SdW [11.07.-17.07.11]: GENESIS - Seven Stones

    • Offizieller Beitrag

    Vor der Küste von Cornwall, etwas nördlich der Linie von Land’s End zu den Scilly-Inseln, liegt ein Riff. Einige der sieben Felsen sind auch bei Niedrigwasser noch unter Wasser, andere ragen dann hervor. Unpraktischerweise liegt das Riff direkt auf einer Schifffahrtsroute, so dass eine große Anzahl von Schiffen dort aufgelaufen und gesunken ist. Das größte Wrack dort ist der fast 300 Meter lange Supertanker Torrey Canyon. Was hat dieses Seefahrtshindernis mit dem Stück von Genesis zu tun? Das Riff heißt „Seven Stones“. Geht die Verbindung darüber hinaus?


    Ich bekam mit, wie der Alte seine Geschichte erzählte. So beginnt Seven Stones. Eine einzelne Zeile, musikalisch ein wenig abgesetzt, sie wirkt eher wie eine letzte denn eine erste Zeile. Diese leichte Abtrennung hat ihren Grund – sie gehört zur Rahmenhandlung. Der Erzähler berichtet, dass er hörte, wie der Alte seine Geschichte erzählte. Was nun folgt, ist das, was der Alte erzählt.
    Er erzählt von einem Kesselflicker oder, allgemeiner, jemandem aus dem Fahrenden Volk, der von einem Unwetter überrascht wird. Seine Hoffnung auf Zuflucht vor dem schlechten Herbstwetter sinkt. Er schiebt das Laub unter einem Baum zur Seite, sieht dort sieben Steine auf dem Boden liegen – und findet dann im siebten Haus jemanden, der ihm freundlich gesonnen ist. Das wirkt auf den ersten Blick ziemlich unlogisch. Wenn ich bei Sauwetter irgendwo unterwegs bin und mich die Zuversicht verlässt, dass ich noch irgendwo eine Zuflucht finde, dann fange ich sicher nicht an, irgendwo im Wald Laub zu harken, Steine zu zählen und „dementsprechend“ Zuflucht zu finden. Warum kommt also der Kesselflicker auf diese seltsame Idee?
    Spekulationsalarm: tinker ist ein altes Substantiv. Es wird kaum noch auf einen Menschen der Gegenwart angewendet. Auch der Kontext (die Geschichte des alten Mannes) deutet in die Vergangenheit, darum gebe ich es hier mit den veraltenden Worten „Kesselflicker“ und „Fahrendes Volk“ wieder. Diese Vaganten nutzten Zeichen, sogenannte Zinken, um einander Informationen über die Gegend und den Ort zu geben – zum Beispiel, wo die Bewohner freundlich gesonnen sind. Der Vagant schiebt das Laub also wohl absichtlich zur Seite; er darf unter diesem Baum ein Zeichen erwarten. Der Baum steht dann wohl auch nicht irgendwo im Wald, sondern an markanter Stelle, an einer Wegkreuzung oder in der Nähe des Ortseingangs. Zwischen den sieben Steinen dort auf der Erde und dem siebten Haus, in dem sich Hilfe findet, wird ein Zusammenhang nur angedeutet. (das siebte Haus – auf der linken Seite, auf der rechten, zählen beide Seiten, gilt die Scheune auch?).
    Die Episode vom tinker wird zusammengefasst mit einem eigenartigen Satz: „Und die Veränderungen, die nicht ins Gewicht fallen, übernehmen wie aus dem Nichts die Zügel.“ Beinahe ein Paradoxon: Änderungen, die nicht ins Gewicht fallen, also eigentlich nichts ändern, übernehmen die Zügel, lenken also – und damit fällt ins Gewicht, was sich da ändert oder nicht ändert.
    Der Alte erzählt eine weitere Episode von Seeleuten, die unterwegs in großer Gefahr schweben: Ohne dass sie es bemerken, steuert ihr Boot auf einen Felsen zu. Sie drohen aufzulaufen, schiffbrüchig zu werden. Eine Möwe fliegt vorbei, und der Kapitän ändert den Kurs. Warum? Das fragt er sich nicht. Wir als Hörer sollen vermuten, dass es wegen der Möwe sei. Auch diese Episode wird zusammengefasst wie die erste: „Und die Veränderungen, die nicht ins Gewicht fallen, übernehmen wie aus dem Nichts die Zügel.“
    An diesem Punkt springt der Text zurück in die Rahmenhandlung. Der Ich-Erzähler aus dem allerersten Vers meldet sich und stellt dar, wie der alte Mann auf die Welt reagiert. "Verzweiflung, die die Welt ermüdet, bringt dem Alten ein Lachen. Das Lachen der Welt grämt ihn." Dann spricht uns der Erzähler an und fordert uns auf: „Glaubt ihm – die Richtschnur des Alten ist der Zufall!“
    Wie um das noch einmal zu betonen, leitet der Ich-Erzähler mit denselben Worten wie am Anfang eine dritte Episode aus den Erzählungen des alten Mannes ein. Ein Bauer, der von seinem Geschäft nichts versteht und nicht einmal weiß, wann die Zeit für die Aussaat gekommen ist, befragt den alten Mann und drückt ihm – offenbar um sich die richtige Auskunft zu sichern – Geld in die Hand. Der Alte steckt das Geld ein, ohne dem Bauern eine Antwort zu geben (es sei denn, das Schulterzucken ist die Antwort), woraufhin der natürlich fuchsteufelswild wird, weil er Geld verschwendet hat. Und auch hier übernehmen die Veränderungen, die nicht ins Gewicht fallen, wie aus dem Nichts die Zügel.
    Abschließend meldet sich der Ich-Erzähler noch einmal: „Verzweiflung, die die Welt ermüdet, bringt dem Alten ein Lachen. Das Lachen der Welt grämt ihn“ Mit der wiederholten Aufforderung „Glaubt ihm – die Richtschnur des Alten ist der Zufall!“ schließt das Stück.


    Allen drei Episoden ist gemeinsam, dass ein Element des Zufalls im Spiel ist: Der Wanderer sieht zufällig sieben Steine auf der Erde unter dem Baum (vielleicht ist ein achter Stein noch laubbedeckt?), der Kapitän ändert den Kurs zufällig in die richtige Richtung, der Bauer könnte nur zufällig die richtige Antwort bekommen. Allen drei Episoden ist außerdem gemeinsam, dass verlässliches Wissen den Protagonisten jedenfalls besser helfen würde als die Methoden, die sie anwenden: Der Wanderer wüsste, wohin er sich wenden kann, der Kapitän wüsste von dem gefährlichen Felsen und der Bauer verstünde sein Handwerk.
    Wenn sich die Leute auf unzuverlässige Hinweise und Ratschläge verlassen und dadurch zu Schaden kommen, zieht der Alte daraus eine grimmige Befriedigung. Es geschieht ihnen ja nur recht. Spott dagegen bekümmert ihn. Er selbst lässt sich vom Zufall leiten – und steht damit auf derselben Stufe wie der Wanderer, der Seemann und der Bauer: Zufällige statt informierter Entscheidungen.



    So könnte man die Seven Stones lesen. Oder auch anders. Mit dem Riff vor Cornwall hat das Stück über den Titel hinaus keine Verbindung. Und übrigens wohl auch nicht zu den sieben sehenden Steinen, den palantíri, aus Tolkiens Epos vom Herrn der Ringe.


    Seven Stones war ziemlich aus meiner Wahrnehmung verschwunden, obwohl ich nicht wüsste, warum. Es ist kein unglaubliches Hammerstück; mich jedenfalls überwältigt es nicht. Eher solides Mittelmaß. Acht, neun, zehn Punkte? Sagen wir: neun.

  • Martinus, man merkt Dir Deinen Spaß an der Interpretation von Songtexten an. Bei Seven Stones folge ich Dir, und möchte nur noch zwei oder drei Gedanken lose hinzufügen. Für mich gibt es noch ein paar Andeutungen, die eher psychologischer denn soziokultureller Art sind.


    Der Wanderarbeiter befindet sich in einem Sturm. Dieser Sturm muss nicht um ihn herum, er kann auch in ihm toben und ihn zur Verzweiflung bringen. Er räumt darum das (abgestorbene) Laub (das Vergangene) weg und findet darunter 7 Steine. Warum nicht 6? Oder 8? die Zahl 7 spielt in der Zahlenmystik eine ganz besondere Rolle: sie vereint das Göttliche (3 = Dreieinigkeit) und das Irdische (4 = die vier Elemente). Im Gegensatz zum verwelkenden Laub sind die Steine etwas Solides.


    Was soll nun das 7. Haus? Wir erinnern uns an "(Age of) Aquarius": "When the Moon is in the seventh House..." Das 7. Haus steht in der Astrologie für Partnerschaft. Im 7. Haus findet Tinker einen Freund, vielleicht auch eine Freundin. Er kann den Zeitpunkt also nicht bestimmen, wird vom Schicksal oder dem Zufall (chance) gelenkt. Veränderungen ohne Folgen nehmen die Zügel des Lebens in die Hand. Früher sagte man fatalistisch: Der Mensch denkt und Gott lenkt. Also könnte man den Dingen seinen Lauf lassen und sich einfach treiben lassen.


    They see a Gull flying by: in grauer Vorzeit beobachteten vor allem die Kelten und die Etrusker den Flug der Vögel, um darin die nahe Zukunft zu prophezeien. Herrscher machten ihre Entscheidung von der Interpretation der sog. Auguren abhängig. So auch der Käpt'n. Er hinterfragt die Interpretation nicht, sondern handelt einfach. Letzten Endes ist es egal. Wir wissen auch nicht, welche Folgen der Kurswechsel hatte - Rettung oder Untergang?
    Diese Vergeblichkeit, keinen Einfluss auf das Leben nehmen zu können, sehe ich im Refrain: über Verzweiflung lacht der Alte, das Gelächter der Welt betrübt ihn. Vielleicht, weil nichts von Dauer ist?


    Die letzte Strophe klingt fast wie ein biblisches Gleichnis. Der Bauer weiß nicht, wann die Zeit der Aussaat ist. Er verlässt sich nicht auf Astrologie oder Orakel, sondern versucht sein Leben durch Geld zu beeinflussen. Der Schuss ging nach hinten los. Am Ende ist er nicht schlauer, sondern auch noch ärmer.


    Wer ist nun der Alte? Alte Männer symbolisieren z. B. in der Traumdeutung die Weisheit. Der Alte ist sowohl Erzäher als auch Beteiligter in der Farmerepisode. Selbst er weiß nicht alles, und wenn er es weiß, verrät er es nicht. Er erteilt dem Farmer eine Lektion, nämlich dass er es selbst herausfinden muss.


    Natürlich neige ich (Martinus vielleicht auch) zum Überinterpretieren. Und dennoch ist das Schreiben von Lyrik ja ein höchst kreativer Prozess, und das Unterbewusstsein schreibt am Text mit. Wir könnten jetzt noch einen Schritt weiter gehen und recherchieren, in welcher Lebenssituation sich Gabriel beim Schreiben befunden hat. Könnte psychologisch interessant sein. Vielleicht wäre es aber auch banal ...

    I'll never find a better time to be alive than now.

    Peter Hammill (on "X my Heart")

  • "Seven Stones" bekam von mir damals 15 Punkte, hat sich auch nicht geändert, aber auch, wie zu "Firth Of Fifth" noch eine kleine Story ...


    Mittlerweile bin ich ja ziemlich regelmäßig in Italien, und trotz dieser einheitlichen englischen Atmosphäre hat gerade "Seven Stones" für mich ein italienisches Flair, viele italienische Progbands aus den frühen 70ern (PFM zB) hatten einen ähnlichen Sound


    Und als ich zum ersten Mal alleine nach Italien flog (2007 nach Rom) hatte ich kurz vor der Landung "Seven Stones" im Kopf ... dies hat mit dem Songtext natürlich überhaupt nichts zu tun, aber es zeigt das der Song auf mehreren Ebenen funktionieren kann. Gerade bei diesem Mittelteil " Despair that tires the world Brings the old man laughter" habe ich oft den warmen Süden vorm geistigen Auge ...

  • Schön, dass der TOTW nochmals ausgegraben wurde. Mein Kompliment an martinus und Aprilfrost. Diesen Interpretationen ist eigentlich nicht so viel hinzuzufügen. Ich bin ehrlich gesagt zu bequem, um Infos über Peters damaliges Befinden zu recherchieren und diese Interpretationen noch mit dem psychosozialen Hintergrund des Lyrikers zu ergänzen. Wenn´s überhaupt möglich ist. Zum Song: Wie konnte ich dieses Kleinod nur übergehen? Es erinnert noch an Trespass und greift mit seinem Mellotron-Sound, gepaart mit Steve´s Gitarrenspiel Can Utility And The Coastliners vor. Vergleiche zu den frühen King Crimson finden sich. Ich liebe diese viktorianische Stimmung, diese Steigerung innerhalb des balladesken Songs, die immer wieder in sich zusammenfällt, gepaart mit dem wunderbaren Gesang Peters. Ein fantastischer Opener für die B- Seite der LP. Leider steht das Stück im Schatten der großartigen The Musical Box, The Return Of The Giant Hogweed und Fountain Of Salmacis. Zu Unrecht wie ich finde. Es hat genauso 15 Punkte verdient. Es ist Zeit, sich wieder mit Nursery Cryme zu beschäftigen!


    P. S. Hey Steve, kannst du auf deiner nächsten Tour nicht mal Seven Stones spielen? Wäre schön, es mit Nad´s Stimme zu hören....

  • (...) Ich bin ehrlich gesagt zu bequem, um Infos über Peters damaliges Befinden zu recherchieren und diese Interpretationen noch mit dem psychosozialen Hintergrund des Lyrikers zu ergänzen.


    Urheber von Seven Stones, also auch des Textes ist wohl Tony Banks, der sich von Procul Harum inspirieren ließ. (Quelle weiß ich gerade nicht)

    Gedankenrauschen – Da geht noch was!

  • Urheber von Seven Stones, also auch des Textes ist wohl Tony Banks, der sich von Procul Harum inspirieren ließ. (Quelle weiß ich gerade nicht)


    Danke! Na, vielleicht war er gerade zu der Zeit unglücklich verliebt? Oder wusste nicht, ob er das Schiff Genesis um die Klippen steuern kann (Erfolg? Karriere wohin?)? Bei Tony wird eine Recherche noch schwieriger....so schweigsam er doch ist. Muss mir mal die "Grüne" Box reinziehen, äh die dort dokumentierten Aussagen zu Nursery Cryme. ;)

  • Wunderschönes ruhiges, herrlich schwermütig und melancholisch anmutendes, wenn auch nicht erdrückendes Stück. Ich liebe die zarten Töne, Intonierungen, die traumhaften Melodien und das Thema und den vollen warmen Chorus „aahahaa“. Bei Seven Stones gefällt mir in der Tat wieder einmal Peter´s raue Stimme sehr gut, das Wehmütig-Leidende, gerade in den höheren Stimmlagen.
    Klasse Song, wunderbar zum Dahinträumen, auch wenn die Story etwas ganz anderes erzählt.

    13 Punkte, sehr gut. Kann nicht anders.

    lg mara || fb.com/tamarasparrow


    the pineapple thief: 17. + 18.09.18 || TMB: 23.11.18


    Als Genesis-Fan macht man ja im Grunde den lieben langen Tag nichts anderes als Seelen-Striptease...
    - me.

  • Na dann mach ich mal weiter meine Hausaufgaben. Die Sonne scheint. Es ist Frühling. Ich sitze auf der Terrasse, höre Seven Stones im inneren Ohr und fröne meiner Kakao-Sucht. Starke sakrale Atmosphäre wie bei Fountain, aber insgesamt etwas ruhiger, homogener, kürzer das ganze. Für mich ist Seven Stones der kleine Bruder. Für eine glatte 1 reicht es aber. 14 Punkte. Ich kann es immer wieder hören, ist zwar gealtert, aber gut, weil es auf zeitlose Art schon immer uralt klingt. Ein bisschen Mittelalter, ein bisschen Wüstenväter...

    "Wachstum kann aus den schrecklichsten Dingen heraus geschehen. Es ist traurig, dass diese Lektionen manchmal immer wieder und wieder gelernt werden müssen. Es ist beinahe so, als bräuchten wir Schreckliches, um uns entschieden davon abzustoßen. Wenn wir auf die Geschichte zurückblicken, dann lernen wir verdammt langsam, Mann."

    (Jeff Bridges, Schauspieler)