TotW: [13.-19.01.14]: GENESIS - The Grand Parade Of Lifeless Packaging

  • Und daß diese stark Musical-verdächtige rasante Nummer [...]


    Eine gar interessante - nicht Beobachtung - aber Hörerfahrung, die mir in meiner Freizeit durch den tristen Tag helfen wird. Obwohl ich Muscials gar nicht mag. Aber wer weiß, was in mir schlummert. Höre inzwischen auch bei vollem geistigen Bewußtsein Duran Duran (wahrscheinlich wegen gepflegten Alterssentimentalitäten).



    [...]Plod, auch wenn Ihr mir mit Eurer Euphorie enteilt, sind das ganz herrliche kleine Abhandlungen, für die ich diese Rubrik ja sehr schätzen gelernt habe.


    Du Schwärmer, ich gebe die Kränze gerne zurück!
    Irgendwie fehlt mir bei TGPOLP noch eine Überlegung betreffs des Dadaistischen.:gruebel:

    We can help You

    • Offizieller Beitrag

    Das ist bestimmt kein Track für die Lieblingssammlung - aber ich hab TLLDOB ja schon immer mehr als Art Musical mit Ganzheitfaktor gesehen. Und in der Story macht dieser ätzende Song durchaus Sinn.


    Im Übrigen finde ich grandios, wie sich das Stück von bürgerlicher Dödeligkeit in eine echte Rocknummer hineinsteigert...

    • Offizieller Beitrag

    In der Grand Parade Of Lifeless Packaging wird Rael Zeuge, wie in einer langen Produktionslinie Menschen mit ihrem Schicksal verbunden und dann in doppeltem Sinne an das Leben ausgeliefert werden. Ein schlichter und gleichmäßiger Schlagzeugtakt verkörpert die genauso gleichmäßig getakteten Arbeitsgänge – wie bei Fließbandarbeit. Klanglich sind wir eben in einer Fabrik; nicht umsonst hört man gleich zu Anfang das Pfeifsignal zum Arbeitsbeginn. Wenn sich dieses nach einigen Sekunden wiederholt, wirkt es eher wie der Pfiff einer Dampflok, und der sich langsam füllende Schlagzeugrhythmus wie das Rattern eines allmählich beschleunigenden Zuges (damals … vor den schallgedämmten ICEs … oder noch heute bei den englischen Eisenbahnen). Wie die Zugassoziation in den Gesamtzusammenhang des Albums passten könnte, weiß ich allerdings auch nicht.


    Im großen Ganzen wirft das Stück ein eher kaltes Licht auf die Menschen: Ist das wirklich das letzte große Abenteuer, das der Menschheit geblieben ist? Hier werden Menschen produziert. Rohmaterial sind Körper: Traumpuppen, und sie müssen bezahlt werden mit Münzen und Scheinen. Rael sieht sie, sieht auch, dass sie gebrauchsfertig sind (ready to use); ihnen fehlt nur eine fuse, was man je nach Geschmack mit „Sicherung“ (metaphorisch für das Herz, das Hirn?) oder „Lunte“ (die Nabelschnur?) übersetzen kann.
    Rael sieht ein großes Angebot an Menschen, die man hier kaufen kann. Jede Hautfarbe (shade) ist im Angebot – zynisch wird festgestellt, dass der Laden offenbar guten Umsatz macht (sonst hätte man ja keinen so großen Lagerbestand). Soweit Rael sieht, tragen die versandfertigen Menschen bereits die Empfängeradresse und sind sogar gestempelt: Das mag einerseits der Stempel sein, mit dem die Lieferung postalisch freigemacht wird, andererseits gab es bei Genesis vorher schon einmal eine andere Figur, die einen Stempel trug: „human bacon, menschlicher Speck“, und dann kann man auch an Kain denken, der ja auch mit einem Mal versehen wurde. (Letzteres ist für eine Gesamtdeutung des Lamb-Albums nicht ganz uninteressant, denn John, der hier Nummer 9 im Produktionslager ist, ist ja auch Raels Bruder, und statt der Tötung kommt es am Ende das Albums ja im Gegenteil zu einer Rettung des Bruders durch den Bruder.)


    Doppeldeutig wird den Verkaufsobjekten odd fatality bescheinigt; das kann eine „gelegentliche Sterblichkeit“ sein (gewissermaßen ein Produktionsfehler, der die Ware schnell kaputtgehen lässt) oder ein „merkwürdiger Fatalismus“, der die Persönlichkeit glättet/ausgleicht. Der freie Wille fehlt der Ware gänzlich, wird später ja noch hervorgehoben.


    Insgesamt ist das eine sehr saubere Produktionsstätte, da gibt es keine labour bondage – wieder ein doppeldeutiges Wort, in dem bonded labour (Schuldknechtschaft) anklingt (gibt's nicht, also: ethisch sauber), aber auch die Wehen (labour), die ja bei der herkömmlich bekannten „Herstellung von Menschen“ unumgänglich und im Resultat zwar natürlich, aber eben auch nicht pieksauber sind.
    Dafür läuft ja auch alles bestens, und die Artikel sind mit allerlei werbenden Superlativen versehen. Die Decke der Produktionshalle „hat die Zukunft (der Menschen) vorausgeplant“; darf man in der Decke den Sternenhimmel und in der Planung einen astrologischen Determinismus sehen?
    Rael ist hier, wie es scheint, ein Kunde: Er kann sich frei bewegen, alles anschauen, aber es geht offenbar nicht weiter in seinem Leben, bis er bezahlt, seinen Weg freikauft - sein eigenes Leben, seinen Körper? Immerhin: Gerade eben war er noch im Käfig (In The Cage) einer steinernen Zelle gefangen, deren Wände ihn zu zerquetschen drohten. Muss er also hier einen Preis zahlen, um sich, sein Wesen, seine Persönlichkeit, seine Identität – wie immer man das fassen will – wieder mit seinem Körper zu vereinen? Entscheidet sich Rael hier vielleicht für das Modell Nummer 9 – was erklären würde, warum er am Ende des Albums nicht seinen Bruder, sondern sich selbst sieht, weil sie ab hier identisch aussehen? Auf jeden Fall bezahlt Rael für die Große Parade des Leblosen Verpackens.


    Am Ende der Fabrikationshalle, wo die Produktion, wenn man nach der Musik geht, schneller und turbulenter abläuft, erlaubt sich die Band übrigens einen musikalischen Scherz: Während Rael darüber sinniert, dass er nur eine Sicherung benötigt, sinkt Gabriels Stimme immer weiter ab wie bei einem Plattenspieler, der nicht weiterläuft, weil der Strom ausbleibt (ist die Sicherung rausgeflogen?).


    Zur Musik ist bereits einiges gesagt worden von Berufeneren als ich es bin. Ich möchte hier nur zwei Dinge anmerken. Mich erinnert das Lied in der Struktur und besonders darin, wie nachher alles „immer durcheinanderer geht“, an All You Need Is Love von den Beatles. Und ich möchte auch auf die schöne Version des Stückes aufmerksam machen, die Nick d'Virgilio allein mit Percussion und mehrstimmigem Gesang auf seinem Lamb- und Genesis-Tributalbum Rewiring Genesis bestreitet.

  • Martinus, ohne deine Künste würde ich Gabriels Texte wohl nie verstehen. DANKE für diesen grandiosen Beitrag! :topp:


    :verneigen:

    “THE NIGHT WE TRACKED DOWN PHIL COLLINS, BECAME BEST FRIENDS WITH HIM, AND TALKED HIM INTO REUNITING WITH PETER GABRIEL, AND THEN WE GOT TO SING BACKUP ON THE NEW GENESIS ALBUM AND IT WAS AWESOME!”

    — Barney Stinson, How I Met Your Mother, Season 7, Episode 21 ‘Now We’re Even’

  • Unglaublich was Du alles da herauslesen kannst.
    Respekt!
    :verneigen:

    Zy
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    "The music is the true currency. It's more valuable than the accolades or the money. The relationship is with the invisible muse and you know if she's pleased or if she ain't." - Steve Hackett