehen davon, dass der Song aus den Abacab-Sessions stammt, die sich bewusst von Prog-Kategorien lösen wollten. Mich erinnert das Stück von der Reife der Musik her an Inside And Out. Ganz sicher ein Stück, bei dem Genesis nicht voll durchzieht. Bestimmt auch ein Stück, das sie alle irgendwie gut fanden (sonst hätten sie es nicht veröffentlicht). Und meinem Eindruck nach aber auch ein Stück, dem der letzte Schliff fehlt – bei dem der Band auch die zündende Idee fehlte, wie sie es richtig veredeln könnten.
Weil es ab And Then There Were Three nicht mehr viele Stücke gibt, deren Text mich wirklich reizt, und Me And Virgil aber eines von diesen ist, holt sich das Stück den Großteil der Punkte über den Text und weniger über die Musik. Sagen wir: 7 Punkte.