"Hold on my heart" - Warum provoziert dieser Song so sehr?

  • Mal kurz dazwischen: Die Harmonielehre ist weniger ein "Regelwerk" als vielmehr eine Beschreibung oder Erklärung dessen, was in der (westlichen, dur-moll-tonalen) Musik über die letzten drei bis vier Jahrhunderte jeweils Standard war. Sie liefert keine Normen oder Gesetze, bestenfalls von den Hörgewohnheiten abgeleitete Gesetzmäßigkeiten.


    Genau! :topp: Und eben darum ging es zumindest mir: Harmonielehre im Rock ist rein deskriptiv und nicht regulativ. Sie dient lediglich der Beschreibung/Analyse dessen, was harmonisch gemacht wurde, und formuliert keine ästhetischen Normen, wie etwas gemacht werden soll.
    Vielleicht hattest du den Eindruck, als wolle ich die Existenz einer theoretischen Ebene der Rockmusik per se negieren. Ich hatte mich aber deswegen in die Diskussion eingeschaltet, da plötzlich von "Verboten", "unpassenden Akkorden", "harmonischen Fehlern" in Verbindung mit der Stimmführung und "einzuhaltenden Regeln" die Rede war. Rivanov formulierte sogar eine Formulierung in der Art, dass es für Laien so wirken könne, "als ob alles erlaubt sei".
    Und ich bleibe dabei, dass es unsinnig ist, derlei in den Raum zu werfen, eben weil die Harmonielehre keinen regulativen Anspruch erheben kann, der aber aus diesen ganzen Formulierungen hervorscheint. Alles ist nämlich faktisch erlaubt, es gibt keine per se "unpassenden Akkorde" und "harmonischen Fehler".



    Es hat immer Leute gegeben, die das anders verstanden haben (Musiklehrer?) und daraus verbindliche Regeln für die Komposition abgeleitet haben, nach dem Motto 'so haben es die Genies gemacht, so muss es für alle Zeiten sein' - aber das ist eigentlich ein Missverständnis.


    Und ich hoffe, dass aus meinen Postings hervorging, wie schwachsinnig ich derlei Verabsolutierungen finde. Es gibt unter Musikern wie überall sonst auch Leute, die etwas verstanden haben, aber den Kontext des Verstandenen nicht verstanden haben. "So muss es für alle Zeiten sein", gibt es selbstverständlich nicht in der Musik. Deshalb sind normativ ausgerichtete ästhetische Konzepte ja eh zum Scheitern verurteilt - es sei denn, es handelt sich um begrenzte programmatische künstlerische Richtungen ("Zweite Wiener Schule" oder so etwas - wo also Künstler sich zusammentun und eine neue musikalische Richtung (= "Lehre") entwickeln).


    [/quote]Wenn man die Beziehungen zwischen Akkorden verstehen will, kommt man um die Harmonielehre nicht herum. Das gilt für jede Art von Musik, die Dur- und Moll-Tonarten und die zugehörigen Akkorde benutzt.


    (...) Das wiederum würde ich bezweifeln. Will man heute einen Hit schreiben, tut man gut daran, sich an die "Regeln" zu halten - ich bin geneigt zu vermuten, dass nahezu alle erfolgreichen Rock- und Pop-Hitsingles der letzten 50 Jahre spätestens beim Refrain dem I-IV-V-Stufenschema folgen - welches sozusagen die Grundlage der Harmonielehre bildet.
    Was den zweiten Satz angeht, habe ich ebenfalls meine Zweifel. Wenn man das für Musiker extrem lesenswerte Buch von Dominic Pedler, "The Songwriting Secrets of the Beatles" - durcharbeitet (muss man angesichts des Umfangs sagen) wird man kaum umhin kommen festzustellen, dass die Beatles sehr wohl auch musiktheoretisch genau wussten, was sie da tun.[/quote]


    Ich sehe da keinen Widerspruch. Das mit dem rein deskriptiven Charakter "moderner" Harmonielehre dürfte, denke ich, geklärt sein. Da sind wir uns einig.
    Und das, was du mit dem in Tüddelchen gesetzten Wort "Regeln" aussagst, scheint mir etwas zu sein, was ich unter einer konventionellen, etablierten Tonsprache verstehe. Und das sehe ich ähnlich: Wann zuletzt habe ich mal einen Hit gehört, dessen harmonische Mittel wirklich originell waren? In den Charts höre ich, wenn ich denn mal was mitbekomme, absolut bewährte Akkordmuster, wie du ja auch sagst.


    Zu den Beatles: Ich habe mal irgendwo gelesen, dass speziell Lennon überhaupt nicht an einer musiktheoretisch-analytischen Arbeitsweise interessiert war. Hinsichtlich einer Quelle muss ich aber leider passen, das weiß ich nicht mehr. Sollte er aber doch ein Theorie-Monster gewesen sein, habe ich kein Problem damit, dies anzuerkennen. Wenn ihm das eine künstlerische Hilfe war - schön und gut. Viele andere erfolgreiche Pop-Künstler werden allerdings kaum mehr als rudimentäre Theoriekenntnisse auf der Pfanne und dementsprechend auch sehr unreflektiert gearbeitet haben. Es geht ja auch ohne, je nachdem was man umsetzen will und welche Qualitäten sonst noch so mitgebracht werden.

  • Genau so ist es.
    Anzunehmen dass Paul McCartney nicht wusste was er machte, ist kurzum einfach Schwachsinn. Vielleicht war er sich nicht bewusst, welche verinnerlichte Muster er da umsetzte, aber er wusste sehr wohl was er macht.


    Es ist für mich nicht das Gleiche, wenn einer intuitiv und mit großartigem kreativen Gespür von seinen verinnerlichten Mustern zehrt oder seine Arbeit analytisch reflektiert. Wenn einer schön harmonisiert (und u.a. das war ja eine der großen Beatles-Stärken), dann ist es natürlich vom Ergebnis her völlig egal, ob er das theoretisch durchdringt. Das Gleiche ist es vom Schaffensprozess her dennoch nicht.


    Auch wenn Phil keine Noten lesen kann, weiss er trotzdem sehr wohl wann er nen verminderten Akkord einsetzten möchte um die oder diejenige Stimmung zu erzeugen. Er kann es nur nicht theoretisch erklären. Aber das hat nichts damit zu tun, dass er nicht wüsste was er tut.


    Siehe oben. Phil ist Musiker, der hat ein Repertoire künstlerischer Ausdrucksmittel, ohne sie alle analytisch reflektieren zu können. Vor allem ist er auch Bauchmensch und arbeitet wohl auch als solcher. Wenn du dazu sagen möchtest: "Er weiß, was er tut", dann ist das eben so. Ich kam mit meinen Überlegungen aber von diesem Harmonielehre-Ding her. Und wenn er davon keine Ahnung haben sollte, dann könnte ich über diesen Bereich mit Recht sagen: "Er weiß nicht, was er da tut, aber er tut es trotzdem." :p

  • Mir stellt sich vielmehr die Frage, warum Musiker überhaupt auf irgendeine Form von Harmonielehre achten sollten ?


    Warum ist es ein "muß", daß sich Akkorde auf eine bestimmte Art und Weise aufzulösen haben ? Was für ein denkmoodell befindet sich hinter dem Wunsch, die Art und Weise, wie sich Akkorde aufzulösen und in den Rest des Musikstücks einzufinden zu haben zu einem generellen Regelwerk zu machen ? Welches Denkmodell steht hinter dem Wunsch, aus Musik zuallererst ein mathematisch exaktes Regelwerk werden zu lssen ?


    Ich kannte während meiner Schulzeit Leute, die waren sowohl im Mathematik-Leistungskurs als auch im Musik-Leistungskurs. Ich habe mit ihnen nie darüber gesprochen, aber es hat mich immer sehr verwundet, wie etwas so hoch emotionales wie die Musik mit etwas so extrem strengem wie der Mathematik verbinden könnte ?


    Ist der Wunsch, die Emotion/Emotionalität [in] der Musik in ein formelhaftes Regelwerk zu gießen nicht vielleicht viel eher der Wunsch, des ungezähmte, ungezügelte, unberechenbare zu zähmen, zu zügeln, berechenbar zu machen ? Steht dahinter nicht vielleicht eine grundsätzliche Unsicherheit gegenüber dem, das nicht in Zügel zu fassen ist ? Eine Art Urangst ?
    Mir stellt sich die Frage, ob es nicht auch Wunsch der "Regelhaftigen" ist, die Emotion aus der Musik wenn nicht zu verbannen, dann doch zumindest zu etwas erklärbarem, berechenbaren zu machen ?
    Mir fällt dazu der Spüruch ein, der eher aus der Esoterikexcke kommt, daß Männer Kopfmenschen sind, und Frauen Gefühlsmenschen. Von dem Standpunkt aus gesehen ist das zügeln-wollen der Musik als Emotionsträger eigentlich vielmehr der Wunsch der Kopfdenker, mittels dem Werkzeug der Regelhaftigkeit das WEibliche in der Musik zügeln zu können. So kann ich zum Beispiel bei Kraftwerk nichts emotionales finden (bei OMD übrigens schon eher). Wobei sich Kraftwerk in allem (inklusive dem Image, das sie sich geben) durchaus als Logik-betriebene, roboterhafte Musiker bar jeglicher Gefühlsregung inszeniieren. Paßt perfekt in diesen Spruch hinein.
    Von diesem Blickwinkel aus gesehen ist der Kampf Regelhaftigkeit vs. Unberechenbares auch ein Kampf Mann gegen Frau. Logik vs. Emotion.


    Und zu allerletzt : Ist es nicht auch ursprüngliches Ziel einer Musikrichtung, die sich Progressive Rock nennt, eben NICHT den Erwartungen der Höhrer in Sachen Harmonielehre zu entsprechen ? Was wäre "A Day In The Life" ohne das kakophonische Crescendo am Ende ?

    "There are crawlers under my lambswool feet..."
    (Quelle)

    • Offizieller Beitrag

    Und zu allerletzt : Ist es nicht auch ursprüngliches Ziel einer Musikrichtung, die sich Progressive Rock nennt, eben NICHT den Erwartungen der Höhrer in Sachen Harmonielehre zu entsprechen ? Was wäre "A Day In The Life" ohne das kakophonische Crescendo am Ende ?


    Regeln müssen Geltung haben, damit sie gebrochen werden können. Ist nicht der absichtliche Bruch mit den Erwartungen der Hörer in Sachen Harmonielehre daher ein Zeichen für ihre Gültigkeit?

    • Offizieller Beitrag

    Mir stellt sich vielmehr die Frage, warum Musiker überhaupt auf irgendeine Form von Harmonielehre achten sollten ?


    Warum ist es ein "muß", daß sich Akkorde auf eine bestimmte Art und Weise aufzulösen haben ? Was für ein denkmoodell befindet sich hinter dem Wunsch, die Art und Weise, wie sich Akkorde aufzulösen und in den Rest des Musikstücks einzufinden zu haben zu einem generellen Regelwerk zu machen ? Welches Denkmodell steht hinter dem Wunsch, aus Musik zuallererst ein mathematisch exaktes Regelwerk werden zu lssen ?

    Ein "Muss" gibt es nicht, jedoch gibt es feste, eingeübte Gewohnheiten - letztlich sind das anerzogene Erwartungshaltungen des Hörers. Wenn man von Kleinauf in tausenden Volks-, Kinder- und Kirchenliedern gehört hat, dass sich G7 nach C auflöst (bzw. jeder der elf anderen Dominantseptakkorde zu "seiner" jeweiligen Tonika), wird das einfach immer so erwartet.


    Die Harmonielehre beschreibt eben diese Quasi-Gesetzmäßigkeiten und man kann sie (wenn man diese kennt) hervorragend nutzen, um die Hörerwartungen gezielt zu unterlaufen. Erst dadurch entstehen Überraschungseffekte, Momente der Originalität - an die der Hörer sich bei häufigem Hören natürlich auch irgendwann gewöhnen kann. Dann muss man sich halt was Neues ausdenken.


    Die Beatles haben (anders als Tony Banks) sicher kein großes bewusstes Theoriewissen gehabt, aber sie kannten alle bis dahin bekannten Tricks einfach durch ihre langjährigen "Mucker"-Erfahrungen vor ihrer großen Karriere. Als sie später dann selbst komponierten, haben sie sich zunächst noch auf bekanntem Terrain bewegt. Doch wurde ihnen wohl schnell langweilig - dann begann das Spiel mit den Hörerwartungen. Vieles enstand sicherlich durch Trial and Error, das hatte jedoch eine Zielstrebigkeit und Raffinesse, die nur mit großer musikalischer Erfahrung einhergehen konnte.


    Als Komponist von Rock und Pop sind mathematische Grundkenntnisse nicht erforderlich und auf die Harmonielehre muss auch nicht bewusst geachtet werden - die Musiker tun es unbewusst, indem sie einfach nur ihrer musikalischen Sozialisation im Dur/Moll-Kosmos folgen. Nur wenige sind in der Lage, sich von diesem prägenden Einfluss weitgehend zu lösen. Karlheinz Stockhausen vielleicht oder John Cage - die haben ihre eigenen Universen künstlich geschaffen.


    Und weil diese Universen eben künstlich sind, gibt es auch nicht viele Menschen, die diese Musik zu hören gewohnt sind. Das geht "uns" auch so mit anderer Musik abseits der Harmonielehre: Während "wir" die relativ simple Pentatonik von afrikanischen Naturvölkern noch nachvollziehen können (schließlich wurzelt unsere Rock- und Popmusik ja darin), wird es z.B. bei arabischer Musik mit ihren Vierteltönen oder noch kleineren Unterteilungen schon schwieriger. Indonesische Gamelan-Musik etwa kommt "uns" sogar extrem fremd oder sogar unangenehm vor, denn sie hat vier, fünf oder sieben Töne pro Oktave, das sind "wir" halt nicht gewohnt.


    "Wir" benutzen halt -mehr oder weniger zufällig- zwölf gleichstufige Halbtöne pro Oktave - aber ja auch noch nicht so lange, denn die Festlegung erfolgte in der westlichen Welt erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts und geschah damals relativ willkürlich (die temperierte Stimmung). Sie war letztlich ein bewusst herbeigeführter Kompromiss, der praktischen Erwägungen folgte. Dadurch klingen, abgesehen von der Oktave, zwar alle Intervalle leicht verstimmt, aber das stört uns nicht, denn wir haben uns ja inzwischen daran gewöhnt.

    Und zu allerletzt : Ist es nicht auch ursprüngliches Ziel einer Musikrichtung, die sich Progressive Rock nennt, eben NICHT den Erwartungen der Höhrer in Sachen Harmonielehre zu entsprechen ? Was wäre "A Day In The Life" ohne das kakophonische Crescendo am Ende ?

    Ganz genau! (Jedenfalls fast - denn das Ende von A Day in the Life ist gar nicht kakophonisch - das ist ein normaler Dur-Akkord auf einem Klavier mit halber Geschwindigkeit wiedergegeben. Nur der Weg dahin ist es in gewisser Weise, denn die Vorgabe an die Orchestermusiker war lediglich, innerhalb von 24 Takten von einem bestimmten Ton als Ausgangspunkt zu einem bestimmten anderen Ton einige Oktaven darüber zu gelangen. Wie, das konnte jeder frei entscheiden, bzw. ergab sich das von selbst aus den Möglichkeiten der verschiedenen Instrumente. Das ergab ein zwar hübsches Durcheinander, jedoch wurde der Boden der Harmonielehre nicht komplett verlassen.) ;)

    Es ist für mich nicht das Gleiche, wenn einer intuitiv und mit großartigem kreativen Gespür von seinen verinnerlichten Mustern zehrt oder seine Arbeit analytisch reflektiert. Wenn einer schön harmonisiert (und u.a. das war ja eine der großen Beatles-Stärken), dann ist es natürlich vom Ergebnis her völlig egal, ob er das theoretisch durchdringt. Das Gleiche ist es vom Schaffensprozess her dennoch nicht.

    Doch. Ist es. Ab einem bestimmten Punkt macht es für einen erfahrenen Musiker keinen Unterschied, ob er theoretisch versteht, dass der gerade gespielte Akkord die Dominante und der nächste die Tonika ist - oder ob er die Beziehungen zwischen den Akkorden (die die Harmonielehre ja beschreibt) stattdessen einfach "fühlt", ohne darüber nachdenken oder sie benennen zu müssen/zu können. Wie schon gesagt, wird unser Dur-Moll-Tonsystem praktisch schon durch die Muttermilch eingesogen, d.h. die Grundprinzipien kennen auch musikalisch ungebildete; sie können sie nur nicht benennen.
    Allerdings steht zu vermuten, dass Lennon/McCartney beim Komponieren wahrscheinlich miteinander geredet haben werden. Vielleicht nicht in der Art wie, "lass uns doch hier die Subdominante nehmen, danach gehen wir über die sechste Stufe zur Tonika zurück", aber schon auf einer theoretisch-abstrakten Ebene - was voraussetzt, dass sie die Harmonielehre auch theoretisch und nicht nur intuitiv verstanden hatten. Vielleicht wurden anfangs nur Songs referenziert, die sie beide kannten - ihre Musik wurde jedoch relativ schnell sehr komplex, da werden sie sich ein entsprechendes Vokabular angeeignet haben müssen.

  • Nur der Weg dahin ist es in gewisser Weise, denn die Vorgabe an die Orchestermusiker war lediglich, innerhalb von 24 Takten von einem bestimmten Ton als Ausgangspunkt zu einem bestimmten anderen Ton einige Oktaven darüber zu gelangen. Wie, das konnte jeder frei entscheiden, bzw. ergab sich das von selbst aus den Möglichkeiten der verschiedenen Instrumente. Das ergab ein zwar hübsches Durcheinander, jedoch wurde der Boden der Harmonielehre nicht komplett verlassen.) ;)


    Ich habe mir diesen Sommer David Bedfords "Nurses' Song with Elephants" durchgehört. Es mag der Harmonielehre entsprechen, "gehört" habe ich darin bei einigen Stücken sehr wenig. Was wohl auch daran lag, daß die Instrumentierung in manchen der Stücke etwas gewöhnungsbedürftig war.




    Ich habe mich schon vor mehreren Jahren gefragt, warum es eigentlich kein dem Logik-System äquivalentes System für Emotionen gibt. Man kann mit Logik Denkprozesse wunderbar abbilden - Logik hier als Regelwrk - aber es hat komischerweise noch nie jemand versucht, ein vergleichbares Regelwerk für Emotionen aufzustellen.

    "There are crawlers under my lambswool feet..."
    (Quelle)

    Einmal editiert, zuletzt von Alrik Fassbauer ()